"Die Form des Briefes erlaubt eine große Unmittelbarkeit, man tritt direkt mit der Figur in Kontakt", erläutert Dacia Mariani. "Heutzutage ist diese Form ungewöhnlich, man benutzt die zweite Person sehr selten, eher die dritte oder die erste. Aber der Gebrauch der zweiten Person gibt dem Schriftsteller bestimmte Freiheiten, und für diese Geschichte wollte ich das Moment des Unmittelbaren benutzen." Dacia Maraini, die sich in ihrer Heldin Vera selbst porträtiert, hebt auch zum Leser jegliche Distanz auf und versetzt ihn in die Position der Empfängerin Flavia. Sieben Jahre lang, zwischen 1988 und 1995, schreibt die Ältere der Jüngeren ausführliche Briefe. Es sind Zeugnisse ihres Alltagslebens: Die fiktive Verfasserin Vera verknüpft Anekdoten von Mäuseinvasionen in ihrem Landhaus mit Episoden aus ihrer Kindheit, sie erzählt von der Liebe zu Edoardo, beschreibt Freunde und Verwandte und versucht immer wieder, den Zauber von Flavias Familie einzufangen. Flavias Eltern und Großeltern sind ebenso wie Edoardo Musiker, und Edoardo hat Vera auch mit seinem Geigenspiel erobert: mit den Partien für Violine in Mendelssohns Klaviertrio in d-Moll und in Mozarts Quintett in A-Dur und mit der Chaconne von Bach.
"Über Musik zu schreiben, war für mich eine Herausforderung, denn Literatur und Musik miteinander zu verbinden ist sehr, sehr schwierig. Thomas Mann hat das im Doktor Faustus gemacht, Proust hat die berühmte Sonate von Vinteuil beschrieben, aber in der Literatur ist das eher eine Seltenheit. Musik und Literatur sind so verschieden, daß sie sich auszuschließen scheinen. Von einer Sonate zu erzählen, ist keine leichte Aufgabe. Man muß mit Metaphern arbeiten. Da die Empfängerin ein Kind ist, konnte ich Metaphern aus der Tierwelt benutzen, wie die Schlange und den Bären. Ich habe mich bemüht, die Musik auf diese Weise zu versinnbildlichen." Dacia Maraini macht sich die figurative Wahrnehmung des Kindes zu eigen und gebraucht sie als stilistisches Prinzip: Da erhebt sich die Klarinette wie eine Schlange und züngelt, ohne zuzubeißen, die Geigen stoßen spitze Vogelschreie aus, der erste Satz des Mendelssohn-Trios klingt so, als sausten kleine Boote mit geblähten Segeln aufs offene Meer hinaus. Maraini weiß um die Gefahr einer allzu bildlichen Sprache und überfrachtet Veras Briefe nicht mit Metaphern, trotzdem irritiert die stilisierte Naivität der Beschreibungen mitunter. Der zärtliche und behutsame Tonfall, den die Heldin der kleinen Flavia gegenüber anschlägt, mildert andererseits die Grausamkeit trauriger Erfahrungen. Denn auch davon erzählt die Ältere in ihren Briefen.
"Kinder haben die Gabe, Empfindungen sehr stark wahrzunehmen, stärker sogar als Erwachsene", so Mariani. "Sie sind sehr einfühlsam. Deshalb braucht man einem Kind gegenüber nicht so zu tun, als sei die Welt nur schön und bunt, als sei alles ganz einfach. Ein Kind weiß sehr genau, daß es Schmerzen, Trennungen und den Tod gibt. Es ist also besser, offen darüber zu sprechen und auf die furchtbaren Dingen ebenso wie auf die schönen aufmerksam zu machen." Damit umreißt Dacia Maraini die Philosophie ihrer Heldin: Vera läßt in ihren Briefen die Liebe zu Edoardo aufleben und spricht gleichzeitig von ihrer Vergänglichkeit, sie schildert die Krankheit und den Tod ihrer jüngeren Schwester Akiko und benennt ihre Verzweiflung und Trauer. Die Briefe sind nicht nur an Flavia gerichtet.
