"Man muss sich vergegenwärtigen, dass Libyen erst unter Gaddafi Konturen bekommen hat. Die italienischen Kolonialherren hatten das Land ausgesaugt. Als die Italiener schließlich abzogen, gab es praktisch keine gebildeten Libyer mehr im Land."
So der Politikwissenschaftler Anthony Billingsley von der australischen "University of New South Wales".
"Libyen besaß keinerlei Infrastruktur und zeitgemäße Methoden der Staatsführung waren unbekannt. Und als Muammar al Gaddafi dann 1969 die Regierung übernahm, galt von Anbeginn nur, was Gaddafi anordnete. Mithilfe seiner Familie und seines Stammes zwang er dem Rest des Landes seinen Willen auf."
Doch Gaddafis Tod hat Libyen keinen Frieden beschert. Die Sicherheitslage ist ausgesprochen schlecht. Polizisten und Soldaten ebenso wie Zivilisten müssen immer wieder ihr Leben im Kugelhagel religiöser Extremisten oder schwer bewaffneter Milizen lassen. Attentate auf Politiker und auf staatliche Institutionen sind inzwischen an der Tagesordnung.
Außerdem kämpfen seit über einem Jahr sowohl einzelne Städte als auch die Stämme gegeneinander. Libyens Gesellschaft wird vom Stammeswesen geprägt. Die Mitglieder der Stammesgemeinschaften sind im Allgemeinen konservativer als ihre Pendants in den Städten. Die Autonomie der beduinischen Männer wird als besonders wichtig angesehen. Auch die Vorstellungen hinsichtlich Demokratie und Islam sind innerhalb der Stammesgemeinschaften streng festgelegt.
"Die Stämme sind in Libyen von überragender Bedeutung. Die Zugehörigkeit zum Stamm definiert das Ansehen des Betroffenen und es markiert seinen Platz innerhalb der libyschen Gesellschaft. Die größeren Stämme sind oft etwas toleranter, wenn es um die Auslegung des Islams geht. Einige der kleineren Stammesgemeinschaften aus entlegenen Regionen dagegen orientieren sich inzwischen eher an den Salafisten."
Siebenundneunzig Prozent der Libyer sind sunnitische Muslime. Extremistische Auswüchse konnte Gaddafi zeit seines Lebens weitgehend in Schach halten.
Die in salafistischer Tradition stehenden Mitglieder der Libyschen Islamischen Kampftruppe gaben sich allerdings nicht so schnell geschlagen. Erst nachdem mehrere Attentate auf den Staatsführer fehlgeschlagen waren und Gefechte mit den Regierungstruppen große Einbußen gefordert hatten, zogen sich die Überlebenden ins Ausland zurück und suchten den Schulterschluss mit Al-Kaida.
"Und nun sind sie wieder zurückgekehrt. Das begann damit, dass die Gruppierung während des Aufstands gegen Gaddafi erneut in Erscheinung trat. Am Ende wurde ihr einstiger Führer zum Oberbefehlshaber der Milizen des Übergangsrates. Formationen wie die Libysche Islamische Kampftruppe machen sich gewisse Schwachstellen zunutze. So schlägt man sich zum Beispiel auf die Seite der Bewohner von Bengasi, die sich seit Langem von Tripolis benachteiligt fühlen. Und schon hat man ein paar Anhänger mehr und sei es nur aus pragmatischen Gründen."
Dass salafistische Gruppierungen ihren Einfluss zunehmend geltend machen, wurde etwa im vergangenen September bei der von Salafisten inszenierten Zerstörung mehrerer Sufi-Heiligtümer deutlich.
Auch die Kritik an der Zusammensetzung des Ende Oktober bestätigten neuen Kabinetts kam aus den Reihen der Salafisten. Sie nahmen daran Anstoß, dass der designierte Minister für islamische Stiftungen ein Anhänger des Sufismus ist.
"In den Augen solcher Leute haben Sufis etwas Anarchisches. Ihr Mystizismus, ihre gesamte Glaubensauslegung, ist den Salafisten ein Dorn im Auge. Für sie gilt nur eine Schule des Islams, nämlich ihre, die eine strikte Interpretation des Korans und der Überlieferungen über den Propheten Mohammed vorsieht."
Der Zustrom konservativen Gedankenguts, betont Anthony Billingsley, sei auch dem Einfluss Saudi Arabiens und Katars zuzuschreiben, Ländern, deren Bevölkerungsmehrheit dem streng islamischen Wahabismus folge.
