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Licht und Schatten

"2011 war sicher ein durchwachsenes Jahr", meint der Filmkritiker Rüdiger Suchsland. Dennoch habe es ein paar Highlights gegeben, darunter "Hell", "Im Alter von Ellen", "Film socialisme" oder auch der Dokumentarfilm "Das Leben ist kein Heimspiel".

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske |
    Doris Schäfer-Noske: Lord Voldemort ist nun endgültig besiegt. Nach den sieben Büchern ist 2011 auch der achte und letzte Teil der Harry-Potter-Verfilmungen rausgekommen. Dabei war dieses Kinojahr überhaupt ein Jahr der Fortsetzungen. Die Top-Fünf der erfolgreichsten Filme in den USA waren nämlich der letzte "Harry Potter" gefolgt von "Transformers 3", dem vorletzten Teil der "Twilight"-Saga, "Hangover 2" und "Fluch der Karibik 4". Auch im kommenden Jahr sind solche Fortsetzungen zu erwarten: Der neue "Batman" läuft an, der vierte Teil der "Bourne"-Reihe, der neue James-Bond-Film und der Abschluss der "Twilight-Reihe". Kurz vor Weihnachten kommt dann "Der kleine Hobbit" in die Kinos, die Vorgeschichte zum "Herrn der Ringe". Auf Bewährtes setzen 2012 auch die Filmfestspiele in Venedig. Der neue Leiter Alberto Barbera hatte diesen Posten nämlich schon einmal inne, von 1998 bis 2002. Nun wollen wir aber zurückblicken, Rüdiger Suchsland. Woher kamen denn die schönsten Filme 2011?

    Rüdiger Suchsland: Von den Filmen, die in Deutschland gestartet sind, da war schon der eigentlich persönlich schönste Film ein Film aus Thailand und Vietnam und Norwegen, der aber in Japan spielt, der heißt "Norwegian Wood". Das ist eine Verfilmung von dem Murakami-Roman, den wir unter dem Titel "Naokos Lächeln" kennen. Ansonsten fand ich sehr stark zum Beispiel das französische Kino dieses Jahr mit einer ganzen Reihe von Filmen. Wir denken an "La Potiche – das Schmuckstück", wo Catherine Deneuve einen fabelhaften Auftritt hat, so eine Boulevard-Komödie aus den 70ern – ein sehr lustiger Film. Überhaupt kommen aus Frankreich gute Komödien. Auch wenn man an den Namen der Leute denkt – das ist so der Überraschungshit in Frankreich gewesen, der ist im Frühjahr bei uns gestartet –, wenn man denkt an einen Film "Yuki und Nina", über zwei Zwölfjährige, der sehr humorvoll, allerdings dann auch sehr ernst ein bisschen erzählt von so zwei Freundinnen, wo die eine davon, die eben eine japanische Mutter hat, zurück nach Japan muss, also Trennung, Abschied, schon ernsthafte Themen. Ansonsten ein ganz großartiger Film ist sicherlich der, der die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, "The Tree of Life – der Baum des Lebens" von Terence Malick.

    Schäfer-Noske: Nächstes Jahr kommen an deutschen Filmen ein Kir-Royal-Nachfolger von Helmut Dietl und Bully Herbig ins Kino, die Romanverfilmung "Russendisko" mit Matthias Schweighöfer und Detlev Burkhard hat sich den Bestseller "die Vermessung der Welt" vorgenommen. Was gibt es denn über den deutschen Film 2011 zu sagen?

