Archiv


Licht und Schatten in Südafrika

Freedom Charter, die Freiheitscharta, wurde vor 50 Jahren, am 26. Juni 1955 in der Slumsiedlung Kliptown bei Johannesburg vom so genannten Volkskongress beschlossen. 3.000 Gegner der Apartheid hatten sich hier versammelt, um mit ihrem zehn Punkte umfassenden Programm eine Gegenstrategie zur weltweit radikalsten Rassentrennungspolitik vorzulegen. Doch es sollten fast 40 Jahre vergehen, bis die Apartheid beseitigt wurde.

Von Frank Räther |
    "Wir, das Volk von Südafrika, erklären vor unserem Land und der Welt: Südafrika gehört allen, die dort leben, Schwarzen und Weißen. Deshalb beschließen wir, das Volk von Südafrika, Schwarze und Weiße gemeinsam, gleichermaßen Landsleute und Brüder, diese Freiheitscharta. Wir verpflichten uns, weder Kraft noch Mühe zu scheuen, bis die hier dargelegten demokratischen Veränderungen verwirklicht sind."

    So beginnt die Freedom Charter, die Freiheitscharta, die vor 50 Jahren, am 26. Juni 1955 in der Slumsiedlung Kliptown bei Johannesburg vom so genannten Volkskongress beschlossen wurde. 3.000 Gegner der Apartheid hatten sich hier versammelt. Sie vertraten den Afrikanischen Nationalkongress der schwarzen Südafrikaner, den South African Indian Congress der indischen Bevölkerungsgruppe, die South African Coloured Peoples Organization der Mischlinge und den Congress of Democrats, in dem sich progressive Weiße zusammengeschlossen hatten.

    Mit der zehn Punkte umfassenden Freiheitscharta schufen sie ein Programm von Demokratie und Menschenrechten – als Gegenstrategie zur Rassentrennungspolitik der Apartheid, die sieben Jahre zuvor von der weißen Minderheitsregierung in Südafrika eingeführt worden war und die seitdem jedes Jahr restriktiver und fanatischer wurde, wie sich Erzbischof Desmond Tutu erinnert:

    "Es gab Gesetze zur Reinhaltung der Rasse, die es Polizisten erlaubte, auf Bäume zu klettern, um in die Schlafzimmer der Leute zu schauen, damit sie sich vergewissern können, dass es keinen Sex zwischen Angehörigen verschiedener Rassen gibt. Sie drangen sogar in die Häuser ein, um zu fühlen, wie warm die Bettlaken sind."

    Mehr als 100 Gesetze schufen die Rassenfanatiker, die jeden Bereich des Lebens reglementierten und auf eine strikte Rassentrennung achteten. Es war vorgeschrieben, wo jemand wohnen, als was er arbeiten und wen er lieben durfte. Die wohl weltweit radikalste Rassendiskriminierung verweigerte zudem allen Nichtweißen die grundlegenden demokratischen Rechte, einschließlich des Wahlrechts und hielt sie unterentwickelt.

    Dem stellte die Freiheitscharta ihre Grundwerte entgegen, die im Laufe der Jahre dann von immer mehr Anti-Apartheid-Organisationen im Lande zu ihrem Basismanifest erklärt wurde: Das Volk soll regieren. Alle nationalen Gruppen sollen die gleichen Rechte haben. Die Bodenschätze, die Banken und die Schlüsselindustrie sollen in den Besitz des ganzen Volkes übergehen. Das Land soll unter die verteilt werden, die es bebauen. Es soll Arbeit, Wohnungen und Bildung für alle geben – und ähnliches mehr.

    Fast 40 Jahre sollte es nach dem Volkskongress noch dauern, bis die Apartheid beseitigt wurde und erstmals alle Bürger des Landes wählen durften. 1994 dann, vor elf Jahren, kam bei diesen Wahlen der Afrikanische Nationalkongress an die Macht. Wie hat er seitdem die Freiheitscharta, die noch immer sein Grundprogramm darstellt, umgesetzt?

    "Man sieht jetzt gemischtrassige Paare auf den Straßen Südafrikas spazieren – und keiner schert sich darum. Ich bin einer der wenigen, der dann immer noch stehen bleibt und staunt. Es ist erstaunlich für mich, dass uns eine so radikale und zugleich so friedliche Umgestaltung gelungen ist.

