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Lidie Newton

Sie weiß, wie man mit einem Gewehr umgeht, sie reitet wie der Teufel, schwimmt wie ein Kerl, durchquert sogar den Mississippi, als sei er ein Bach hinterm Haus. Sie liest gern, und noch lieber schreibt sie. Sie weiß nicht, wie man stopft, strickt oder näht, und ihre Kochkünste sind alles andere als berauschend. Sie ist eine Frau, die sich in einer harten Männerwelt behaupten kann, der Männerwelt der Siedler. Ihr Name ist Lidie Newton. Und sie lebt zur Zeit Abraham Lincolns im 19. Jahrhundert in Illinois, später in Kansas.

Simone Hamm |
    "Lidie Newton oder Die wahre Geschichte eines abenteuerlichen Frauenlebens" hat Jane Smiley ihr neuntes Werk genannt. Die amerikanische Autorin Jane Smiley hat schon einmal einen historischen Roman geschrieben: Grönlandsaga, der im 13. Jahrhundert zur Zeit der Christianisierung in Grönland spielt. Ein Jahr später, 1992, erschien "Tausend Morgen", ein Roman mitten aus Amerika, erfolgreich verfilmt mit Michelle Pfeiffer. Dieses Buch um Erde, Besitz und Erbe brachte Jane Smiley den Pulitzerpreis ein. Nach dem Campusroman "Moo" nahm sie sich jetzt wieder einen Stoff aus der Geschichte vor.

    Lidie Newton wächst in den vierziger Jahren des 19. Jahrhundert in Illinois auf. Sie ist das einzige Kind ihrer Mutter, das das Säuglingsalter überlebt hat und deshalb deren Augenstern. Die Mutter hatte einen Witwer mit vielen Kindern geheiratet. Als sie stirbt, wird Lidie in die Obhut einer älteren Halbschwester gegeben. Jetzt ist sie nur noch eines von mehreren Kindern. Ihre Welt ist dumpf und eng, und früh lernt sie, ihre eigenen Wege zu gehen, ihre kleinen Geheimnisse zu haben.

    Als sie zwanzig ist, will die Familie sie verheiraten. Lidie Newton hat das Schicksal der Mutter vor Augen: Die hatte sich abgerackert, um dem Witwer die Kinder großzuziehen. Als ein Fremder in die Stadt kommt, der auf der Reise nach Kansas ist, zögert sie nicht. Das ist ihre Chance. Sie heiratet den stillen Thomas Newton aus England und begleitet ihn. In Kansas will sie mit ihm leben, mit ihm Land besiedeln, Äcker bestellen.

    Das Leben dort ist härter, als sie es sich hat vorstellen können. Doch nicht die mühsame Feldarbeit, nicht der anstrengende Häuserbau, nicht die eisigen Winter und die Sumpffieberepedemien sind es, die ihr das Leben zur Hölle machen. Es sind die Auseinandersetzungen der Siedler untereinander. Sie streiten um alles, um Grundstücke, Ländereien, Häuser - und um Politik, um die Sklavenhaltung. Kein anderes Thema bringt sie mehr in Rage, bei keiner anderen Diskussion können sie so außer sich geraten, so gewalttätig werden. Sie werden zu Feinden, Todfeinden. Thomas Newton, der sein Leben bislang in Neuengland verbracht hat, glaubt, wenn man nur miteinander rede, werde man schließlich zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Lidie Newton ist pragmatischer und lebensnäher. Sie weiß, daß man in Kansas Probleme nicht mit Worten aus der Welt schafft: Man greift zum Gewehr. Thomas Newton wird aus dem Hinterhalt erschossen, als er einen Sack Mehl auf einen Wagen heben will. Lidie Newton steht daneben.

    Sie weiß, warum man ihren Mann umgebracht hat. Thomas Newton hat sich für die Freiheit der Sklaven eingesetzt, hat Waffen geschmuggelt. Noch immer ist es verboten, geflohenen Sklaven zu helfen. Noch immer werden Sklaven schlechter als Vieh gehalten, werden ihnen ihre Kinder weggenommen, sobald sie groß genug sind, sich für einen Weißen zu Tode zu schinden. Eindringlich schildert Jane Smiley die Schrecken der Sklaverei, ausführlich läßt sie ihre Protagonisten dazu Stellung nehmen. Viele Seiten nehmen die Diskussionen der Siedler ein. Hier ist Jane Smileys Roman mehr als ein Historienschinken, mehr als der Roman einer außergewöhnlichen Frau. Sie läßt das 19. Jahrhundert auferstehen, zu dessen Beginn es kein klares Ja oder Nein auf die Sklavenfrage gab.

    Jane Smiley hat einen Roman über eine leidenschaftliche Frau vor historischer Kulisse geschrieben. Sie schreibt einfach und klar, leicht lesbar, bisweilen ein wenig langatmig, weil sie auch wirklich keinen Aspekt ihres Hauptthemas, der Sklaverei, auslassen möchte. Doch die Geschichte der trotzigen Lidie Newton ist dann wieder spannend und aufregend. Sie will ihren Mann rächen. Sie schneidet sich die langen Haare ab, kleidet sich wie eine Mann, nennt sich Lymann Arquette. Wird sie den Weg der Männer bis zum Schluß gehen, den Weg der Rache? Wird sie die Spirale der Gewalt wirklich einfach weiterdrehen?