"Jeder Mensch besitzt ein inneres Kind, einen Anteil, der niemals erwachsen wird. Die Hinwendung zu diesem Kind kann auf einen tatsächlich existierenden Menschen projiziert werden, der außerhalb der eigenen Person steht, aber es handelt sich auch um ein Gespräch mit dem eigenen Ich, mit dem kindlichen Ich." Die Protagonistin kümmert sich also über den Umweg der Briefe an Flavia um ihr inneres Kind und setzt sich mit ihrer Vergangenheit auseinander. Man muß für derartige Zwiegespräche schon etwas übrig haben, andernfalls geht einem die autobiographische Revue rasch auf die Nerven. Doch ganz so schlicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist Dacia Marainis Roman nicht. Dolce per sé lautet der Titel im Original, und damit zitiert Maraini eines der bekanntesten Gedichte der italienischen Literaturgeschichte: "Le Ricordanze", "Die Erinnerungen" von Giacomo Leopardi. Der große Lyriker der italienischen Romantik trauert in "Le Ricordanze" um die verlorene Jugend und beschreibt das Wesen der Erinnerung: "Dolce per sé; ma con dolor sottentra/ il pensier del presente, un van desio/ del passato", "Süß, ja; doch gleich mit Schmerzen denk/ ich auch der Gegenwart, begehr umsonst Vergangenes". Marainis alter ego Vera macht genau diese Erfahrung: Ihre Gegenwart hat etwas Bittersüßes, weil sie von der Erinnerung an das Verlorene durchtränkt ist. Die Vergangenheit scheint die wirklichere, die wahrere Zeit gewesen zu sein, aber sie ist eben nur noch in der Erinnerung lebendig. In ihrem ersten Brief an Flavia paraphrasiert Vera nicht nur Leopardi, sondern vergleicht sich auch mit Lots Frau aus der Bibel.
"Lots Frau dreht sich um, um Sodom zu betrachten und erstarrt zur Salzsäule. Sie mißachtet eine göttliche Weisung und verstößt gegen das Verbot, zurückzuschauen. Vielleicht hat sie sich nicht nur aus einfältiger Neugierde umgedreht. Es könnte auch ein anderes Gefühl gewesen sein: Liebe zu ihrer Stadt, Qual, weil Sodom verbrennt und zerstört wird. Es ist eine sehr grausame Entscheidung von Gott. Eine schuldige Stadt wird zerstört, aber nicht alles in dieser Stadt - die Tiere, die Kinder - kann von dieser Schuld beladen sein. Der Blick von Lots Frau hat also auch etwas Zärtliches, erfüllt von einer Sehnsucht nach der Vergangenheit, dem, was vorbei ist und nun verschwindet. Ich denke, Schreiben ist genau wie das, was Lots Frau macht: sich umdrehen und die brennende Stadt betrachten - vielleicht liegt in dieser rückwärtsgewandten Haltung etwas Verbotenes, aber sie ist der Anfang der Literatur." In die Erinnerung einzutauchen und auf ihr zu beharren, kann auch eine lähmende Wirkung entfalten, wie das Schicksal der biblischen Gestalt zeigt. Die Kunst ist, sich von der Erinnerung beleben zu lassen, ohne sich in ihr zu verlieren. Vera zelebriert in den Briefen den Abschied von einer Epoche ihres Lebens und findet über die Briefe wieder in die Gegenwart zurück.
Nachdenklichkeiten über die Liebe, das Alter und den Tod, Zitate von Goethe, Proust, Leopardi und Pessoa, knappe Theorien über den Charakter der Weiblichkeit - all das bietet Dacia Maraini in ihrem neuen Roman Liebe Flavia. Die Lektüre der Skizzen und Anekdoten ist kurzweilig, der Gestus oft anrührend, und Liebhaber literarischer Sammelsurien kommen ebenso wie leidenschaftliche Briefempfänger ganz bestimmt auf ihre Kosten. Aber allzu häufig ähnelt Marainis Buch einem Kompendium von Lebensweisheiten mit etwas zu viel dolcezza.
"Über Musik zu schreiben, war für mich eine Herausforderung, denn Literatur und Musik miteinander zu verbinden ist sehr, sehr schwierig. Thomas Mann hat das im Doktor Faustus gemacht, Proust hat die berühmte Sonate von Vinteuil beschrieben, aber in der Literatur ist das eher eine Seltenheit. Musik und Literatur sind so verschieden, daß sie sich auszuschließen scheinen. Von einer Sonate zu erzählen, ist keine leichte Aufgabe. Man muß mit Metaphern arbeiten. Da die Empfängerin ein Kind ist, konnte ich Metaphern aus der Tierwelt benutzen, wie die Schlange und den Bären. Ich habe mich bemüht, die Musik auf diese Weise zu versinnbildlichen." Dacia Maraini macht sich die figurative Wahrnehmung des Kindes zu eigen und gebraucht sie als stilistisches Prinzip: Da erhebt sich die Klarinette wie eine Schlange und züngelt, ohne zuzubeißen, die Geigen stoßen spitze Vogelschreie aus, der erste Satz des Mendelssohn-Trios klingt so, als sausten kleine Boote mit geblähten Segeln aufs offene Meer hinaus. Maraini weiß um die Gefahr einer allzu bildlichen Sprache und überfrachtet Veras Briefe nicht mit Metaphern, trotzdem irritiert die stilisierte Naivität der Beschreibungen mitunter. Der zärtliche und behutsame Tonfall, den die Heldin der kleinen Flavia gegenüber anschlägt, mildert andererseits die Grausamkeit trauriger Erfahrungen. Denn auch davon erzählt die Ältere in ihren Briefen.