    Erzbischof Desmond Tutu ist wie viele andere fasziniert, wie umfassend und schnell sich die südafrikanische Gesellschaft veränderte. In Kliptown hingegen, wo vor 50 Jahren die Freiheitscharta beschlossen wurde, und das noch immer eine Slumsiedlung für über zehntausend Schwarze ist, hält sich die Begeisterung in Grenzen, wie Sipho Jantjie von der dortigen Einwohnerorganisation feststellt:

    "Wir haben noch immer nur Eimer als Klos in Kliptown. Wir haben keine Wasserversorgung in unseren Häusern, sondern nur öffentliche Wasserhähne in den Straßen. Wir haben auch keine Elektrizität. Nur eine Straße bei uns, die Beacon Road, hat Strom."

    Zwei Ansichten, zwei Eindrücke, zwei Bewertungen der Umsetzung der Freiheitscharta. Südafrika hat in elf Jahren Demokratie viel erreicht aber noch längst nicht alles verändert. Amina Cachalia, eine Anti-Apartheid-Aktivistin, die schon 1955 dabei war:

    "Wir haben eine Menge Gutes erreicht. Aber es ist noch sehr viel zu tun in unserem Land. Wir hatten 1994 ein Land übernommen, das bankrott und verkommen war. Ob Bildung, Wasserversorgung oder Elektrizität, überall musste völlig neu begonnen werden."

    Die Schulen und Universitäten wurden für alle Rassen geöffnet, Millionen Menschen erhielten Wohnungen, Wasser- und Stromanschluss. Und, wie Erzbischof Tutu es lobte, alle Rassen haben gleiche Rechte und leben nun miteinander. Doch dies ist sozusagen die Großwetterlage. Im Detail und an der Basis sieht es oft anders aus.

    "Wohnungen, Sicherheit und Wohlstand sollen geschaffen werden", heißt es in der Freiheitscharta.

    Immer wieder sendet das südafrikanische Fernsehen, auch wenn es weitgehend regierungstreu ist, Berichte von Demonstrationen und Protesten in den Schwarzensiedlungen, den Townships. In diesem Falle vom Ostkap, dem so genannten Kernland des Afrikanischen Nationalkongresses, woher viele der Führer kommen. Die Demonstranten klagen über schlechte Verwaltung, Korruption und fehlende Wohnungen.

    Wir wollen Häuser, verlangt die eine Frau. Und die andere beklagt, dass die von der Verwaltung gebauten Häuser der letzten Jahre viel zu klein sind und zudem so schlecht gebaut, dass es durchregnet und der Putz von der Wand fällt. Jetzt wollen sie alle solange auf der Straße protestieren, bis endlich der Bürgermeister zu ihnen kommt und sich ihrer Probleme annimmt.

    Menschenwürdiger Wohnraum ist neben einem Arbeitsplatz für die meisten früher Benachteiligten das wichtigste Grundbedürfnis. Es wurden zwar bereits über zwei Millionen Häuser gebaut. Doch einerseits bereicherten sich daran viele Baufirmen, die minderwertiges Material verwendeten und schluderten. Und andererseits wächst der Bedarf an Wohnungen schneller als die Neubauten. So entstehen Hunderte Slumsiedlungen aus Brettern, Pappe und Wellblech, es sind heute ein Drittel mehr als noch vor zehn Jahren. Über fünf Millionen Menschen leben dort.

    Und wer eine Wohnung hat, will auch Wasser und Strom. In nur einem Jahrzehnt erhielten zehn Millionen Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser und drei Millionen Haushalte Strom. Dafür aber muss bezahlt werden. Da ein Drittel aller Südafrikaner arbeitslos und somit ohne Einkommen ist, wird von ihnen eine völlig kostenlose Versorgung verlangt. Sie reißen oft die Zähler heraus oder legen sich Leitungen, die diese umgehen.

    Sie pochen auf die Forderung der Freiheitscharta, dass das Volk am Reichtum des Landes teilhaben soll. Doch das war vor einem halben Jahrhundert leichter gesagt als heute getan. Damals war noch von einer Verstaatlichung der Bodenschätze, der Banken und der Schlüsselindustrie die Rede. Seitdem hat sich die Welt verändert, und das sozialistische Modell existiert nicht mehr. Die neue, mehrheitlich schwarze Regierung hat sehr schnell den internationalen Gegebenheiten Rechnung getragen, betont Claas Daun, ein deutscher Unternehmer, der Dutzende mittlere Betriebe in Südafrika aufgekauft und modernisiert hat:

    "Für mich war dann klar, dass die führende Leute aus dem ANC ihre wirtschaftspolitischen Träume ad acta legen mussten und zurückkommen mussten zur Realität. Und das geschah ja auch bald."

