Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Licht ins Dunkel

Einen Blinden wieder sehend zu machen – diesen Menschheitstraum lassen modernste Technik und High-Tech-Medizin wahr werden. Die ersten künstlichen Sehprothesen werden derzeit in Deutschland und den USA an Menschen getestet. Das erfolgreichste Modell haben Tübinger Wissenschaftler entwickelt.

Von Kristin Raabe | 06.02.2011
    Case schließt die Augen.
    In der blutgeschwängerten Dunkelheit hinter den Augen, wallen silberne Phosphene aus den Grenzen des Raumes auf. Hypnagoge Bilder, wahllos zusammengeschnittener Film, der ruckend vorüberzieht.
    Ein fragmentarisches Mandala visueller Information als Origamitrick in flüssigem Neon entfaltet sich seine distanzlose Heimat, ein transparentes Schachbrett in 3D.


    Eine digitale Welt jenseits unserer Vorstellungskraft - darum geht es in dem Kultbuch "Neuromancer" immer wieder. Mensch und Computer sind in ihr schon längst zu einer Einheit verschmolzen – oder besser sie sind miteinander "verdrahtet". Implantate und sogenannte Biochips verschaffen den Protagonisten der Science Fiction-Erzählung Seheindrücke, wie sie in keiner noch so bunten Wirklichkeit jemals existieren könnten. - Und doch gibt es sie bereits, die Menschen mit dem Chip im Kopf. Nur ist ihre Welt nicht bunt und surreal – sondern schwarz, weiß und grau:

    "Wenn ich jetzt nach vorne schaue, sehe ich tiefgrau rechts, heller grau ein bisschen rechts und ein bisschen links und gerade in der Mitte - da ist noch etwas Dunkleres."

    Der Mann, der hier beschreibt, was er sieht, erfüllt alle Kriterien eines Cyborgs, denn er trägt einen Chip in seinem Auge. Der Begriff Cyborg bezeichnet ein Mischwesen aus Mensch und Maschine. Erstmals verwendet wurde er von dem australischen Wissenschaftler Manfred Clynes und dem US-amerikanischen Mediziner Nathan Kline. In einem gemeinsamen Aufsatz von 1960 entwarfen sie das Bild eines Menschen, dem es technische Implantate ermöglichen, in einer lebensfeindlichen Umgebung im Weltraum zu überleben. Wenn Mediziner heute einem Menschen einen Chip ins Auge setzen, verfolgen sie damit ganz andere Ziele.

    "Die Erkrankung nennt man Retinitis pigmentosa. Das ist so eine angeborene Krankheit, genetisch übertragen. Ich war der erste in der Familie, aber als ich vier Jahre alt war, hat man bemerkt auf dem Kindergarten, dass etwas nicht stimmte, da bin ich zum Augenarzt, und der hat uns mitgenommen zum universitären Krankenhaus in Rotterdam, die Augenklinik in Rotterdam, und da hat man festgestellt, dass es Retinitis pigmentosa war."

    Mit Anfang 30 war Ludo Hoendervangers blind. Die Krankheit, die ihn im Laufe der Jahre sein Augenlicht gekostet hat, zerstört die Zellen der Netzhaut. Die Netzhaut oder auch Retina befindet sich im Inneren des Auges - hinter der Linse und dem Glaskörper. Sie besteht aus mehreren Schichten von Nervenzellen. Einige von ihnen reagieren auf Licht, verwandeln die Lichtinformation in Nervenimpulse.Von diesen sogenannten Fotorezeptorzellen gibt es zwei Sorten: Zapfen und Stäbchen. Die Stäbchen sind nur bei Dämmerung aktiv und vermitteln Schwarz-Weiß-Eindrücke. Bei Retinitis pigmentosa sterben sie zuerst. Erst später gehen auch die wichtigeren Zapfen zugrunde. Mathias Seeliger leitet an der Universitätsklinik Tübingen eine Sprechstunde für Patienten mit Netzhauterkrankungen.

