Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Liebe, Hass und Schuldgefühle

Andreas Schäfer erzählt eine Familiengeschichte, die auf beklemmende Art vom Zusammenbruch eines Systems erzählt: Jakob wurde ermordet - und seitdem bestimmt der abwesende älteste Sohn die Beziehungskonstellationen in der Familie.

Von Maike Albath | 04.05.2010
    Eine Frau wacht nachts auf und entdeckt, dass die andere Hälfte des Ehebettes leer ist. Seit dem Tod ihres Sohnes Jakob macht ihr Mann manchmal merkwürdige Dinge. Er hebt um zwei Uhr früh im Garten Rosenstöcke aus. Oder arbeitet an seinen Plänen für einen Segelflugplatz. Ruth, so heißt die Frau, und ihr Mann Lothar können kaum mehr miteinander reden. Jakob wurde ermordet, und die Gewalt seines Todes hat die zurück gebliebenen Eltern in eine Schreckstarre versetzt. Auch der jüngere Bruder Merten, der nach dem Abitur ziellos herum jobbt, ist davon angesteckt. Um diese Sprachlosigkeit kreist der neue Roman von Andreas Schäfer.

    "Ich finde, dass das Schweigen in dieser Familie sehr wichtig ist. Es gibt ein harmonisches Schweigen. Am Ende, als Ruth ihren Mann beschreibt, oder wie es am Anfang war, dass sein Schweigen den Dingen nichts wegnimmt und nicht ein Fehlen beschreibt, sondern dem Zusammensein etwas Drittes hinzufügt, irgendetwas Vollständiges, es ist ein weises Schweigen, wenn ich das mal so beschreiben darf. Mit dem Drama, mit dem Verlust des Sohnes, verändert sich das Schweigen, es wird zu einer Art Brüten, es wird zu einer Unfähigkeit des Sprechens."
    Der Berliner Schriftsteller und Publizist Andreas Schäfer legt mit seinem zweiten Roman Wir vier eine Familiengeschichte vor, die auf beklemmende Art und Weise vom Zusammenbruch eines Systems erzählt. Der abwesende Jakob bestimmt die Beziehungskonstellationen. Sein Vater, Pilot von Beruf, sah in dem älteren Sohn ein Abbild der eigenen Stärken. Dass Jakob aus Draufgängerlust in ein halbkriminelles Milieu abgeglitten war, verleugnete er. Der Bruder Merten rivalisierte mit dem Älteren. Weil er mehr über Jakobs Geheimnisse wusste als die Eltern, steckt er jetzt in einem tiefen Loyalitätskonflikt. Die Mutter Ruth fühlt sich von allen abgeschnitten und in ihrer Trauer isoliert. Erst als sie aktiv wird, verlagern sich die Gewichte innerhalb der Familie. Die tiefen Abgründe schwingen in jedem Satz von Wir vier mit, aber Schäfer verzichtet auf Deutungen oder Kommentare.

    "Es ist ein großer Intensitätsraum, der in einer Familie automatisch schon gegeben ist. Der große Subtext, der tiefe Subtext, der Raum dessen, was immer mitschwingt, gewählte Verbundenheit und nicht gewählte. Das Ineinandergreifen von Aktivität und Passivität, das fasziniert mich."
    Schäfer trumpft nicht mit epischer Breite auf, sondern arbeitet mit knappen Dialogen, einer pointierten, spröden Sprache und bedachtsam eingefügten bildlichen Vergleichen, die meistens einen emotionalen Zustand vermitteln und eine poetische Wirkung erzielen. Erinnerungen lösen zum Beispiel "einen kalten Nebel in der Brust" aus, Kopfschmerz ähnelt einer "schmerzhaften Kralle", in dem gespenstischen Schwimmbad des Elternhauses sieht das Licht im Wasser so aus wie "weiße Finger". Auf den Kern seiner Geschichte stieß Andreas Schäfer in einem Sachbuch.

    "Ich habe ein Buch von Studs Terkel gelesen, das ist ein amerikanischer Journalist, der vor Kurzem gestorben ist, und der hat zum Ende seines Lebens ein Buch herausgegeben, und in diesem Buch gibt es einen Bericht von einer Mutter, deren Sohn umgebracht wurde, und die in einer bestimmten Phase ihrer Trauer gezwungen wurde, ins Gefängnis zu gehen und sich mit dem Mörder zu treffen, und diesen Mörder dann auch gewissermaßen adoptiert hat. Als ich das gelesen habe, hat mich die Geschichte wahnsinnig getroffen und nicht mehr losgelassen."