    Kein Wunder, dass die Gewerkschaften sich über die Wirtschaftspolitik der ANC-geführten Regierung beklagen und sie als einen Verstoß gegen die Ziele der Freiheitscharta brandmarken. Nicht ohne Hintersinn rief der Gewerkschaftsdachverband Cosatu daher für den ersten Arbeitstag nach dem 50. Jahrestag der Freiheitscharta zu einem eintägigen Generalstreik gegen Arbeitsplatzvernichtung auf. Cosatu-Generalsekretär Zwelinzima Vavi verlangt:

    "Wir stehen einer Situation gegenüber, die eine Intervention dringend nötig macht. Die Arbeitslosigkeit muss zu einer nationalen Katastrophe erklärt werden. Alle Kräfte müssen darauf konzentriert werden, dieses Problem zu lösen."

    Der regierende ANC verfolgt in der Wirtschaftspolitik statt der einst angestrebten Nationalisierung jetzt eine andere Strategie: Sozialistische Ideen sind heute passé. Es bleibt beim Kapitalismus. Dafür aber gilt jetzt: Weiß raus, Schwarz rein. Zwei Wege werden propagiert: Affirmative Action und Black Economic Empowerment.

    Affirmative Action bedeutet, dass überall Schwarze bevorzugt eingestellt und vor allem in Führungsetagen gehievt werden. Dazu gibt es für die Privatwirtschaft konkrete Vorgaben des Staates, die festlegen, dass bis zu 60 Prozent der Posten an Nichtweiße zu vergeben sind. Und Black Economic Empowerment soll die Besitzverhältnisse der einst nahezu blütenweißen Industrie so verändern, dass zunächst zehn, bald 25 und langfristig bis zu 50 Prozent der Unternehmen in schwarzem Besitz zu sein haben. Der Übernahme der politischen Macht im einstigen Apartheidland soll die Erringung der wirtschaftlichen folgen. Öffentliche Aufträge sind bereits an die Einbeziehung schwarzer Partner gebunden. Diese strikte Vorgabe wird von vielen Wirtschaftsfachleuten als problematisch angesehen, wie der deutsche Unternehmer Claas Daun erläutert:

    "Also diese Dinge sind eine andere Form von Korruption. Weil nicht Effizienz entscheidet, sondern die Hautfarbe entscheidet. Und das ist der erste Schritt in die Korruption. Und wenn dann Ausschreibungen kommen für Schulmöbel – wir produzieren Schulmöbel – und Sie dann, um Aufträge zu kriegen, Zwischengesellschaften einschalten müssen, die ein schwarzes Gesicht haben, nur um Aufträge zu kriegen, die am Ende auch bei Ihnen landen, die verteuern den Prozess. Die Regierung zahlt mehr."

    Da logischerweise die früher in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung behinderten Nichtweißen Südafrikas nicht das Geld haben, Milliardensummen für den Einstieg in Banken, Bergwerke und Industriekonzerne zu zahlen, müssen die Firmen das Geld für das Black Economic Empowerment der neuen schwarzen Teilhaber vorschießen. Sie nehmen dazu Kredite auf, die sonst für die Ausweitung der Produktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen hätten verwendet werden können. Das heißt, es wird keine Produktivität vermehrt, sondern nur die Hautfarbe geändert. Und es entsteht eine sehr kleine, aber eng mit dem regierenden ANC verbundene neue Schicht von schwarzen Unternehmern, die überall beteiligt sind und über Nacht zu Multimillionären wurden.

    Präsident Thabo Mbeki musste dies bereits eingestehen.

    "Es stellt sich heraus, dass am Ende einige sehr reich werden. Das ist nicht die Art von Black Economic Empowerment, die wir wollten."