    "Dadurch dass die Stäbchen verschwinden, wird die Netzhaut so gestört, dass die Zapfen sekundär als Folge davon betroffen sind. Wenn man natürlich wüsste, woran das genau liegt, das ist noch gar nicht bekannt, dann könnte man natürlich in diesen Prozess eingreifen und das Absterben der Zapfen, die wir eigentlich am meisten täglich brauchen, verhindern."

    Eine Therapie, die die Krankheit aufhalten kann – davon träumen Patienten und Augenärzte schon seit langem. Aber es gibt viele unterschiedliche Formen von Retinitis pigmentosa, die wahrscheinlich alle andere Behandlungsarten erfordern, denn bei jeder sind andere Gene für die Symptome verantwortlich. Mal erblinden die Betroffenen schon sehr schnell, dann wieder wird das Sehen erst über viele Jahre hinweg immer schlechter. Sind die Fotorezeptoren der Netzhaut erst einmal zerstört, kann bisher keine biomedizinische Therapie einem Patienten das Augenlicht zurückgeben. Das gelingt nur einem winzigen Stück Technik: Einem Sehchip. Das erfolgreichste derzeit verfügbare Modell hat der Augenarzt Eberhart Zrenner von der Universität Tübingen innerhalb von 15 Jahren mit einem großen Team an Mitarbeitern entwickelt:

    "Unser Chip hat 1500 Fotodioden, die nehmen das Licht erst mal auf, ganz natürlich durch die Augenlinse. Hinter jeder Fotodiode sitzt ein Verstärker, denn das Licht, was darauf fällt, ist zuwenig, um die Zelle direkt zu reizen. Also, die Fotodiode schickt ein Signal an den Verstärker und es wird weitergeleitet an eine winzige Elektrode, was dann die Zellen, die in der Nähe dieser Elektrode liegen, reizt. Und diese 1500 Elektroden, plus 1500 Verstärker, plus 1500 Fotodioden sind alle auf einem kleinen Plättchen von drei mal drei Millimeter, ein Zehntel Millimeter dick. Viel kleiner, als wenn Sie einen Locher nehmen und Papier ausstanzen, und darauf sitzen die alle, diese Dioden und Verstärker. Jede arbeitet für sich, guckt sieben Mal in der Sekunde die Welt an. Und wirft auf diesem Viereck ein Abbild dieses physikalischen Bildes als elektrisches Bild raus und gibt es an die bipolaren Zellen weiter, schickt es ans Gehirn."

    Einen Chip zu bauen, der Lichtinformationen in elektrische Impulse verwandelt, ist zunächst einmal nicht schwer. Die Herausforderung liegt darin, ihn so zu bauen, dass das menschliche Nervensystem ihn versteht. Zur Zeit ist es noch nicht möglich, eine Nervenzelle gezielt durch einen elektrischen Impuls zu reizen. Meist werden die benachbarten Zellen gleich mitaktiviert. Das Bild, das der Sehchip im Gehirn erzeugt, wird unscharf. Eberhart Zrenner:

    "Was sieht der Patient? Er sieht natürlich nur Schemen, denn wir haben eine viel feinere Auflösung mit unseren natürlichen Photorezeptoren."

    Ludo Hoendervangers ist 45 Jahre alt und schon seit mehr als zehn Jahren blind. Er arbeitet bei der Stadt in Utrecht und ist dort für die Verkehrsplanung zuständig. Seine Freunde und seine Familie unterstützen ihn bei vielen Aktivitäten - beispielsweise, wenn er den New York Marathon mitlaufen will oder auch in seinem Alltag, auf dem Weg zur Arbeit.

    "Mobilität ist die größte Einschränkung, obwohl man damit zurechtkommt, es gibt viele Möglichkeiten, um von Punkt A zu Punkt B zu kommen. Begleitung von Personen, mitfahren von Freunden, mit Familie, das geht oft, aber man hat es nicht immer in der eigenen Hand. Man muss sich immer ein bisschen richten nach der Umgebung."