    Ruths Kontaktaufnahme mit dem Mörder ihres Sohnes bildet den dramaturgischen Knotenpunkt des Romans, um den sich die Nebenhandlungen gruppieren wie Eisenspäne um einen Magneten. Die Spannung von Wir vier entsteht aus der Gegenläufigkeit der Ebenen: Es geht um existenzielle Fragen, tatsächliche Geschehnisse gibt es aber nur wenige. Dennoch ist der archaische Untergrund aus Liebe, Hass und vernichtenden Schuldgefühlen dauernd spürbar. Als dann etwas passiert, löst sich das starre Gefüge. Die Mutter sucht den Mörder im Gefängnis auf und konfrontiert ihn mit seiner Verantwortung. Merten findet Kontakt zu seinem Vater. Und Lothar kauft ein Grundstück, um einen Segelflugplatz einzurichten. Beim Fliegen stellt sich für ihn eine Harmonie mit den Elementen her.

    "Es ist so, ich selbst komme aus Frankfurt, besser gesagt, aus einem Vorort von Frankfurt. Der Flughafen war immer in unserer Nähe und der Flughafen hat auf mich auch immer eine große Faszination ausgeübt. Diese weite Welt, die anwesend war, die gleichzeitig aber auch irreal war, die Bedeutsamkeit, die diese heiligen Hallen hatten, ich weiß noch genau, dieser Noppenboden, auf dem dann die Rollwagen gefahren sind, dieses Geräusch, die ganzen Männer, die da waren, das hatte, als ich Kind war, schon etwas sehr Faszinierendes. Als ich wusste, wovon die Geschichte handelt, musste ich mich fragen, wo spielt sie, an welchem Ort, und dann als Nächstes, welchen Beruf hat als Erstes der Lothar. Das hat sich so ergeben. Es passt auch sehr gut, weil, dieses Pilotsein hat ja auch eine Tendenz zur Distanzierung, sich selbst in einer Art Zwischenreich anzusiedeln, weder hier noch dort. Das passt ganz gut zu Lothars Art. Man muss funktionieren. Das erlebt der Lothar bis zu einem bestimmten Punkt als entlastend. Das Ritualisierte der der Arbeit, dass die Handlungsabläufe sehr stark vorgegeben sind, dass es Prüfungen gibt ständig. Es ist natürlich auch eine Art Entindividualisierungsmaschinerie, die da vor sich geht."
    Andreas Schäfer verleiht seinen Helden eine markante Schärfe, und jede seiner Figuren macht im Verlauf der Handlung eine Entwicklung durch. Geprägt von amerikanischen Erzählern wie Richard Yates, Richard Ford oder Paula Fox interessiert sich Schäfer für die Grammatik von Familienbeziehungen und die Ambivalenz tiefer Bindungen. Die literarische Arbeit bestimmt nur einen Teil seines Alltags. Den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdient Andreas Schäfer als Theaterkritiker beim Berliner Tagesspiegel.

    "Ich kann nichts Positives über den Journalismus sagen. Nein, es ist so, der Journalismus liefert das Kostüm einer bürgerlichen Existenz. Das hat viele Vorteile. Man lernt interessante Menschen kennen. Man gerät in interessante Situationen. Aber eigentlich ist Journalismus eine Art Übergangsprofession. Irgendwann erübrigt sich das. Ich kenne eigentlich auch Journalisten, wo sich die journalistische Neugier verlagert in Machtansprüche, in irgendeinem Alter will man Chef sein, in Strukturen Erfolg haben, aber dieser journalistische Impetus ist eigentlich, so erlebe ich das, eine vorläufige Übergangsneugier, die zumindest für mich wichtig war am Anfang, und jetzt habe ich das Gefühl, ich komme tiefer, wenn ich am Schreibtisch sitze und nach innen gehe und nicht so sehr nach draußen."
    Makellose Geschlossenheit und Konzentration sind das Ergebnis. Ein bisschen erinnert Schäfers Roman Wir vier an ein Gemälde von Edward Hopper: eine perfekte Form mit einer untergründigen Spannung, die kurz vor der Explosion zu stehen scheint.

    Andreas Schäfer: "Wir vier". Roman. Dumont Verlag Köln 2010, 190 Seiten, 18, 95 Euro