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Liebe in den Zeiten von Schengen

Für die meisten Europäer ist es heute so leicht wie nie zuvor, durch Europa zu reisen und sich für längere Zeit in einem anderen Land aufzuhalten. Das Schengener Abkommen regelt die Reisefreiheit. Für Bürger jener Staaten, die nicht dazu gehören, ist es dagegen schwierig, ein Visum für EU-Staaten zu bekommen, selbst wenn völlig klar ist, dass sie weder Schmuggler noch Schwarzarbeiter sind, sondern sie die Liebe reisen lässt.

Von Martin Reiner | 11.05.2006
    Aus dem Fenster fällt der Blick auf einen Handwerker, der im Hinterhof eine Steinplatte ausmisst. In ihrer Berliner Altbauwohnung greift Henriette Mögel zum Wasserkocher und brüht Tee auf. Henriette Mögel lässt sich lieber Jette nennen. Die dunklen Haare hat sie mit einem Gummi zusammengefasst. An ihren Fingern silberne Ringe. Jette ist 21 Jahre alt und seit gut zwei Jahren mit dem Russen Mitja zusammen. Leider kann der im Moment nicht bei ihr sein, Henriette telefoniert fast täglich mit ihm in St. Petersburg.

    "Das ist schon kompliziert, also ich kenne das zum Beispiel von Freunden, die, weiß ich nicht jetzt, Deutschland oder Belgien oder so, die sich dann einfach mal, wenn jetzt was ist, in Zug, Bus oder weiß ich was setzen könnten, und da hinfahren könnten, und bei uns geht das theoretisch nicht. Wenn ich jetzt mal sage, ich muss jetzt mal ganz schnell oder nur für ein Wochenende hin, das geht einfach nicht."

    Zurzeit möchte Mitja Henriette in Berlin besuchen. Dafür braucht er ein Visum. Das bekommt er nur, wenn er eine Einladung hat. Die kann ihm aber nicht seine 21-jährige Freundin Henriette schicken, denn die ist gerade mit der Schule fertig geworden und hat kein festes Einkommen. Mitja Iwanow steht in der Warteschlange vor dem deutschen Generalkonsulat in St. Petersburg. Er hat eine Einladung aus Berlin dabei. Nicht von Henriette, sondern von ihrer Mutter. Mitja fällt hier auf. Der hochgewachsene junge Mann mit dem welligen blonden Haar ist erst 23 und damit deutlich der Jüngste. Die meisten anderen Wartenden wollen in Deutschland Verwandte besuchen oder eine Geschäftsreise machen. Mitja geht über die Straße auf den Grünstreifen, es sollen nicht alle mithören. Vor dem Konsulat hat er schon oft angestanden.

    "Als ich vor anderthalb Jahren zu meiner Liebsten nach Berlin fahren wollte, hatte ich auch eine Einladung von ihrer Mutter. Die Frau, die sich den Visumsantrag angeguckt hat, hat mich gefragt, welche Beziehung ich zu dieser Frau in Deutschland habe. Sie hat gesagt, sie glaube nicht an eine solche Liebe. Die Frau sei doch älter als 40 Jahre. 'Was könnt ihr denn für Sex haben?', hat sie mich gefragt. Ich war sehr sauer, habe aber nichts gesagt, weil ich weiß, dass man im Konsulat niemanden beleidigen darf. Das ist wie ein Gespräch mit der Polizei. Du tust so, als sei alles normal, und kannst aber denken, was du willst. Und da haben sie mir auch das Visum verweigert. Ich habe schon oft gesehen, dass Leute nach solchen Gesprächen weinend aus dem Konsulat gekommen sind, vor allem Frauen. Jedes Mal, wenn ich hier bin, sehe ich so etwas."

    Nachdem Jettes Mutter mit dem Konsulat telefoniert hatte, bekam Mitja dann schließlich doch noch sein Visum, wenn auch mit Verzögerung und nur für wenige Tage. Mitja tritt ein paar Mal fest auf den Boden auf. Trotz seiner warmen Winterschuhe bekommt er langsam kalte Füße. In die offizielle Politik hat Mitja nur wenig Vertrauen.

    "Als ich vor einem Jahr in Berlin war, saßen wir in der Küche und hörten im Radio in den Nachrichten, dass bei einem Treffen von Putin und Schröder verkündet wurde, das Visaregime würde erleichtert werden. Das Zynischste daran ist, dass es seit diesen angeblichen Erleichterungen schwieriger geworden ist, ein Visum zu bekommen, es gibt viel mehr abgelehnte Visumsanträge. Ich weiß das genau, weil ich das mitbekomme, wenn ich in der Schlange vor dem Konsulat stehe. Ich stehe hier nun schon den dritten Tag. Vielleicht kriegen russische Beamte jetzt leichter eines, aber für einfache Russen ist es keinesfalls einfacher geworden."

    Jette hat sich neuen Tee eingeschenkt, der Handwerker sägt im Hinterhof eine weitere Platte zurecht und verschwindet im Treppenhaus.

    Kennen gelernt hat sie Mitja, als sie in der 11. Klasse ein Austauschjahr in St. Petersburg verbrachte. Inzwischen war sie schon sieben Mal dort. Als Deutsche ist es für Jette leichter, nach Russland zu reisen, als umgekehrt für Mitja nach Berlin. Länger als eine Stunde musste sie an der Russischen Botschaft noch nie warten. Allerdings musste sie den Visumsantrag auch schon mal ein zweites Mal ausfüllen, weil der Beamte ihre Schrift für unleserlich erklärte. Jette will gar nicht daran denken, was wäre, wenn ihre Eltern die Beziehung zu Mitja finanziell nicht unterstützen würden. Das lange Getrenntsein sei manchmal nur schwer zu ertragen.

    "Da gab es auch Phasen, wo ich wirklich keine Lust hatte, mit anderen, mit Pärchen irgendwo hinzugehen, weil ich es schrecklich fand, weil die saßen da immer zu zweit und ich hätte daneben gesessen. Es ist schon, dass ich manchmal daneben stand: Könnt Ihr jetzt hier mal aufhören vor mir rumzuknutschen! Das will ich gar nicht sehen."

    Vier Wochen später hat Mitja sein Visum bekommen und ist in Berlin. Gemeinsam mit Jette nutzt er den kalten, aber sonnigen Tag für einen kleinen Spaziergang im Park. Mit dem Visum kann Mitja maximal einen Monat in Deutschland bleiben. Dann ist für das nächste Vierteljahr keine Einreise mehr möglich. Jette ist sich sicher, dass sie und Mitja auch in fünf Jahren noch zusammen sein werden. Die beiden haben auch schon mal darüber nachgedacht zu heiraten.

    "Aber wir haben uns ehrlich gesagt noch nicht so wirklich um diesen ganzen Behördenkram gekümmert, der da so zugehört. Wenn wir heiraten würden zum Beispiel und hier wohnen würden, bräuchte ich trotzdem ein Visum, um hinzukommen."