    Seine Augenärztin hat ihm vor mehr als einem Jahr erzählt, dass es in Tübingen Ärzte gebe, die ihm einen Chip ins Auge einsetzen könnten:

    "Damals hatte ich noch Zweifel, weil ich noch dachte, ich suche etwas, was näher an die Natur des Auges bleibt. Damit meine ich, dass ich mehr suchte, nach Transplantation oder Gentherapie oder so etwas, wo man nah am Wesen des Auges bleibt, doch habe ich gesagt, ich will gerne wissen, was da läuft in Tübingen."

    Die Tübinger Sehprothese schien für Ludo Hoendervangers tatsächlich die einzige Möglichkeit zu sein, wieder sehen zu können. Zusammen mit seiner Frau hat er sich bei den Tübinger Ärzten über die Möglichkeiten und die Risiken informiert. Er entschließt sich, den Eingriff zu wagen.

    "Als wir nach Tübingen gekommen sind, haben wir gesagt, alles was es bringt, ist positiv und wir gehen neutral da 'rein, keine hohe Erwartungen. Wie mein Leben jetzt ist, ist gut, da kann man gut zurechtkommen, alles was es extra bringt, ist positiv."

    Im September 2010 setzt ein Chirurg ihm den Sehchip in das linke Auge ein. Als der wenige Tage nach der Operation zum ersten mal eingeschaltet wird, nimmt der Holländer tatsächlich ein Leuchten wahr:

    "Das ist ein spezielles Gefühl. Dann weiß man direkt, der Chip macht richtig etwas. Das Ding funktioniert und das ist eine fröhliche Gedanke. Und dann sieht man auch die Konture von die Chip, das ist merkwürdig."

    Um aus einem blinden Menschen einen Cyborg zu machen, ist eine vierstündige Operation notwendig. Bislang sind 17 Patienten mit der Tübinger Sehprothese ausgestattet worden. Bei den ersten 11 erfolgte die Stromversorgung noch durch ein Kabel durch die Kopfhaut. Der Chip musste nach einigen Wochen wieder entfernt werden. Erst im Sommer 2010 begannen die Tübinger Ärzte damit, einer kleinen Gruppe von Patienten einen kabellosen Chip zu implantieren, der im Auge bleiben soll. Das Tübinger Modell ist eine sogenannte subretinale Sehprothese. Es liegt unter der Retina – genau dort, wo bei Gesunden die Photorezeptorzellen liegen, die Zapfen und die Stäbchen. Eberhart Zrenner:

    "Wenn Sie sich die Netzhaut mal als so einen kleinen Neurocomputer vorstellen mit vielen Millionen Lichtempfängern – Zapfen und Stäbchen – dann wird schon gleich im Auge, die Information von diesen Zapfen und Stäbchen intensiv verarbeitet und mit nur einer Million Fasern über den Sehnerv zum Gehirn geführt. Also man sieht schon in der Netzhaut passiert Informationsverdichtung von 1 zu 100 ungefähr. Jetzt hat die Netzhaut sozusagen einen Eingang, wie ein Computer die Tastatur hat und wir koppeln sozusagen am Eingang an, dort wo die degenerierten Zapfen und Stäbchen mal waren, dort setzen wir elektronische Lichtempfänger und Verstärker und Elektroden hin und benutzen den Rest der Netzhaut, …wo dann auf ganz natürliche Weise das Bild der elektronischen Bildgeber verarbeitet und über die Fasern zum Sehnerven weitergegeben wird."

    Bei der subretinalen Sehprothese werden die Lichtinformationen der Fotodioden an die intakten nachgeschalteten Nervenzellen weitergegeben. Sie sind hochspezialisiert und werten die Lichtinformation aus, noch bevor sie in den Sehnerv und ins Gehirn gelangen. Das ist beim sogenannten epiretinalen Implantat anders. Es sitzt auf der Netzhaut. Eine Kamera, die meist an einer Brille befestigt ist, überträgt die Bildinformationen an den Chip im Auge. Von hier aus müssen die Signale irgendwie den Sehnerv erreichen. Und genau da liegt die Schwierigkeit: Wie ein Kamerabild in elektrische Impulse übersetzen, die vom menschlichen Nervensystem auch verstanden werden? An der Universität Marburg arbeitet man daran. Mitarbeiter des Instituts für Neurophysik haben ihre epiretinale Sehprothese bereits vor zwei Jahren an sechs blinden Patienten mit Retinitis pigmentosa getestet. Thomas Wachtler hat sie mit entwickelt:

