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Liebenswert und entstellt

Diese Geschichte wollte die New Yorker Kinderbuch-Illustratorin Raquel Jaramillo schon seit Langem aufschreiben: Ihr Debüt unter dem Pseudonym Raquel J. Palacio heißt "Wunder" und erzählt voller Anteilnahme und kraftvoll von einem ungewöhnlichen Kind und seinem Lebensalltag.

Von Karin Hahn | 28.09.2013
    Die Idee über ein Kind zu schreiben, dessen Kopf und Gesicht extrem entstellt sind, geht auf ein wahres Erlebnis zurück, das Raquel J. Palacio intensiv beschäftigt hat.

    "”Eine kurze Begegnung mit einem kleinen Mädchen hat mich zu "Wunder" inspiriert. Dieses Mädchen hatte ein auffallend deformiertes Gesicht. Eines Tages saß ich in einer Eisdiele mit meinen beiden Söhnen neben ihm. Es war die Reaktion meines Sohnes auf das Mädchen. Er war sehr ängstlich, der jüngere Sohn hat geweint und erschreckend war meine Reaktion auf beider Unsicherheit. Ich habe so schnell ich konnte, diesen Ort mit den Kindern verlassen. Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte die Fähigkeit gehabt, einfach mit diesem kleinen Mädchen zu reden, um meinen Kindern zu zeigen, es gibt keinen Grund Angst zu haben. Aber ich habe die Möglichkeit verpasst und es sofort bedauert. Ich habe mir danach viele Gedanken gemacht, wie es für dieses kleine Mädchen und seine Mutter sein muss, in dieser Welt zurechtzukommen, diese Welt anzusehen und die Welt schaut nicht zurück.""

    Kein Mädchen, sondern der zehnjährige August Pullman ist der Held ihres ersten Kinderbuches geworden. Der Junge ist es gewohnt, dass Erwachsene einen kurzen Moment innehalten und sich abrupt abwenden, wenn sie sein Gesicht erblicken. Kinder sind da ganz anders. Sie laufen schreiend davon oder sagen spontan irgendetwas Unüberlegtes. Ekelfresse, Mutant oder Zombie sind da noch harmlose Beschreibungen. August wurde mit einem seltenen Gendefekt geboren. Nach vielen Operationen ist es ein wahres Wunder, dass er lebt.

    Augusts ältere Schwester Via stärkt ihrem Bruder in jeder Situation den Rücken, gerade weil die Erkrankung, wie sie sagt, aus Augusts Gesicht ein "Schlachtfeld gemacht hat".

    "Seine Augen befinden sich gut zwei Zentimeter unter der Stelle, wo sie in einem Gesicht eigentlich hingehören. Sie ziehen sich in einem extremen Winkel nach unten, fast wie diagonale Schlitze, die ihm jemand ins Gesicht geschnitten hat. Die oberen Augenlider sind immer halb geschlossen. Er hat keine Augenbrauen oder Wimpern. Sein Kopf ist an den Seiten eingefallen, als wenn jemand den mittleren Teil seines Schädels mit einer riesigen Kneifzange eingedrückt hätte."

    August ist, obwohl er bisher sehr isoliert gelebt hat, kein scheues oder kompliziertes Kind. Auggie, wie ihn die Familie liebevoll nennt, geht offen und lebhaft auf Menschen zu, ist großzügig, intelligent und feinfühlig.

    "”Auggie ist etwas sarkastisch und ich denke, das ist ein Teil seiner Art mit der Welt zu verhandeln. Er hat gelernt in bestimmten Situationen, mit Humor zu reagieren und er versteht intuitiv, dass Leute auf eine bestimmte Art auf ihn reagieren. Er hat eine Taktik entwickelt, zu sehen, was andere denken, aber er tut so, als würde er es nicht bemerken, um sich zu schützen. Und in anderen Situationen schiebt er das Thema durch Sarkasmus einfach weg.""

    "Ich glaube, der einzige Mensch auf der Welt, der merkt, wie normal ich wirklich bin, bin ich. Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer."

    Wie viele Jungen in seinem Alter liebt August die "Star Wars"-Abenteuer und wünscht sich einen besten Freund. Seine besorgten Eltern beschließen, dass der behütete Sohn, nachdem er zu Hause von der Mutter unterrichtet wurde, die Middle School besuchen soll. Aus verschiedenen Blickwinkeln, auch zeitlich versetzt, erzählt die Autorin von Augusts erstem Jahr an der Schule. Augusts neue Mitschüler Summer und Jack kommen zu Wort, aber auch Via, ihr Freund Justin und vor allem August selbst.