    Suchsland: Leider nicht viel Gutes, muss ich wirklich sagen. Der deutsche Film war eigentlich so schlecht wie lange nicht. Sie haben jetzt auch schon Bully erwähnt. Ich gebe zu, ich bin nicht der übermäßige Bully-Fan, aber ich denke, gerade wenn man dieses Jahr nimmt, so ein Film wie "Hotel Lux", wo Leander Hausmann wirklich mal etwas probiert hat, was Riskantes probiert hat – einen Film zu machen, der auch so ein bisschen den scharfen, erwachsenen Witz eines Billy Wilder oder Ernst Lubitsch hat –, da hat Bully eigentlich diesen Film kaputtgemacht. Und Bully und Leander Hausmann haben nicht zusammengepasst, und das war nicht Leander Hausmanns Schuld. Auch Matthias Schweighöfer ist jemand, der hat jetzt mit "What a Man" einen Erfolg hingelegt, der sicher so in den Fußstapfen von Til Schweiger marschiert. Aber das ist doch nicht jemand, dem man irgendwie besondere Fähigkeiten als Regisseur zutraut. Und diese ganzen dahergelaufenen deutschen Komödien, die sind eigentlich mehr Klamotten. Ich denke, da haben wir so eine Mode, hat sich sehr von seinen Ursprüngen entfernt, die ja skurrile Komödien waren. Gleichzeitig haben wir eine internationale Bedeutungslosigkeit des deutschen Films, die so stark ist wie auch lange nicht. Wir haben kein einziges A-Festival gehabt: Cannes, Venedig, San Sebastian, Locarno, da lief nirgendwo ein einziger deutscher Film im Wettbewerb, dabei gibt es so viel Geld wie noch nie. Also mit Geld wird man den deutschen Film nicht besser machen, sondern eher mit neuen Ideen. Die fehlen aber.

    Schäfer-Noske: Welche Rolle spielt denn das Fernsehen im Moment?

    Suchsland: Das deutsche Fernsehen, vor allem die großen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF, haben keinen guten Einfluss auf den deutschen Film. Das ist ja eine Sonderkonstruktion, dass das deutsche Fernsehen so entscheidend mitspricht bei der Produktion des Kinos. Kino ist ja ein anderes Medium. Trotzdem ist es so, dass das Kino bei uns einfach von der Gesetzeslage her nicht finanziert werden kann mit öffentlichen Geldern, wenn nicht das Fernsehen von Anfang an dabei ist. Und das ist eine Konstruktion, die ist einmalig in Europa. In den viel erfolgreicheren Ländern Frankreich, Dänemark, Spanien, Österreich, da ist das genau umgekehrt, da muss die Förderung erst ja sagen und dann muss teilweise verpflichtend das Fernsehen einsteigen. Das ist auch eine gute Idee. Wenn aber das Fernsehen von Anfang an mitspricht, also die Schauspieler auswählt, die Stoffe auswählt, vor allem auch viele Sachen dann nicht finanziert werden, weil sie abgelehnt werden, weil sie angeblich von den Zuschauern nicht gewollt werden, dann ist das eine Konstruktion, wo wir einfach an den Folgen sehen können, wir haben schlechte Komödien und internationale Erfolglosigkeit, dass das nicht funktioniert. Und die, die es ausbaden müssen, das sind dann die Regisseure und die Produzenten. Es sind nicht die Fernsehredakteure, die das entscheiden, die werden nicht zur Verantwortung gezogen, wenn die Quoten schlecht sind.

    Schäfer-Noske: Was gab es international sonst noch? Es gab ja viele 3D-Filme: "Tim und Struppi", "Die drei Musketiere", "Der gestiefelte Kater" – wird das noch weitergehen?

    Suchsland: Also der Blockbuster, der so technisch aufgemotzt ist, wo eigentlich die Technik viel wichtiger ist als die Geschichte oder als die Schauspieler, die mitspielen, oder als der Regisseur, das gehört fast schon wieder der Vergangenheit an, also 3D kam vor zwei Jahren auf mit "Avatar" von James Cameron, und dann hat jeder plötzlich 3D gemacht. Was man einfach beobachten kann bei den allerneuesten Filmen, gerade den Blockbustern aus Hollywood, das ist, dass eigentlich keiner mehr 3D macht. Also David Fincher wird jetzt bald im Januar ins Kino kommen mit der Verfilmung von "Verblendung", das ist ein Film, der wäre vor einem Jahr wahrscheinlich in 3D gewesen, jetzt ist er nicht in 3D. "Mission: Impossible" ist nicht in 3D, und eine ganze Menge anderer Filme sind nicht mehr in 3D. Ich glaube, das ist eine Mode – und auch Autorenfilmer, die hatten mal Lust, es auszuprobieren –, aber die ist jetzt vorbei. Man sieht auch daran, dass sie vorbei ist, dass einfach die Studios damit kein Geld verdienen vergleichsweise. 3D-Filme sind viel, viel teurer, das Kino ist viel, viel teurer, und die Leute nehmen es nicht an. Die gehen lieber in einen 2D-Film in der Mehrheit. Also 3D, das ist was für Teenies, die das Kino noch nicht kennen und die mal diesen Effekt sehen wollen. Den Spielberg-Film "Tim und Struppi" fand ich nicht so gelungen, aber andere Sachen, die funktionieren natürlich sehr gut.