    "Die visuelle Information, die wird von einer Kamera aufgenommen und über eine Decoder-Elektronik in Sendesignale verwandelt. Ein Sender, der zum Beispiel in einem Brillengestell sitzen kann vor dem Auge, sendet die Signale an das Implantat."

    Von den sechs Patienten, in denen die Marburger Sehprothese bislang getestet wurde, erhielten alle durch die Stimulation des Chips einen Seheindruck. Allerdings wurde die Sehprothese bereits nach wenigen Wochen wieder entfernt. Ob mit ihr ein halbwegs alltagstaugliches Sehen möglich ist, müssen weitere Studien erst noch zeigen. Im Moment versuchen die Marburger Physiker, die Kommunikation zwischen Chip und Nervenzellen zu verbessern. Deutlich mehr Erfahrung gibt es mit einer anderen epiretinalen Sehprothese. Die US-amerikanische Firma Second Sight hat bereits mehr als 30 Patienten eine solche Sehprothese implantiert. Einige Patienten leben seit Jahren mit dem Gerät. Der amerikanische Augenarzt Michael Marmor von der Stanford Universität, kennt die Grenzen der Sehprothese von Second Sight:

    "Um Menschen wirkliches Sehen zurückzugeben, also so, dass sie ein Gesicht erkennen, dass sie lesen können, braucht man Tausende von Elementen. Der Chip von Second Sight hat aber nur 60 Elektroden. Das Gehirn kann damit schon erstaunlich viel anfangen. Vor allem, wenn es den Kontext kennt. Wenn Sie also wissen, dass da Früchte auf dem Tisch liegen, können sie vielleicht einen Apfel von einer Banane unterscheiden. Um aber wirklich flüssig lesen zu können, braucht man Tausende von Elektroden."

    Für die meisten Patienten, die an Retinitis pigmentosa leiden, würde sich eine Sehprothese von Second Sight zur Zeit kaum lohnen. Das meint jedenfalls Michael Marmor:

    "Im Moment denke ich, ist diese Prothese nur für völlig oder fast völlig erblindete Patienten geeignet. Ich habe einige Patienten in diesem Stadium. Wenn sie mich fragen, sage ich ihnen, dass sie sich bei Second Sight über die Möglichkeiten informieren sollen. Aber die meisten Patienten mit dieser Erkrankung haben im Moment noch ein deutlich besseres Sehen, als es ihnen eine Second Sight Sehprothese ermöglichen könnte. Für die meisten wäre es also nicht sehr weise, so etwas machen zu lassen."

    Experten wie Michael Marmor halten die Tübinger Sehprothese für das zurzeit erfolgreichste Retina Implantat. Möglicherweise hat es einige Vorteile, das Implantat unter und nicht auf der Netzhaut einzusetzen. Eberhart Zrenner:

    "Erstens: Wenn es unter der Netzhaut steckt, dann ist es fest drin, verschiebt sich nicht mehr, wenn es einmal implantiert ist, weil die Netzhaut ja oben drauf liegt, während beim epiretinalen Ansatz muss man Nägelchen verwenden, um das auf der Lederhaut zu nageln, damit es auf der Netzhaut auch wirklich liegen bleibt. Der zweite Punkt ist, dadurch, dass wir keine Kamera außen haben, sondern den Empfänger gleich im Auge, bewegt sich der Empfänger mit dem Auge mit. Das heißt dort, wo ich hingucke ist auch das Objekt. Im anderen Fall mit der Kamera außen, muss ich ja den Kopf erst hindrehen. …Bei uns durch die natürlichen Augenbewegungen wird das Bild automatisch immer wieder aufgefrischt."