    Eine Änderung der Politik aber kündigte der Präsident bisher nicht an. Angesichts der Neureichen des ANC in der Wirtschaft glauben auch die neuen Staatsbediensteten, kräftig zulangen zu können. Sie vergeben lukrative Aufträge an Verwandte, die die oft gar nicht erfüllen können, stellen Freunde ein, sind offen für Geldgeschenke von Leuten, die etwas von ihnen wollen und greifen auch selbst in die Kasse, klagt der Abgeordnete Malizole Diko im Parlament:

    "Die lokalen Verwaltungen wurden für einige Politiker und Beschäftigte ein Blankoscheck zur Selbstbereicherung und zur Erfüllung ihrer eigenen politischen Machtambitionen."

    Die um sich greifende Korruption, verbunden mit Vernachlässigung der Aufgaben, für die die lokalen Verwaltungen eigentlich da sind, führt zunehmend zu Protestaktionen der betroffenen Bevölkerung. Straßen werden verbarrikadiert, Reifen angezündet, Steine auf die im Mercedes vorfahrenden neuen schwarzen Bürgermeister geworfen. Die Polizei geht mit Tränengas gegen die Protestierenden vor. Die Bilder erinnern an die Spätzeit der Apartheid, als es in den Townships rumorte.

    David Mohale, der vor 30 Jahren am Schüleraufstand von Soweto teilnahm, dort noch immer lebt und keinen Job findet, ist unzufrieden:

    "Es gibt das Gefühl der Bitterkeit. Die jetzt an der Regierung sind, erinnern sich nicht mehr an ihre alten Kampfgefährten, mit denen sie einst zusammen waren und die sie nach oben gebracht haben. Sie haben uns vergessen und denken nur noch daran, sich die Taschen zu füllen."

    Das Ziel der Freiheitscharta "Es soll Arbeit und soziale Sicherheit geben" ist für David Mohale wie für Millionen andere in Südafrika noch immer ein Wunschtraum und keine Realität.

    Aber auch Weiße, Inder und Mischlinge – die zusammen acht Millionen Menschen und somit etwa ein Fünftel der südafrikanischen Bevölkerung ausmachen – klagen. In der Freiheitscharta heißt es, dass "alle nationalen Gruppen die gleichen Rechte haben" und nicht wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert werden dürfen. Doch Affirmative Action, also die bevorzugte Einstellung von und Postenvergabe an Schwarze, führt dazu, dass für viele von ihnen die Karriere zu Ende ist oder sie als Universitätsabsolventen gar nicht erst eingestellt werden.

    Grund ist die Hautfarbe, denn nun müssen die beschlossenen Quoten umgesetzt werden. Und da früher die Schwarzen nur in den unteren Jobs eingestellt wurden, existiert ein enormer Aufholbedarf. Der Anteil der Nichtweißen steigt schnell – und muss noch weiter steigen, wenn am Ende, wie es der Afrikanische Nationalkongress als Ziel vorgegeben hat, die Beschäftigung auf jeder Ebene dem nationalen Rassenproporz entsprechen soll. Das würde bedeuten: 80 Prozent Schwarze, je neun Prozent Weiße und Mischlinge sowie zwei Prozent indischer Abstammung. Somit ist für die Nicht-Schwarzen, die mittlere und hohe Posten haben, in den meisten Fällen definitiv Schluss mit der Karriere.

    "Das System funktioniert nicht für Mischlinge – und es funktioniert definitiv nicht für mich", umreißt Martha Rood ihre Negativ-Erfahrung. In der Provinz West-Kap rund um Kapstadt, wo es früher aus historischen Gründen nur wenige Schwarze gab, werden aber die meisten Staats- und Verwaltungsämter inzwischen mit Schwarzen besetzt, die im vergangenen Jahrzehnt zu Hunderttausenden aus dem Ost-Kap und anderen Regionen dorthin strömten. "

    Viele Weiße suchen ihre Zukunft außerhalb Südafrikas und emigrieren. Innerhalb von fünf Jahren, so erklärte kürzlich der letzte weiße Präsident Südafrikas, Frederik Willem de Klerk, hätte fast eine Viertelmillion der Heimat den Rücken gekehrt. In ihrer Mehrheit handelte es sich um hochqualifizierte Fachleute oder junge Universitätsabsolventen.

    Einen Teil der Bevölkerung beiseite zu drängen, das hat auch Auswirkungen in den Bereichen, die in der Freiheitscharta als sehr wichtig angesehen werden: Bildung und Gesundheitswesen. Früher stand beides im Prinzip nur den Weißen offen – sie hatten gut ausgestattete Schulen, qualifizierte Lehrer, moderne Kliniken und erfahrene Ärzte.