    Schäfer-Noske: Das Jahr 2011 war für die internationalen Festivals ja eher ein schwieriges Jahr?

    Suchsland: Ja, wir haben auf der einen Seite die Beobachtung, dass die Filmfestivals eigentlich immer wichtiger werden. Die werden gerade immer wichtiger für das Kunstkino. Also ein richtig künstlerisch wertvoller Film kann sich eigentlich ohne eine Festivalteilnahme kaum noch finanzieren. Auf der anderen Seite haben diese Festivals selber enorme Probleme – teilweise mit der Finanzierung, teilweise auch damit, überhaupt wahrgenommen zu werden, denn es gibt immer mehr Festivals, und teilweise damit, dass sie es in ihren Programmen allen recht machen wollen und dann am Ende irgendwie zwischen allen Stühlen sitzen. Das kann man sehr gut beobachten an der Berlinale: Die haben zwar ein breites Publikum, ein großes Publikum immer noch, aber gleichzeitig hat das natürlich den Effekt, dass sie dann den normalen Kinos das Publikum auch wegnehmen, das ist also auch nicht durchgehend nur eine gute Entwicklung, wenn ein Festival viel Publikum hat. Viel wichtiger bei einem Festival ist, dass die wirklich das Kino künstlerisch voranbringen, das sie die Aufmerksamkeit auf etwas lenken, wo das sonst nicht passieren würde, die wirklichen Entdeckungen, das, was das Kino voranbringt, da gibt es nur ein einziges Festival, das sind dann die Filmfestspiele von Cannes. Alle anderen verdienen auch die Aufmerksamkeit, aber die kommen nicht ran an dieses Mekka des Kinos, was wirklich in der Lage ist, alle Filme zu bekommen und zu zeigen, die sie zeigen wollen. Da kannibalisieren sich diese Festivals gegenseitig, und man muss mal ein bisschen abwarten, wo das hinführt. Es ist ganz klar, dass Festivals eher kleiner werden sollten, dass sie eher eine spezifische Auswahl haben sollten. Dann werden sie wirklich bemerkt, dann funktionieren sie gut, dann weiß man auch, warum man sie braucht. Wenn Sie in so einem Gemischtwarenladen sind wie die Berlinale, dann führt das nicht weit.

    Schäfer-Noske: Was ist denn, Herr Suchsland, Ihre Gesamtbilanz des Kinojahrs 2011?

    Suchsland: Also 2011 war sicher ein durchwachsenes Jahr, was aber dann doch so ein paar schöne Highlights gehabt hat. Selbst im deutschen Kino, auf das ich vorhin geschimpft habe, da gab es dann so einen Genrefilm wie "Hell", es gab ein Debüt "Lollipop Monster", das mir sehr gut gefallen hat. Es gab einen strengen, aber tollen Autorenfilm "Im Alter von Ellen" von Pia Marais, und es gab ein paar sehr gute Dokumentarfilme – wenn ich an "Das Leben ist kein Heimspiel" denke, ein Film über Fußball, wenn ich an den "Chodorkowski" denke, diese politische Dokumentation, die vor ein paar Wochen erst ins Kino gekommen ist, das sind ziemlich gute Filme, und auch im internationalen Kino, da haben wir zum Beispiel einen neuen gesehen, der endlich mal wieder auch nach Deutschland kam, "Film socialisme", das hat sich unbedingt gelohnt. Und ansonsten ist es natürlich auch ein trauriges Jahr gewesen, wo wir einige Verluste zu beklagen hatten – wenn ich an Sidney Lumet denke, wenn ich an Bernd Eichinger denke, wenn ich an Elizabeth Taylor denke und wenn ich auch an den sehr guten Kollegen denke, Michael Althen, Filmkritiker der "Frankfurter Allgemeinen", das sind Verluste, die schmerzen in diesem Jahr. Also Licht und Schatten, kann man sagen.

    Schäfer-Noske: Rüdiger Suchsland war das mit einer Bilanz des Kinojahres 2011.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.