"Kinder haben die Gabe, Empfindungen sehr stark wahrzunehmen, stärker sogar als Erwachsene", so Mariani. "Sie sind sehr einfühlsam. Deshalb braucht man einem Kind gegenüber nicht so zu tun, als sei die Welt nur schön und bunt, als sei alles ganz einfach. Ein Kind weiß sehr genau, daß es Schmerzen, Trennungen und den Tod gibt. Es ist also besser, offen darüber zu sprechen und auf die furchtbaren Dingen ebenso wie auf die schönen aufmerksam zu machen." Damit umreißt Dacia Maraini die Philosophie ihrer Heldin: Vera läßt in ihren Briefen die Liebe zu Edoardo aufleben und spricht gleichzeitig von ihrer Vergänglichkeit, sie schildert die Krankheit und den Tod ihrer jüngeren Schwester Akiko und benennt ihre Verzweiflung und Trauer. Die Briefe sind nicht nur an Flavia gerichtet.
"Jeder Mensch besitzt ein inneres Kind, einen Anteil, der niemals erwachsen wird. Die Hinwendung zu diesem Kind kann auf einen tatsächlich existierenden Menschen projiziert werden, der außerhalb der eigenen Person steht, aber es handelt sich auch um ein Gespräch mit dem eigenen Ich, mit dem kindlichen Ich." Die Protagonistin kümmert sich also über den Umweg der Briefe an Flavia um ihr inneres Kind und setzt sich mit ihrer Vergangenheit auseinander. Man muß für derartige Zwiegespräche schon etwas übrig haben, andernfalls geht einem die autobiographische Revue rasch auf die Nerven. Doch ganz so schlicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist Dacia Marainis Roman nicht. Dolce per sé lautet der Titel im Original, und damit zitiert Maraini eines der bekanntesten Gedichte der italienischen Literaturgeschichte: "Le Ricordanze", "Die Erinnerungen" von Giacomo Leopardi. Der große Lyriker der italienischen Romantik trauert in "Le Ricordanze" um die verlorene Jugend und beschreibt das Wesen der Erinnerung: "Dolce per sé; ma con dolor sottentra/ il pensier del presente, un van desio/ del passato", "Süß, ja; doch gleich mit Schmerzen denk/ ich auch der Gegenwart, begehr umsonst Vergangenes". Marainis alter ego Vera macht genau diese Erfahrung: Ihre Gegenwart hat etwas Bittersüßes, weil sie von der Erinnerung an das Verlorene durchtränkt ist. Die Vergangenheit scheint die wirklichere, die wahrere Zeit gewesen zu sein, aber sie ist eben nur noch in der Erinnerung lebendig. In ihrem ersten Brief an Flavia paraphrasiert Vera nicht nur Leopardi, sondern vergleicht sich auch mit Lots Frau aus der Bibel.
"Lots Frau dreht sich um, um Sodom zu betrachten und erstarrt zur Salzsäule. Sie mißachtet eine göttliche Weisung und verstößt gegen das Verbot, zurückzuschauen. Vielleicht hat sie sich nicht nur aus einfältiger Neugierde umgedreht. Es könnte auch ein anderes Gefühl gewesen sein: Liebe zu ihrer Stadt, Qual, weil Sodom verbrennt und zerstört wird. Es ist eine sehr grausame Entscheidung von Gott. Eine schuldige Stadt wird zerstört, aber nicht alles in dieser Stadt - die Tiere, die Kinder - kann von dieser Schuld beladen sein. Der Blick von Lots Frau hat also auch etwas Zärtliches, erfüllt von einer Sehnsucht nach der Vergangenheit, dem, was vorbei ist und nun verschwindet. Ich denke, Schreiben ist genau wie das, was Lots Frau macht: sich umdrehen und die brennende Stadt betrachten - vielleicht liegt in dieser rückwärtsgewandten Haltung etwas Verbotenes, aber sie ist der Anfang der Literatur." In die Erinnerung einzutauchen und auf ihr zu beharren, kann auch eine lähmende Wirkung entfalten, wie das Schicksal der biblischen Gestalt zeigt. Die Kunst ist, sich von der Erinnerung beleben zu lassen, ohne sich in ihr zu verlieren. Vera zelebriert in den Briefen den Abschied von einer Epoche ihres Lebens und findet über die Briefe wieder in die Gegenwart zurück.
Nachdenklichkeiten über die Liebe, das Alter und den Tod, Zitate von Goethe, Proust, Leopardi und Pessoa, knappe Theorien über den Charakter der Weiblichkeit - all das bietet Dacia Maraini in ihrem neuen Roman Liebe Flavia. Die Lektüre der Skizzen und Anekdoten ist kurzweilig, der Gestus oft anrührend, und Liebhaber literarischer Sammelsurien kommen ebenso wie leidenschaftliche Briefempfänger ganz bestimmt auf ihre Kosten. Aber allzu häufig ähnelt Marainis Buch einem Kompendium von Lebensweisheiten mit etwas zu viel dolcezza.