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Liebe, Tod, und immer so weiter?

Eine große innere Spannung bekommt die Szene, wenn im vierten Akt der sonst helle Raum sich plötzlich verdunkelt. Das Volk, das den Einzug der Stierkämpfer beobachtet hat, fällt wie niedergemäht zu Boden, und nur noch zwei Figuren ragen heraus: Carmen und Escamillo.

Von Georg-Friedrich Kühn |
    Offen erklären sie einander ihre Liebe, gehen aufeinander zu und aneinander vorbei. Das Duell dann zwischen Carmen und ihrem vorigen Liebhaber Don José, dem einzigen, der sie wirklich liebte bis zur Verzweiflung, und den auch sie wirklich liebte, ist wie ein Stierkampf.

    Carmens roter Schaal, der als gleichsam Kampf-Zeichen schon zu Beginn auf die Szene fällt, bildet zunächst eine Grenzlinie zwischen beiden, die José aber schließlich nicht mehr zurückhält.

    Kusej Eigentlich ist es faszinierend, dass diese Frau paradoxerweise für etwas, was wir alle wollen, nämlich die Freiheit, alles rundherum tötet oder auslöscht. Wenn etwas so dogmatisch wird und auch so schön und interessant gleichzeitig, ist es auf der anderen Seite tödlich für alle Beteiligten. Für alle Männer oder die auch lieben und die auf einer menschlichen Ebene verhaftet sind mit dieser Unfreiheit. Für mich ist Carmen auch so etwas wie ein weiblicher Don Giovanni.

    So Regisseur Martin Kusej zu seiner Sicht auf diese Figur. Die Oper spielt bei ihm und seinem Bühnenbildner Jens Kilian nicht eigentlich in Sevilla, sondern in einer Art Über-Mahagonny. Die Tabakfabrik ist ein im Wüsten-Sand halb versunkenes Bordell, das Schmugglernest des Lillas Pastia ein Wasserturm mit Planschbecken.

    Die Carmen-Vertrauten Mercédès und Frasquita suhlen sich darin, verspritzen das kostbare Nass einfach so, der Kellner stolpert beim Früchteservieren schon mal in den Sand. Carmen selbst sitzt meist abweisend und stumm an diesem "Ort der Verschwendung", wie Kusej ihn nennt.

    Carmen wartet auf den Einen. Denjenigen, der ihr zur Flucht verhalf, der dafür selbst seine Freiheit riskierte. Für ihn tanzt sie, als er endlich kommt, ganz allein. In der Zwischenplattform des Wasserturms flackert sie da wie ein Flämmchen am Nachthimmel.

    Dass sie ihn bald schon von sich wegstößt, ihn austauscht gegen den aufgeblasenen Schönling Escamillo - sie spürt, dass er ihre Geschäfte stört, und ihrem Begriff von Freiheit kann er nicht folgen.

    Als anarchisch-berechnende kühle Geschäftsfrau wie aus dem Werbe-Prospekt von heute hat Kusej diese Carmen gezeichnet. Mit ihren Schmuggler-Kumpanen bewacht sie ihr Lager in einer Kirchenruine, feiert dort schwarze Messen bis zum Showdown der beiden Männer.

    Marina Domashenko ist diese Carmen. Mit ihrer eher gutturalen Tongebung fällt sie freilich etwas ab gegenüber dem wunderbar biegsamen Tenor von Rolando Villazón als José und auch der mütterlich schwärmerischen Kindsfreundin Micaëla von Dorothea Röschmann.

    Etwas klischeehaft ist das ihr von Heidi Hackl zugebilligte Outfit im geschlitzten schwarzen Latex und rot gewellten langen Lockenhaaren.
    Das eigentliche Ereignis freilich ist Daniel Barenboim und seine Staatskapelle. Wie Barenboim mit äußerster Delikatesse und Detailbesessenheit diesen sahara-trockenen Bizet-Klang zaubert, sucht Seinesgleichen:

    Dieses Triangel von Afrika, Lateinamerika, und dann zurück nach Paris und von Bizet mit den Augen eines sehr raffinierten französischen kulturellen Kolonialisten - wie die Europäer diese Musik, die etwas Primitives hatte und hat, das muss man deutlich machen. Ich habe von Anfang an gesagt: diesen wunderschönen deutschen Ton können wir zu Hause lassen. Weil es bringt hier Nichts.

    Das Publikum feierte am Ende das gesamte Ensemble, insbesondere aber den Dirigenten und spiritus rector Daniel Barenboim, der mit dieser seiner ersten Carmen einen lang gehegten Kindertraum realisieren konnte.

    Martin Kusej und sein Team mussten einige Buhs einstecken. Zu oft lässt der Regisseur die Sänger an der Rampe allein, zu oft lässt er sie bei ihren Chansons und Arien in ihre Klischees gleiten.

    Man spielt die originale Dialog-Fassung. Der Abend dehnt sich hier dennoch auf fast vier Stunden.