Vordergründig handelt es sich bei "Jugendstil" um einen Roman über die Verstrickungen zweier junger Menschen in die Liebe und die Politik. Er spielt im Budapest des Jahres 1961. Robert Singer wächst bei seiner Großmutter auf. Sein Vater ist tot, die Mutter in eine Nervenanstalt eingeliefert worden. Aus kleinen Verhältnissen stammend, engagiert er sich in der Partei, weil er sich davon bessere Aufstiegschancen verspricht. Er ist Mitglied im Auswahlkomitee für Neuaufnahmen des Jugendverbands in seiner Schule. Bei der Einweihungsfeier des Gagarin-Clubs wird er als Aufpasser in den Gängen der Schule eingeteilt.
In der Nacht der Einweihungsparty kommt es nach einem plötzlichen Stromausfall zu einem Tohuwabohu, in dessen Folge einige Mäntel geklaut werden. Das Licht ging just in dem Augenblick aus, als er sich mit seiner geliebten Ilona in ein leeres Klassenzimmer zurückgezogen hatte, um den lang ersehnten ersten Kuss von ihr zu bekommen.
Die Tat war, wie sich herausstellt, ein Racheakt von Feri K., dessen Antrag um Aufnahme in die Schülergruppe mit der Begründung abgelehnt worden war, dass sein Vater wegen antikommunistischer Umtriebe einige Jahre im Knast gesessen hatte. Nach dieser Absage hasst Feri, dessen Nachname nicht zufällig mit K. beginnt, die Jugendfunktionäre in ihrer Systemkonformität noch mehr. Und da sich unter ihnen relativ viele Juden befinden, wird auch sein antisemitisches Ressentiment geschürt. Beide, Robert als Jude, Feri als Gegner des Systems, sind Außenseiter, und Täter und Opfer zugleich. Beide lösen beim Leser eine Art von Empathie aus.
" Also Verständnis jedenfalls. Weil ich glaube, indem die Menschen, also zumindest meine Romangestalten, nicht einfach Träger einer Ideologie sind, sondern auch Menschen, die persönlich dafür einstehen, was sie vertreten, deswegen kann und muss man sie auch verstehen. Und weil ich in dieser Hinsicht auch zwischen Versionen des Antisemitismus unterscheide, weil: Es gibt in Ungarn Anfang der sechziger Jahre keinen offensiven Antisemitismus, es gibt aber die feine, verlogene und menschenverachtende Art.2"
Den tief im System verankerten heimlichen Antisemitismus bekommt Robert noch von anderer Seite zu spüren. Der Vater seiner Freundin Ilona, ein angesehener Arzt, missbilligt die Verbindung seiner Tochter mit dem jugendlichen Heißsporn und fordert sie auf, sich von ihm zu trennen. Auch er ist kein Kommunist aus Überzeugung, sondern ordnet sich dem System aus opportunistischen Gründen unter, wie es Millionen Ungarn nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes von 1956 taten.
""Dieser Mann ist möglicherweise als hoch dekorierter Professor und angepasster Funktionär in seinem Spital. Er findet an diesem Helden vor allem unannehmbar, dass er unruhig ist, dass er irgendwelchen fanatischen Glauben hat, und diese Unruhe und gewissermaßen auch das Strebertum identifiziert er, der Karrierist in dem kommunistischen Staat ist, identifiziert er mit dem Judentum."
Dalos wäre nicht Dalos, wenn es ihm neben der Liebesgeschichte und der Aversion der beiden jugendlichen Antihelden nicht auch um eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse gehen würde. Er nutzt die persönlichen Ereignisse, um an ihnen die im poststalinistischen Ungarn vorherrschende, systemimmanente Ungerechtigkeit und Menschenverachtung zu exemplifizieren und zu zeigen, wie der einzelne als Rädchen im Getriebe ungewollt zur Stabilisierung des Systems beitrug.
"Diese Verheimlichung war nicht nur für Juden typisch in dieser Zeit, auch für Katholiken, auch für Homosexuelle, manchmal sogar auch für Kommunisten, die anders dachten als die offizielle Partei, das heißt, diese Zeit war voller Geheimnisse, und Geheimnisse sind deswegen interessant, weil hinter ihnen irgendwelche peinlichen Wahrheiten versteckt sind, und ich wollte ein bisschen den Mechanismus zeigen. Natürlich, der Antisemitismus ist für mich jetzt nicht als Ideologie interessant, sondern wie in einem meiner Motto der russische Schriftsteller, der Autor des genialen Werks, das jetzt wieder erschienen ist, 'Leben und Schicksal' …"
… gemeint ist der Schriftsteller Wassili Großmann …
"… in diesem Werk sagt , sag mir, was du an Juden schlecht findest, und ich sage, wer du bist oder welche Eigenschaften dir fehlen. Also ich glaube, alle Vorurteile sind gewissermaßen Urteile über sich selbst."