    Keine zwei Wochen sind seit der Operation vergangen. An den Chip in seinem Kopf hat sich Ludo Hoendervangers inzwischen gewöhnt. Mit ihm tatsächlich zu sehen, muss er allerdings noch trainieren.

    "Der Chip funktioniert gut, nur mein Gehirn noch nicht."

    Die Ärzte haben ihm bereits vor der Operation gesagt, dass sein Gehirn erst lernen muss, die im Vergleich zum natürlichen Sehen eher unscharfen Informationen des Chips zu verarbeiten.

    Hoendervangers: "Heute morgen lief es gut. …Nur Hell-Schwarz war ein Problem"

    Zrenner: "Weil das wahrscheinlich Infrarot ist. Sie können ja auch Infrarot sehen. Und wenn jetzt ein Gegenstand aus dem Licht uns schwarz erscheint, aber einen hohen Infrarotanteil hat im langwelligen Bereich, dann ist er für Sie hell, weil der Chip das Infrarot als Reizlicht empfindet. Heute hatten wir helle Flächen vor schwarzen Flächen und da waren die schwarzen Flächen plötzlich auch hell, vermutlich eben weil sie eben doch Infrarot reflektiert haben."

    Hoendervangers: "So wie früher der Mann von sechs Millionen."

    Astronaut Steve Austin ist nach einem Absturz schwer verletzt. Durch eine sechs Millionen Dollar teure Operation wird ein Auge durch eine Speziallinse ersetzt. Ein Arm und ein Bein werden durch künstliche Glieder von unvorstellbarer Leistungskraft ausgetauscht. Hierdurch wird Steve schneller, stärker und besser als jeder andere Mensch und kann durch diese Konstruktion gefährliche Geheimaufträge der Regierung durchführen.

    Den Sechs-Millionen-Dollar-Mann hat Ludo Hoendervangers als Jugendlicher im Fernsehen gesehen. Ein Cyborg-Agent mit Superkräften, der auch im Infraroten noch sehen konnte. Mit Superkräften hat die Infrarot-Empfindlichkeit des Tübinger Chips aber nichts zu tun. Die ungewohnte Wahrnehmung ist schlichtweg störend. Mit dem Chip zu sehen, muss Ludo Hoendervangers immer noch üben. Dabei hilft ihm neben Eberhart Zrenner auch Gernot Hörtdörfer. Als freiberuflicher Mobilitätstrainer bringt er Blinden und schwer Sehbehinderten normalerweise den Umgang mit dem Blindenstock bei. Beim Sehtraining mit Ludo Hoendervangers verteilt er einen weißen Teller, ein weißes Messer und eine weiße Gabel zusammen mit einer weißen Tasse auf einer schwarzen Tischdecke.

    Hörtdörfer: "OK, wir fangen dann an. Sie kriegen jetzt wieder ihren schwarzen Karton, damit Sie nicht sehen, was ich tue. Ich lege Ihnen jetzt Ihr Gedeck da wieder vorne hin. Und legen Sie das Messer auf 12 Uhr."

    Hoendervangers: "Das Messer."

    Zrenner: "Sie können uns ja ein bisschen erzählen, was Sie sehen."

    Hoendervangers: "Ja, die große Schüssel ist in der Mitte, wenn ich von dem Schüssel herumschaue oder dem Teller, Entschuldigung, dann sehe ich… da ist etwas langes, dort etwas größer, ist auch rund, dann liegt da noch etwas, da bin ich noch ganz draus, was ich da ganz genau sehe. So schaue ich immer mal herum, zu beobachten, was findet man so, überall. Da liegt auch etwas Längeres. Dann glaube ich, dass ich die Umgebung des Tellers ein bisschen angeschaut habe. …Ich sehe ….da ein etwas wie ein Runde. Das ist schwierig, es kann kein Messer sein. Ich glaube da ist eine - das ist zu groß für ein Messer, so wie ich das sehe."