    Nun sind die Strukturen verändert worden. Das Positive: Alle haben jetzt Zugang zu Schulen und Kliniken. Das Negative: das Niveau sinkt stark ab. Krankenpfleger Sibusiso Zuma vom Baragwanath-Krankenhaus, dem größten Südafrikas, über die Zustände in der Klinik:

    "Wir haben keine Instrumente, keine Medikamente und im ganzen Krankenhaus gibt es keine Bettlaken. Die Patienten bringen sie sich selber mit.

    Missmanagement, Planungsunerfahrenheit, mangelndes Engagement, fehlende Kenntnisse – die Gründe sind vielfältig. Zu den schlechten Arbeitsbedingungen kommt noch hinzu, dass die Krankenschwestern so schlecht bezahlt werden, dass sie in Scharen den Job quittieren. 300 jeden Monat. In den vergangenen Jahren wanderten Tausende von ihnen, darunter auch sehr viele schwarze, nach Großbritannien aus. Dort verdienen sie als Krankenschwestern in fünf Jahren so viel wie in Südafrika beim gegenwärtigen Lohnniveau während ihres gesamten Berufslebens.

    Besorgniserregend sieht es auch im Bildungswesen aus, dessen Struktur ständig reformiert wird, während sich die Resultate nicht verbessern. Ein Drittel der Schüler fällt jährlich durchs Abitur, bei den Studenten bleiben viele schon im ersten Jahr auf der Strecke.

    "Die Türen zur Bildung sollen geöffnet werden", verlangte die Freiheitscharta. Dies ist in den elf Jahren der Herrschaft des Afrikanischen Nationalkongresses, der die Charta vor 50 Jahren unterschrieb, geschehen. Auch sind vor dem Gesetz alle gleich, ist Rassismus in Südafrika verboten, werden Wohnungen gebaut, erhalten die Haushalte Wasser- und Stromleitungen, werden Arbeitsplätze geschaffen und regelmäßig Wahlen abgehalten, um auf allen Ebenen demokratische Körperschaften zu bilden. Mit Ausnahme der Verstaatlichungen, an deren Stelle nun das Konzept des Black Economic Empowerment getreten ist, hielt und hält sich der ANC an die Charta-Vorgaben.

    Doch all dies ist kaum mehr als das Stellen von Weichen. Der Zug kommt auf den meisten Gleisen nur langsam voran, was nach der langen Zeit der rassistischen Unterdrückung und Ungleichheit zu erwarten war. Es lässt sich nicht in einem Jahrzehnt aufholen, was in Jahrhunderten vernachlässigt worden war. Aber ob in Südafrika auch der Geist der Freiheitscharta umgesetzt wird, ist noch nicht entschieden.

    Denn während die Führer des einstigen Befreiungskampfes zur gut lebenden Oberschicht des neuen Südafrika avancierten, erhöht sich trotz vieler Verbesserungen der Anteil der Armen und Erwerbslosen in Südafrika, die allmählich unruhig werden. Hatte die Freiheitscharta noch das Ideal einer Gesellschaft gezeichnet, in der Rassenzugehörigkeit keine Rolle spielt, so ist sie heute stattdessen eine entscheidende Voraussetzung bei der Besetzung von Stellen und Jobs. Anstelle von Selbstverwaltung des Volkes und Vielfalt der Auffassungen, wie von den Vätern der Freiheitscharta erstrebt, gibt es in Südafrika einen zunehmenden Zentralismus und eine abnehmende öffentliche und innerparteiliche Diskussion vor wichtigen Entscheidungen. Kritik wird als Angriff angesehen, Opposition als Bedrohung.

    Und so gibt auch zu denken, dass der 50. Jahrestag der Verabschiedung der Freiheitscharta mit einer zweitägigen Sondersitzung des Parlaments in neuen prunkvollen Gebäuden der gerade errichteten Gedenkstätte in Kliptown begangen wird. Die dafür verwendeten Millionen hätten ausgereicht, um jedem im vernachlässigten Kliptown ein anständiges Haus hinzustellen, es mit Wasser und Strom zu versorgen sowie die Straßen zu teeren und zu beleuchten. Doch offenbar werden die Prioritäten von den in Südafrika regierenden Kräften anders gesetzt: es geht ihnen mehr um das große Gesamtbild – und weniger um die für die Menschen so lebenswichtigen Details.