    "” ch habe entschieden "Wunder" aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, da ich dachte, es wäre gut für die Leser mehr über die Motivation der Charaktere zu erfahren, die mit Auggie diese Reise antreten.
    Ich hatte mir gedacht, wenn meine Figuren jeweils aus ihrem eigenen Blickwinkel erzählen, versteht der junge Leser sie besser und er fragt sich, wie würde ich in diesem Kontext reagieren. Wie wäre es, wenn ein Kind wie Auggie an meine Schule kommt? Wäre ich wie Summer, dieses nette Mädchen, das den Mut hat, sich am ersten Tag zu ihm zu setzen oder wäre ich mehr wie Julian, das Kind das Auggie provoziert und ihn nicht an der Schule haben will oder wäre ich wie Jack, ein Kind, das genötigt wurde, Auggies Bekanntschaft zu machen, aber dann ein loyaler Freund wird. Für mich war das die einzige Möglichkeit, eine Distanz zu Auggies Denken zu schaffen und die Gedanken der anderen Figuren zu verdeutlichen, um zu zeigen, was Auggie für sie bedeutet.""

    August ist fasziniert vom Unterricht, besonders von den naturwissenschaftlichen Fächern und kann ohne Probleme folgen. Aber er erlebt die Schultage innerlich wie einen Spießrutenlauf. Niemand greift August in der Schule offen an und doch spürt der sensible Junge, dass hinter seinem Rücken sich so einiges abspielt.

    "Na ja, es waren acht Schüler an dem Tag, und sieben von ihnen quetschten sich auf der einen Seite der Platte zusammen, während einer von ihnen – ich - jede Menge Platz auf der anderen Seite hatte. … Vielleicht ist es wie mit dem Käse in Gregs Tagebuch. Die Kinder in dieser Geschichte haben Angst, dass sie sich die Läuse holen, wenn sie den schimmeligen Käse auf dem Basketballfeld anfassen. Auf der Beecher Prep bin ich der alte Schimmelkäse."

    August geht immer mit gesenktem Kopf, nur nicht an Halloween, seinem besten Tag im Jahr. Am 31. Oktober ist er ein völlig normales Kind unter vielen anderen kostümierten Jungen und Mädchen an der Schule. Allerdings erfährt August an diesem Tag unter seiner Maske, was Jack, der Junge, den er für seinen Freund hält, wirklich über ihn denkt. Ein Vertrauensbruch, den der zutiefst gekränkte August verkraften muss. Als er jünger war, konnte er zwei Jahre lang mit einem Astronautenhelm durch die Gegend laufen. Jetzt muss er sich der realen Wirklichkeit stellen und herausfinden, was für ihn wichtig ist.

    Raquel J. Palacio findet für ihr starkes Debüt die Balance zwischen humorvollen, wirklichkeitsnahen Szenen, in denen August einfach sein Leben meistert und schmerzhaften Erlebnissen im Alltag. Durch sein sympathisches, begeisterungsfähiges Wesen zieht August sogar die Mitschüler auf seine Seite, die vorher dem oberflächlichen, mobbenden Julian zum Munde geredet hatten. Eins kann der Leser durch Augusts Geschichte sehr deutlich nachvollziehen, wie es ist, wenn man sich selbst ganz normal fühlt, doch die anderen einem immer wieder das Gefühl vermitteln, anders, ja abstoßend zu sein.

    Die Frage bleibt, ob es wirklich für den Handlungsverlauf notwendig war, August durch eine besondere Auszeichnung vor allen Schülern und Eltern zum Abschluss der 5. Klasse zu ehren.

    "Ich wollte das Buch mit einem positiven Gefühl beenden, einem fröhlichen Tag in seinem Leben. Das heißt nicht, dass alle anderen Tage in seinem Leben nicht schwierig sein werden. Wir können, wenn wir möchten, dieses Jahr als einen Mikrokosmos seines ganzen Lebens sehen. Er wird oben sein und er wird unten sein. Leute sind nett zu ihm und Leute sind bösartig, so wird sein Leben sein. Ich habe viel über dieses Happy End nachgedacht und entschieden, es war richtig. Ich wollte, dass es ihm gut geht und dass andere Leute ein gutes Gefühl haben, wenn sie an ihn denken."

    Raquel J. Palacio: Wunder
    Aus dem Englischen von André Mumot, Carl Hanser Verlag, München 2013, 375 Seiten, 16,90 Euro, 978-3-446-24175-6

    Hörbuch: Raquel J. Palacio: Wunder
    Gelesen von Andreas Steinhöfel, Nina Petri, Mirco Kreibich u.a., Silberfisch, 4 CDs, 282 Minuten, €19,99, 978-3-86742-702-9