    Der Chip in Ludo Hoendervangers linkem Auge zeigt ihm nur einen kleinen Ausschnitt der Welt. Deswegen muss er ständig seinen Kopf hin und her bewegen, um die Oberfläche des Tisches komplett zu erfassen. Das Messer auf der rechten Seite hat er noch nicht gesehen, weil er noch nicht weit genug nach rechts geschaut hat. Die runde Tasse oben hat er allerdings schon erfasst. Zrenner:

    "Sie können ja noch einmal die Tischkante anfassen. Damit Sie noch einmal die Gerade wissen. Manchmal hilft das auch, wenn man weiß wie man im Verhältnis zu dem Tisch sitzt."

    Hoendervangers: "Ich zweifle inzwischen, dem Teller ist klar. Ich zweifle zwischen hier."
    Hörtdörfer: "Was ist denn Ihrer Meinung nach das wahrscheinlichste?"

    Hoendervangers: "Dem hier."

    Hörtdörfer: "Und dann auf zwölf Uhr."

    Hoendervangers: "Ja da steht noch etwas, soll ich so machen."

    Hörtdörfer: "Ja, OK, wunderbar."

    Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich hat Ludo Hoendervangers es geschafft: Er hat das Messer auf der rechten Seite gefunden und es auf 12 Uhr gelegt. Eberhart Zrenner:

    "Es ist ganz klar inzwischen, dass es möglich ist, bis hin zum Buchstaben-Erkennen, bis hin zum Lesen. Buchstaben in vier Zentimeter Größe. Wir haben einen Patienten, der hat uns erzählt, dass wir seinen Namen falsch geschrieben haben, nachdem er fünf Jahre fast blind war. Wir haben seinen Namen tatsächlich falsch geschrieben, er schreibt seinen Namen Miika mit zwei 'I' und erzählte uns dann: 'OK, habt Ihr nicht richtig gemacht.' Oder Patienten, die in Tübingen jetzt in die Stadt gehen, ins Restaurant und dort eben Messer und Gabel sehen und direkt zugreifen oder das Glas Bier sehen können, was sie schon viele Jahre nicht mehr konnten. Oder eine Patientin, die berichtet: 'Ich war im Garten und auf einmal sehe ich, dass da eine Sonnenblume ist.' Das ist natürlich nicht Sehen wie wir jetzt alle Sehenden das empfinden."

    Buchstaben konnte bislang nur ein Patient sicher lesen. Wie gut jemand mit dem Chip sehen kann, hängt wahrscheinlich auch mit dem Zustand der Nervenzellen in seiner Retina zusammen. Wenn diese Jahre – vielleicht sogar Jahrzehnte - nicht erregt worden sind, verkümmern sie. Aber natürlich kann ein winziger Chip mit nur 1500 Fotodioden selbst im günstigsten Fall nicht dasselbe leisten wie mehrere Millionen Fotorezeptoren in einer gesunden Netzhaut. Außerdem ist Sehen kein Prozess, bei der ein Lichtreiz eins zu eins in Bildinformation übersetzt wird. Die Nervenzellen im Auge und im Sehzentrum unseres Gehirns benutzen die von den Fotorezeptoren kommenden Lichtinformationen nur, um ein Bild von der Welt zu konstruieren. Bestimmte Informationen werden dabei weggelassen, andere stärker betont. Farbe, Kontrast und Bewegung sind letztendlich Konstrukte. Wer in diesen komplizierten Prozess mit einem Chip eingreifen will, muss aufpassen, dass er kein heilloses Chaos anrichtet. Eberhart Zrenner:

    "Die Hauptherausforderung von der wissenschaftlichen Seite her war, diesen ganz schmalen Weg durch den Urwald zu finden. Ist die Elektrode zu groß, ist die Auflösung zu schlecht, ist die Elektrode zu klein, kommt nicht genug Strom durch oder sie zerplatzt wie eine Sicherung. Ist der Chip zu groß und passt sich der Netzhaut nicht an, löst sie sich ab, ist er zu klein, habe ich kein Fenster. Das heißt, es gibt für jede Ziffer, die an dem Bauplan steht, einen ganz schmalen Grat dessen, was möglich ist, weil die Biologie uns Grenzen gibt."