"Man geht im Allgemeinen davon aus, dass Saudi Arabien und Katar in Libyen entsprechende religiöse Gruppen fördern. Das hat mit dem missionarischen Profil des Wahabismus zu tun und zugleich mit dem Kampf um die Vormacht in der Region. Ganz selbstlos war es wohl auch nicht, dass Katar die Libyer im Bürgerkrieg mit Bodentruppen unterstützt hat. Man versucht, den eigenen Status in diesem Teil der Welt zu erhöhen und sich einen Vorteil gegenüber Saudi Arabien zu verschaffen."
Die neue Regierung steht vor großen Herausforderungen. Unter anderem gilt es, die Sicherheit im Land wiederherzustellen, weitere Gewaltexzesse wie die Anschläge auf die Sufi-Schreine und die Stürmung des amerikanischen Konsulats in Bengasi zu verhindern und eine Verfassung auszuarbeiten. Zu welchem Zeitpunkt Letzteres geschehen wird, ist derzeit völlig unklar.
Doch wann auch immer: Ein wichtiger Bestandteil dieses neuen Grundgesetzes wird der Bezug auf die Scharia sein, auf die Regeln und Gesetze also, die in der islamischen Gesellschaft zu beachten sind. Eine solche Bezugnahme auf die islamische Identität, so Anthony Billingsley, sei in Libyen unabdingbar. Doch die Schwierigkeiten, denen das Land sich inzwischen gegenübersehe, seien mithilfe des Islams nicht lösbar. In welche Richtung Libyen sich unter der Last seiner Probleme bewegen werde, sei im Moment unwägbar.
"Was die libysche Gesellschaft in großen Teilen eint, ist die traditionelle Struktur, der eher moderate, sunnitische Glaube und der Bezug auf die Scharia. Doch wie hilfreich sind diese Faktoren bei der Lösung der aktuellen Probleme? Worum es geht, ist: wer wird bei den nächsten Parlamentswahlen in diesem Jahr ein Abgeordnetenmandat, wer einen Ministerposten erhalten? Dann: Wie steht es um die Verteilung der Ölrente? Welche Stämme, welche Großfamilien werden besonders gut bedacht? Und: was ist mit den Bewohnern der Landesteile, die in den letzten vierzig, fünfzig Jahren das Nachsehen hatten? Erhalten sie eine Kompensation? Das ist ein Teil der Fragen, die es zu lösen gilt."
So der Politikwissenschaftler Anthony Billingsley von der australischen "University of New South Wales".
"Libyen besaß keinerlei Infrastruktur und zeitgemäße Methoden der Staatsführung waren unbekannt. Und als Muammar al Gaddafi dann 1969 die Regierung übernahm, galt von Anbeginn nur, was Gaddafi anordnete. Mithilfe seiner Familie und seines Stammes zwang er dem Rest des Landes seinen Willen auf."
Doch Gaddafis Tod hat Libyen keinen Frieden beschert. Die Sicherheitslage ist ausgesprochen schlecht. Polizisten und Soldaten ebenso wie Zivilisten müssen immer wieder ihr Leben im Kugelhagel religiöser Extremisten oder schwer bewaffneter Milizen lassen. Attentate auf Politiker und auf staatliche Institutionen sind inzwischen an der Tagesordnung.
Außerdem kämpfen seit über einem Jahr sowohl einzelne Städte als auch die Stämme gegeneinander. Libyens Gesellschaft wird vom Stammeswesen geprägt. Die Mitglieder der Stammesgemeinschaften sind im Allgemeinen konservativer als ihre Pendants in den Städten. Die Autonomie der beduinischen Männer wird als besonders wichtig angesehen. Auch die Vorstellungen hinsichtlich Demokratie und Islam sind innerhalb der Stammesgemeinschaften streng festgelegt.
"Die Stämme sind in Libyen von überragender Bedeutung. Die Zugehörigkeit zum Stamm definiert das Ansehen des Betroffenen und es markiert seinen Platz innerhalb der libyschen Gesellschaft. Die größeren Stämme sind oft etwas toleranter, wenn es um die Auslegung des Islams geht. Einige der kleineren Stammesgemeinschaften aus entlegenen Regionen dagegen orientieren sich inzwischen eher an den Salafisten."
Siebenundneunzig Prozent der Libyer sind sunnitische Muslime. Extremistische Auswüchse konnte Gaddafi zeit seines Lebens weitgehend in Schach halten.