Der Titel des Romans, "Jugendstil", ist kongenial gewählt. Er bezeichnet zum einen die von Robert bevorzugt behandelte kunsthistorische Epoche, die sich durch Dekors und reiche Ornamentik auszeichnet. Unter ironischen Vorzeichen steht er aber auch für die Forschheit und Selbstgerechtigkeit, mit der eine junge Generation Einfluss und Macht zu erlangen versucht, um die leer werdenden Plätze der Alten möglichst schnell zu besetzen. "Gegenüber der verdammten Vergangenheit und der janusköpfigen Gegenwart verstanden wir uns als Garanten der Zukunft", erinnert sich Robert im Roman.
"Es handelt sich um die erste Nachkriegsgeneration in Ungarn, von der sehr viele, die bereits in diesem System geboren oder aufgewachsen sind, sehr viele meinen, dass jetzt ihre Zeit kommt, dass jetzt alles, was älter ist, weg muss, und sie werden die Welt nach ihrem Antlitz formen, also diese Art von aufstrebender Jugend war natürlich auch bei anderen Diktaturen immer da.
Natürlich ist das in den frühen 60er Jahren nicht mehr das Kaliber von Dramatik wie in den 30ern, aber immer gibt es Generationen, die sich als etwas Besonderes betrachten und die dann allzu leicht zum Opfer aller möglichen Ideologien werden."
Dem eigentlichen Handlungsplot hat Dalos eine Rahmenhandlung vorangestellt, die in unseren Tagen spielt. Robert, der inzwischen stellvertretender Direktor des Instituts für Jugendstil in Wien ist, trifft Feri während eines Besuchs in Budapest zufällig auf der Straße. An seinen Namen kann er sich nicht erinnern. Aber aus Mitleid über das heruntergekommene Outfit des Mannes lädt er ihn zum Mittagessen ein. Als der schließlich seinen Namen nennt, löst das in Robert einen Erinnerungsschub aus, der ihn zurückversetzt in den Herbst 1961. "Mit einer beängstigten Einsicht in die Vergangenheit", wie es heißt, erstehen in ihm die Bilder von seiner ersten Liebe und dem Konflikt mit seinem Mitschüler Feri. Und der Leser, der sich dem Sog des Romans überlässt, befindet sich stets auf dem gleichen Wissensstand wie der Erzähler.
"Ich versuche, dieses Nichtwissen als Sprungbrett auf die eigentliche Geschichte zu verwenden. Meine Schreibtechnik ist eigentlich Erinnerung, zum Glück ist das auch so, dass in meinem Alter das Langzeitgedächtnis besser funktioniert als das Kurzzeitgedächtnis. Und ich glaube sehr oft, wenn ich über diese Vergangenheit schreibe, dass ich jedes Mal die Zeit wiedergewinne oder erobere, das ist der Reiz des Erzählens für den Erzähler selbst."
Unter Verwendung einzelner, exakt recherchierter Tatsachen schreibt Dalos einfach, klar und ausgesprochen feinfühlig über die komplizierten Vorgänge, die solch gefühlsmäßige Verstrickungen in jungen Jahren darstellen. Und obwohl die Menschen wie immer bei ihm im Mittelpunkt stehen, entsteht auch ein mentalitätsgeschichtliches Tableau der Zeit. Sein Raffinement sind die leisen Tönen, ist die Reduktion auf das Wesentliche und eine ausgefeilte stilistische Lakonie, mit der er, changierend zwischen Ironie und Melancholie, eine umso eindringlichere Wirkung erzeugt. Auch sein Schreibgestus ist mit dem Jugendstil zu vergleichen, in dem die Künstler einfache graphische Mittel - Ornamente, Linien oder Schnörkel - einsetzen, um etwas Neues, für Jedermann Verständliches zu schaffen.
