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Liebe bis zum Tod

1836 begann Georg Büchner, an seinem Woyzeck-Drama zu schreiben. Er konnte es nicht zu Ende bringen. So ist "Woyzeck" nicht nur Fragment, sondern gleichsam jung geblieben, ungeordnet, extrem. Und daher noch immer eine Herausforderung, nicht nur fürs Theater. Nachwuchsregisseur Tilmann Köhler hat jetzt den "Woyzeck" auf die Bühne des gebracht.

Von Hartmut Krug | 26.05.2009
    Büchners "Woyzeck" wird viel gespielt auf deutschen Bühnen. Das Fragment, in dem die geschundene Kreatur Woyzeck an der Gesellschaft und ihren Gewaltverhältnissen scheitert, ist gleichermaßen Sozial- und Liebesdrama, Rühr- und Aufrührstück. Gern wird der Text als aktueller sozialpolitischer Kommentar eingerichtet. So hat Volker Lösch seinen Woyzeck im vergangenen Jahr in Dresden in die Mitte der Gesellschaft eintauchen und dort an den rechten Gewaltverhältnissen scheitern lassen.

    Tilman Köhler dagegen taucht nicht ein in eine soziale Bilderwelt unserer Zeit. Der 28-jährige Köhler zersplittert Büchners Szenensplitter radikal, zuweilen bis zur Unkenntlichkeit von Figuren und Entwicklungen. Dabei zeigt seine theatrale Versuchsanordnung über den Weg eines Subjekts zum Objekt weder einen konkreten Ort noch ein genau gezeichnetes Subjekt, sondern vermittelt vor allem ein Zeitgefühl.

    Die offene, nackte, von einem Gitterkäfig umfangene Bühne von Karoly Risz wirkt wie ein Druckraum, - für die Stückfiguren, die Schauspieler und die Zuschauer. Wir sind gefangen, - in undeutlichen, aber bedrängten Verhältnissen.

    Diese Bühne kennt nur diesen einen, den öffentlichen Raum, nicht Stube, Kaserne, Kramladen und Wirtshaus wie bei Büchner. Sie gibt der Öffentlichkeit einer zeitlosen Gesellschaft Raum für die Ziellosigkeit ihres Jahrmarktstreibens. Auf der Bühne und mittendrin stehen die Zuschauer und müssen oft den Schauspielern ausweichen, die durch den Raum hetzen oder ihre vier Spielpodeste durch die Menge treiben. Nur wenige Zuschauer finden Platz auf stegartigen, unbequemen Sitzgelegenheiten.

    Die Schauspieler kämpfen sich durch Stück und Raum mit starkem körperlichen Einsatz, sie klettern auf die Gitter, springen zum Aufsagen ihrer Texte auf die Podeste oder hetzen durch den Raum, während sie ein Jazztrio vom Rang aus heftig antreibt.

    Tilman Köhler und sein Dramaturg Ludwig Haugk haben viele Szenen umgestellt, sie haben das Fragmentarische nicht nur betont, sondern weiter entwickelt und die Szenen zu Kürzestsituationen verknappt. Zudem haben sie von Büchners zwanzig Personen kaum die Hälfte übrig gelassen, an deren Verkörperung sich nur fünf Schauspieler machen.

    All dies ist mit großer dramaturgischer Kunstfertigkeit gemacht. Hilke Altefrohne wirft als Spielleiterin mit Frack und zart angedeutetem Bart zu Beginn eine Pferdemaske für die Jahrmarktsszene mit dem dressierten Pferd auf die Bühne und gibt das Motto vor: "Sehn sie die Kreatur, wie Gott gemacht: nichts, nichts, nichts." Diese Ausruferin, wie alle oft mit dem Mikrofon hantierend, kommentiert, zitiert, weist an, fragt nach und flüstert ein und zieht alle in ihre traurigen Erkenntnislieder hinein:

    "Auf der Welt ist kein Bestand, wir müssen alle sterben, das ist uns wohl bekannt."

    Der dunkelhäutige Michael Klammer ist ein lieb verwirrter Woyzeck, kein "offenes Rasiermesser", und Robert Kuchenbuchs Tambourmajor, bei Büchner "ein Kerl wie ein Baum", ist kein strahlendes, sondern ein eher unscheinbares, schmächtiges Mannsbild, das immer redet, zum Beispiel davon, dass es seinen prächtigen Federbusch holen werde, während Julischka Eichel als Marie, mit einer umgehängten Babypuppe und mit langen Kunsthaaren herumtobend, vor allem ihre Augen blitzen lässt. Sie alle sind weniger Figuren als Ideenverkörperer und Teil eines vielstimmigen öffentlichen Chores, der das "Märchen vom armen Kind", verteilt im Raum, dem Publikum vorträgt, eines Chores, der auf dem Jahrmarkt "Ein Jäger aus der Pfalz" oder ein schwermütiges Lied erklingen lässt:

    "Erleiden sei all mein Gewinst, erleiden sei mein Gottesdienst."

    Es gibt manch schöne Szene, so, wenn Marie über die Weite des Raums vergeblich ihre Arme für Woyzeck ausstreckt und flehend ruft "Rühr mich an, Franz", oder, wenn Woyzeck sein Geld, wie in einer Stafette, letztlich vom Konkurrenten, dem Major bekommt. Doch insgesamt verdeutlicht oder verdichtet die dramaturgische Einrichtung keinen Aspekt des Stückes, dessen Strukturen und Figuren nur dem klar werden, der das Stück genau kennt, während andere, und es waren ihrer viele in der Premiere, deutlich Verständnisprobleme bekommen. Da außer den Darstellern von Woyzeck und Marie alle anderen mehrere Rollen spielen, werden zum Beispiel die Haltungen und Handlungen des Doktors und des Hauptmanns sogar bis zur Undeutlichkeit verwischt.

    Schön gedacht ist dann der Schluss: da stehen Woyzeck und Marie sich auf zwei Podesten gegenüber, und Woyzeck tötet sie nicht mit dem Messer, sondern mit seinen verzweifelten Worten, bis der Eiserne Vorhang zwischen ihnen herunter geht.

    Was die Inszenierung besitzt, sind ein Konzept, etliche schöne Einzelszenen und viele Aha-Momente für den Büchner-Kenner. Was der Inszenierung aber fehlt, ist nicht nur Büchners Poesie, sondern auch Spannung, Stringenz und allgemeine Verständlichkeit.

    Info:

    Maxim Gorki Theater