Die in salafistischer Tradition stehenden Mitglieder der Libyschen Islamischen Kampftruppe gaben sich allerdings nicht so schnell geschlagen. Erst nachdem mehrere Attentate auf den Staatsführer fehlgeschlagen waren und Gefechte mit den Regierungstruppen große Einbußen gefordert hatten, zogen sich die Überlebenden ins Ausland zurück und suchten den Schulterschluss mit Al-Kaida.
"Und nun sind sie wieder zurückgekehrt. Das begann damit, dass die Gruppierung während des Aufstands gegen Gaddafi erneut in Erscheinung trat. Am Ende wurde ihr einstiger Führer zum Oberbefehlshaber der Milizen des Übergangsrates. Formationen wie die Libysche Islamische Kampftruppe machen sich gewisse Schwachstellen zunutze. So schlägt man sich zum Beispiel auf die Seite der Bewohner von Bengasi, die sich seit Langem von Tripolis benachteiligt fühlen. Und schon hat man ein paar Anhänger mehr und sei es nur aus pragmatischen Gründen."
Dass salafistische Gruppierungen ihren Einfluss zunehmend geltend machen, wurde etwa im vergangenen September bei der von Salafisten inszenierten Zerstörung mehrerer Sufi-Heiligtümer deutlich.
Auch die Kritik an der Zusammensetzung des Ende Oktober bestätigten neuen Kabinetts kam aus den Reihen der Salafisten. Sie nahmen daran Anstoß, dass der designierte Minister für islamische Stiftungen ein Anhänger des Sufismus ist.
"In den Augen solcher Leute haben Sufis etwas Anarchisches. Ihr Mystizismus, ihre gesamte Glaubensauslegung, ist den Salafisten ein Dorn im Auge. Für sie gilt nur eine Schule des Islams, nämlich ihre, die eine strikte Interpretation des Korans und der Überlieferungen über den Propheten Mohammed vorsieht."
Der Zustrom konservativen Gedankenguts, betont Anthony Billingsley, sei auch dem Einfluss Saudi Arabiens und Katars zuzuschreiben, Ländern, deren Bevölkerungsmehrheit dem streng islamischen Wahabismus folge.
"Man geht im Allgemeinen davon aus, dass Saudi Arabien und Katar in Libyen entsprechende religiöse Gruppen fördern. Das hat mit dem missionarischen Profil des Wahabismus zu tun und zugleich mit dem Kampf um die Vormacht in der Region. Ganz selbstlos war es wohl auch nicht, dass Katar die Libyer im Bürgerkrieg mit Bodentruppen unterstützt hat. Man versucht, den eigenen Status in diesem Teil der Welt zu erhöhen und sich einen Vorteil gegenüber Saudi Arabien zu verschaffen."
Die neue Regierung steht vor großen Herausforderungen. Unter anderem gilt es, die Sicherheit im Land wiederherzustellen, weitere Gewaltexzesse wie die Anschläge auf die Sufi-Schreine und die Stürmung des amerikanischen Konsulats in Bengasi zu verhindern und eine Verfassung auszuarbeiten. Zu welchem Zeitpunkt Letzteres geschehen wird, ist derzeit völlig unklar.
Doch wann auch immer: Ein wichtiger Bestandteil dieses neuen Grundgesetzes wird der Bezug auf die Scharia sein, auf die Regeln und Gesetze also, die in der islamischen Gesellschaft zu beachten sind. Eine solche Bezugnahme auf die islamische Identität, so Anthony Billingsley, sei in Libyen unabdingbar. Doch die Schwierigkeiten, denen das Land sich inzwischen gegenübersehe, seien mithilfe des Islams nicht lösbar. In welche Richtung Libyen sich unter der Last seiner Probleme bewegen werde, sei im Moment unwägbar.
"Was die libysche Gesellschaft in großen Teilen eint, ist die traditionelle Struktur, der eher moderate, sunnitische Glaube und der Bezug auf die Scharia. Doch wie hilfreich sind diese Faktoren bei der Lösung der aktuellen Probleme? Worum es geht, ist: wer wird bei den nächsten Parlamentswahlen in diesem Jahr ein Abgeordnetenmandat, wer einen Ministerposten erhalten? Dann: Wie steht es um die Verteilung der Ölrente? Welche Stämme, welche Großfamilien werden besonders gut bedacht? Und: was ist mit den Bewohnern der Landesteile, die in den letzten vierzig, fünfzig Jahren das Nachsehen hatten? Erhalten sie eine Kompensation? Das ist ein Teil der Fragen, die es zu lösen gilt."