"Wie seltsam das alles ist. Hätte ich dich als Juden und Kommunisten nicht gehasst, könnten wir als Menschen sogar Freunde sein", sagt Feri zum Schluss zu Robert - ein Satz, in dem die Tragik einer ganzen Generation zum Ausdruck kommt, die von einem unmenschlichen politischen System um die eigene Biografie gebracht wurde.
György Dalos: Jugendstil
Roman
Rotbuch Verlag Berlin
172 Seiten, 17,90 Euro
In der Nacht der Einweihungsparty kommt es nach einem plötzlichen Stromausfall zu einem Tohuwabohu, in dessen Folge einige Mäntel geklaut werden. Das Licht ging just in dem Augenblick aus, als er sich mit seiner geliebten Ilona in ein leeres Klassenzimmer zurückgezogen hatte, um den lang ersehnten ersten Kuss von ihr zu bekommen.
Die Tat war, wie sich herausstellt, ein Racheakt von Feri K., dessen Antrag um Aufnahme in die Schülergruppe mit der Begründung abgelehnt worden war, dass sein Vater wegen antikommunistischer Umtriebe einige Jahre im Knast gesessen hatte. Nach dieser Absage hasst Feri, dessen Nachname nicht zufällig mit K. beginnt, die Jugendfunktionäre in ihrer Systemkonformität noch mehr. Und da sich unter ihnen relativ viele Juden befinden, wird auch sein antisemitisches Ressentiment geschürt. Beide, Robert als Jude, Feri als Gegner des Systems, sind Außenseiter, und Täter und Opfer zugleich. Beide lösen beim Leser eine Art von Empathie aus.
" Also Verständnis jedenfalls. Weil ich glaube, indem die Menschen, also zumindest meine Romangestalten, nicht einfach Träger einer Ideologie sind, sondern auch Menschen, die persönlich dafür einstehen, was sie vertreten, deswegen kann und muss man sie auch verstehen. Und weil ich in dieser Hinsicht auch zwischen Versionen des Antisemitismus unterscheide, weil: Es gibt in Ungarn Anfang der sechziger Jahre keinen offensiven Antisemitismus, es gibt aber die feine, verlogene und menschenverachtende Art.2"
Den tief im System verankerten heimlichen Antisemitismus bekommt Robert noch von anderer Seite zu spüren. Der Vater seiner Freundin Ilona, ein angesehener Arzt, missbilligt die Verbindung seiner Tochter mit dem jugendlichen Heißsporn und fordert sie auf, sich von ihm zu trennen. Auch er ist kein Kommunist aus Überzeugung, sondern ordnet sich dem System aus opportunistischen Gründen unter, wie es Millionen Ungarn nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes von 1956 taten.
""Dieser Mann ist möglicherweise als hoch dekorierter Professor und angepasster Funktionär in seinem Spital. Er findet an diesem Helden vor allem unannehmbar, dass er unruhig ist, dass er irgendwelchen fanatischen Glauben hat, und diese Unruhe und gewissermaßen auch das Strebertum identifiziert er, der Karrierist in dem kommunistischen Staat ist, identifiziert er mit dem Judentum."
Dalos wäre nicht Dalos, wenn es ihm neben der Liebesgeschichte und der Aversion der beiden jugendlichen Antihelden nicht auch um eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse gehen würde. Er nutzt die persönlichen Ereignisse, um an ihnen die im poststalinistischen Ungarn vorherrschende, systemimmanente Ungerechtigkeit und Menschenverachtung zu exemplifizieren und zu zeigen, wie der einzelne als Rädchen im Getriebe ungewollt zur Stabilisierung des Systems beitrug.
"Diese Verheimlichung war nicht nur für Juden typisch in dieser Zeit, auch für Katholiken, auch für Homosexuelle, manchmal sogar auch für Kommunisten, die anders dachten als die offizielle Partei, das heißt, diese Zeit war voller Geheimnisse, und Geheimnisse sind deswegen interessant, weil hinter ihnen irgendwelche peinlichen Wahrheiten versteckt sind, und ich wollte ein bisschen den Mechanismus zeigen. Natürlich, der Antisemitismus ist für mich jetzt nicht als Ideologie interessant, sondern wie in einem meiner Motto der russische Schriftsteller, der Autor des genialen Werks, das jetzt wieder erschienen ist, 'Leben und Schicksal' …"
… gemeint ist der Schriftsteller Wassili Großmann …
"… in diesem Werk sagt , sag mir, was du an Juden schlecht findest, und ich sage, wer du bist oder welche Eigenschaften dir fehlen. Also ich glaube, alle Vorurteile sind gewissermaßen Urteile über sich selbst."