    Und natürlich kommt die Tübinger Sehprothese nicht für jeden Blinden in Frage. Sie kann lediglich die zerstörten Fotorezeptorzellen ersetzen. Zrenner:

    "Wir brauchen natürlich einen intakten Sehnerven. Also wenn jemand durch einen Unfall einen Sehnervenriss hat, dann geht das nicht mehr. Wir brauchen auch eine intakte innere Netzhaut, also es geht auch nicht bei Glaukom. Es geht bei all den Patienten, bei denen die innere Netzhaut, der Sehnerv und das Gehirn noch funktionieren, sondern bei denen eben die Photorezeptoren zugrundegegangen sind und ersetzt werden. Das sind eben die Patienten mit Retinitis pigmentosa. Das sind eben relativ junge Patienten, die schon in frühen Jahren blind sind, und wir hoffen, dass wir das eines Tages auch erweitern können auf Patienten mit schweren Formen der altersbedingten Makuladegeneration."

    Von den 30.000 bis 40.000 Patienten, die in Deutschland leben, haben viele noch ein Restsehvermögen, das über dem liegt, was ihnen der Chip zur Zeit ermöglichen würde. Andere Arbeitsgruppen entwickeln Systeme, die den Sehnerv oder sogar das Sehzentrum in der Großhirnrinde direkt reizen. Dann könnten wahrscheinlich auch andere Formen von Blindheit behandelt werden. In den USA, Australien, Japan und anderen Ländern arbeitet eine Vielzahl von Forschern an elektronischen Sehprothesen. Aber keine von ihnen konnte bislang so erfolgreich am Menschen erprobt werden wie das Tübinger Modell.

    Ludo Hoendervangers will einen Spaziergang machen. Dazu steckt er eine Tasche mit einem Kästchen ein, an dem er die Helligkeit und den Kontrast des Chips in seinem Auge einstellen kann. Hinter seinem linken Ohr befestigt er mit einem Magneten einen Sender. Denn dort haben die Chirurgen die Spule implantiert, die mit dem Chip verbunden ist und ihn mit Strom versorgt. Der Sender lädt sie auf. Gernot Hörtdörfer begleitet Ludo bei seinem Spaziergang, auch das gehört zum Training.

    Hörtdörfer: "Gehen wir mal nach rechts, und beschreiben Sie mal, welche Eindrücke Sie haben."

    Hoendervangers: "Hier ist dunkler, nicht bis an den Boden."

    Hörtdörfer: "Was glauben Sie, was es dann ist?"

    Hoendervangers: "Ein Fenster, glaube ich."

    Hörtdörfer: "Das ist richtig, ein Schaufenster, aber es ist nicht erleuchtet. Gehen wir mal auf die andere Seite."

    Hoendervangers: "Da ist Licht drin. Das läuft weiter durch nach unten, ich sehe es bis da ungefähr dem Licht sehe ich da."

    Hörtdörfer: "Würden Sie vermuten Schaufenster, Türe?"

    Hoendervangers: "Ich zweifle. Wenn es eine Tür ist, ist es eine Tür mit Stufe, aber ich würde sagen, Schaufenster, weil es ziemlich gleichmäßig hell ist. Und das gleichmäßig Helle ist die Mauer. Da sehe ich ein bisschen was Dunkles, was auch durchläuft."

    Hörtdörfer: "Gehen Sie mal drauf zu. Wenn sie jetzt von links nach rechts gucken, gibt es da eine Unterteilung oder ist das alles gleich?"

    Hoendervangers: " Ich kriege jetzt andere Signale von Licht, dem Licht ist jetzt mehr auf meine Augenhöhe, und da ist ein Licht ein bisschen tiefer.
    Ich weiß nicht, was im Schaufenster liegt."

    Hörtdörfer: "Können sie denn sagen, ist es ein großes Schaufenster, sind es mehrere, wenn sie von links nach rechts scannen."

    Hoendervangers: "Ich glaube, dass hier etwas dazwischen ist."

    Hörtdörfer: "Das ist ein Pfosten, und da ist auch ein Licht in der Vitrine. Da steht etwas, das ist angeleuchtet oder es ist der Boden der angeleuchtet ist."

    Hoendervangers: "Hier ist ein Licht unten im Schaufenster."

    Hörtdörfer: "Und wenn sie rechts gucken, da ist auch noch etwas, da ist auch eine Lampe. Aus wieviel Teilen besteht dieses Schaufenster?"

    Hoendervangers: "Vier oder drei, ich zweifle."

    Hörtdörfer: "Das mittlere Schaufenster ist die Türe."

    Für Ludo Hoendervangers war der Spaziergang ein Erfolgserlebnis.

    "Wenn man in so einem Schaufenster Licht erkennt und so etwas, da sind wir die ganze Reise für angefangen."

    Gernot Hörtdörfer weiß von seiner Arbeit mit schwer Sehbehinderten, dass es manchmal länger dauert, bis sie richtig deuten könne, was sie nur schemenhaft sehen können.

    "Für mich ist es auch immer noch ein Abenteuer herauszufinden, was auch wirklich wahrzunehmen ist und wie die Abbildung ist, die dann doch sehr anders ist. Also die visuellen Eindrücke, die sie haben, sind doch anders als die, die ein hochgradig Sehbehinderter hat, der also wirklich Bilder oder andere Quellen noch hat. Der Chip hat eine andere Schwarz-Weiß- und eine andere Lichtinformation."

    Wahrscheinlich werden die Tübinger Forscher in Zukunft noch mehr Konkurrenz bekommen. Noch ist nicht entschieden, welcher Ansatz tatsächlich der beste ist. Sicher ist aber, dass in Zukunft viele Cyborgs mit künstlichem Sehvermögen durch die Straßen wandeln werden. Und was wäre daran so ungewöhnlich? Schließlich gibt es schon Tausende von Menschen mit Herzschrittmachern und implantierbaren Hörprothesen. Per Definition sind sie alle Cyborgs. Aber auch die Biomedizin hat Erfolge zu verzeichnen und konkurriert mit der Sehprothese. Vor nicht allzu langer Zeit wurde erstmals eine Gentherapie für eine Sonderform von Retinitis pigmentosa mit Erfolg am Menschen getestet. Mathias Seeliger arbeitet an der Tübinger Universitätsklinik selbst an Gentherapien für ähnliche Erkrankungen.

    "Also, es wird wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass es sehr viele verschiedene Ansätze geben wird. Es wird Ansätze geben, wo die Netzhaut schon sehr stark degeneriert ist, das wird sicher für den Chip sehr günstig sein. Es wird am Anfang, wenn die Erkrankung schon sehr früh auftritt, möglicherweise so etwas wie Wachstumsfaktoren geben, die die Zellen länger am Leben erhalten, bis eine andere Therapie greifen kann und es wird auch sicherlich Gentherapien geben, die eben gezielt Gene austauschen."

    Eberhart Zrenner:

    "Ich glaube, dass wir so in einem Stadium sind, wo es uns einfach darum geht, wirklich die Machbarkeit dieses Ansatzes zu zeigen. Also, geht das überhaupt. Also, so ähnlich wie die Gebrüder Wright, die 1906 gezeigt haben, man kann fliegen. Aber sie sind eigentlich nur 200 Meter weit geflogen. Da sind wir jetzt auch ungefähr. Wir haben gezeigt, man kann mit elektronischen Implantaten das jetzt ersetzen. Es ist noch nicht farbig, es ist noch ein kleines Fenster, durch das die Menschen durchgucken, aber wir wissen, dass es für die Patienten sehr viel bedeutet, auf einmal wieder Dinge finden zu können, sich selbstständig durch die Stadt zu bewegen. Das beflügelt natürlich auch die Forscher."

    Ludo Hoendervangers:

    "Ich bin glücklich und auch ein bisschen stolz daran beteiligt zu sein. All diese Eindrücke mitzubekommen ist eine Riesenerfahrung."