Der Titel des Romans, "Jugendstil", ist kongenial gewählt. Er bezeichnet zum einen die von Robert bevorzugt behandelte kunsthistorische Epoche, die sich durch Dekors und reiche Ornamentik auszeichnet. Unter ironischen Vorzeichen steht er aber auch für die Forschheit und Selbstgerechtigkeit, mit der eine junge Generation Einfluss und Macht zu erlangen versucht, um die leer werdenden Plätze der Alten möglichst schnell zu besetzen. "Gegenüber der verdammten Vergangenheit und der janusköpfigen Gegenwart verstanden wir uns als Garanten der Zukunft", erinnert sich Robert im Roman.
"Es handelt sich um die erste Nachkriegsgeneration in Ungarn, von der sehr viele, die bereits in diesem System geboren oder aufgewachsen sind, sehr viele meinen, dass jetzt ihre Zeit kommt, dass jetzt alles, was älter ist, weg muss, und sie werden die Welt nach ihrem Antlitz formen, also diese Art von aufstrebender Jugend war natürlich auch bei anderen Diktaturen immer da.
Natürlich ist das in den frühen 60er Jahren nicht mehr das Kaliber von Dramatik wie in den 30ern, aber immer gibt es Generationen, die sich als etwas Besonderes betrachten und die dann allzu leicht zum Opfer aller möglichen Ideologien werden."
Dem eigentlichen Handlungsplot hat Dalos eine Rahmenhandlung vorangestellt, die in unseren Tagen spielt. Robert, der inzwischen stellvertretender Direktor des Instituts für Jugendstil in Wien ist, trifft Feri während eines Besuchs in Budapest zufällig auf der Straße. An seinen Namen kann er sich nicht erinnern. Aber aus Mitleid über das heruntergekommene Outfit des Mannes lädt er ihn zum Mittagessen ein. Als der schließlich seinen Namen nennt, löst das in Robert einen Erinnerungsschub aus, der ihn zurückversetzt in den Herbst 1961. "Mit einer beängstigten Einsicht in die Vergangenheit", wie es heißt, erstehen in ihm die Bilder von seiner ersten Liebe und dem Konflikt mit seinem Mitschüler Feri. Und der Leser, der sich dem Sog des Romans überlässt, befindet sich stets auf dem gleichen Wissensstand wie der Erzähler.
"Ich versuche, dieses Nichtwissen als Sprungbrett auf die eigentliche Geschichte zu verwenden. Meine Schreibtechnik ist eigentlich Erinnerung, zum Glück ist das auch so, dass in meinem Alter das Langzeitgedächtnis besser funktioniert als das Kurzzeitgedächtnis. Und ich glaube sehr oft, wenn ich über diese Vergangenheit schreibe, dass ich jedes Mal die Zeit wiedergewinne oder erobere, das ist der Reiz des Erzählens für den Erzähler selbst."
Unter Verwendung einzelner, exakt recherchierter Tatsachen schreibt Dalos einfach, klar und ausgesprochen feinfühlig über die komplizierten Vorgänge, die solch gefühlsmäßige Verstrickungen in jungen Jahren darstellen. Und obwohl die Menschen wie immer bei ihm im Mittelpunkt stehen, entsteht auch ein mentalitätsgeschichtliches Tableau der Zeit. Sein Raffinement sind die leisen Tönen, ist die Reduktion auf das Wesentliche und eine ausgefeilte stilistische Lakonie, mit der er, changierend zwischen Ironie und Melancholie, eine umso eindringlichere Wirkung erzeugt. Auch sein Schreibgestus ist mit dem Jugendstil zu vergleichen, in dem die Künstler einfache graphische Mittel - Ornamente, Linien oder Schnörkel - einsetzen, um etwas Neues, für Jedermann Verständliches zu schaffen.
"Wie seltsam das alles ist. Hätte ich dich als Juden und Kommunisten nicht gehasst, könnten wir als Menschen sogar Freunde sein", sagt Feri zum Schluss zu Robert - ein Satz, in dem die Tragik einer ganzen Generation zum Ausdruck kommt, die von einem unmenschlichen politischen System um die eigene Biografie gebracht wurde.
György Dalos: Jugendstil
Roman
Rotbuch Verlag Berlin
172 Seiten, 17,90 Euro