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Liebenswerte Dorfbewohner

Was als Roman angekündigt wurde, ist als 100-seitige Erzählung eher eine schlanke Nachfolgerin des Erfolgsromans "Die Beschissenheit der Dinge". Den Text dafür hatte der flämische Autor Dimitri Verhulst noch in einem Zug niedergeschrieben. Für "Madame Verona steigt den Hügel hinab" ließ er sich etwas mehr Zeit: nur eine Seite pro Woche. Zwar kennt auch diese Erzählung über ein kleines Dorf in Belgien und seine Bewohner einen leicht melancholischen Grundton, aber anrührende und fast banale Ereignisse frischen die Bilder auf.

Von Volkmar Mühleis | 07.05.2008
    Viele Wege führen nach Huccègne, doch welchen man auch nimmt, er schlängelt sich über Hügel und durch Täler, bis man den Ort endlich erreicht, nach dem unweit eine große Autobahnbrücke benannt worden ist. Von seinem Schreibtisch aus kann Dimitri Verhulst sie sehen, doch sie stört ihn nicht. Vor einigen Jahren ist er vom flämischen Gent aus hierhin gezogen, tief ins französischsprachige Belgien. Und wer seine neue Erzählung "Madame Verona steigt den Hügel hinab" gelesen hat, der kann die Verwandtschaft der Geschichte mit dieser Landschaft nicht übersehen.

    Alliterationen und direkte Verweise spielen damit: Nicht Huccègne, doch Oucwègne heißt darin das Dorf, und von einem der Schauplätze sieht man den gleichen Namen plötzlich auf einem Straßenschild vor sich. Nicht, dass das von Belang wäre. Doch wenn man weiß, wie gern Verhulst die Wirklichkeit in seinen Texten verwebt, ist es doch ein vertraut wirkendes Detail. Er selbst meint dazu:

    "Die Geschichte hat sich mir förmlich aufgedrängt, aber sehr behutsam und völlig unerwartet. Meine Nachbarin, die inzwischen verstorben ist, habe ich nur als alte Witwe gekannt. Selbst konnte sie nicht mehr ins Dorf hinunter gehen, so dass ihr Sohn ab und zu die Einkäufe erledigte. Sie war die Gefangene von diesem Hügel, Jahr aus, Jahr ein. Das ist also keine Märchengeschichte, wie eine ganze Reihe von Leuten zuerst dachten, sondern die reinste Gegenwart. Und sie gab mir die Gelegenheit, endlich auf eine positive Manier über die Liebe zu schreiben."

    In dem Buch beschließt die alte Madame Verona, an einem eisigen Wintertag von ihrem Hügel hinab ins Tal zu gehen, von wo sie - das weiß sie genau - es allein nicht zurück schaffen wird. Es soll ihr letzter Tag werden, sie will es so. Kaum jemand, der in dieser einsamen Gegend ihr begegnen würde. Ihr Mann, mit dem sie glücklich war, hat sich nach der Diagnose einer unheilbaren Krankheit an einem Baum im Garten erhängt. Sein Tod erscheint nicht verzweifelt, so ausweglos seine Lage auch war. Zuvor hatte er zäh und ausgiebig Holz gehackt, damit seine Frau es nochlange warm haben würde. Sie hatten sich geliebt und in den Armen gelegen, und nach dem Moment, in dem noch einmal alles gut zu sein schien, ging er in den Garten.

    Das nach Verhulst vermeintlich Märchenhafte seiner Darstellung entsteht aus der Schicksalhaftigkeit, mit der er die Welt von Oucwègne beschreibt, welche sich zwar verzaubern lässt - denkt man an Peter Handkes Wortwahl hierfür -, in die aber damit auch eingestimmt wird, bis alles in ihr übereinzustimmen scheint. Der flämische Autor - dem die Derbheiten von Land und Leuten mehr als bekannt sind – schildert sie diesmal weniger in ihrer Abgründigkeit, als in ihrer Liebenswürdigkeit, womit er im Tonfall seiner Erzählung das Versöhnliche seiner Protagonistin selbst vertritt. Denn auch Madame Verona sagt sich an jenem Tag: Nun ist es gut.

    "Sie hat es nie gemocht, die Welt so zu betrachten, wie man es zum letzten Mal tut: eine angenehme Urlaubsstadt, die im Rückspiegel langsam immer kleiner wird, einen davonjagenden Zug und den Kopf des Geliebten, der aus dem Fenster lehnt... Doch jetzt gefällt ihr diese Art, die Dinge zu sehen, vielleicht, weil sie schon zum Verschwinden gehört, wer weiß. Sie atmet den Duft des Schnees, der einem Proust genügen würde, sie achtzig Jahre zurückzuschicken, in eine Zeit, da der Schnee genau so roch und sie den Duft zum ersten Mal so wahrnahm, das fremde Etwas zur weißen Kugel formte, neugierig in den Mund steckte und dort nach und nach schmelzen ließ."

    Der Balanceakt, den Dimitri Verhulst sich zur literarischen Aufgabe macht, ist besonders schwer: ohne die Ungereimtheiten einer Lebensgeschichte aus den Augen zu verlieren, sie das Gefühl der alten Frau doch nicht beherrschen zu lassen, sondern das Befreiende ihres letzten Entschlusses mit einem Einvernehmen in ihr Leben zu besiegeln. Während für Handke etwa das Märchenhafte und Poetische identisch scheinen, fühlt sich sein flämischer Kollege mit dem Begriff des Poetischen sehr viel wohler:

    "Ich denke, dass das Poetische des Buches die Geduld vermittelt, mit der die Geschichte erzählt wurde. Ich hatte mir vorgenommen, jede Woche nur eine Seite zu schreiben und habe mich tatsächlich dazu verpflichtet, nicht schneller zu arbeiten. 'Die Beschissenheit der Dinge' lag gerade hinter mir, ein Text, den ich in einem Zug verfasst habe. Allein deshalb war mir danach, etwas völlig anderes zu versuchen. Das Ergebnis ist deshalb nicht besser oder schlechter. Die verschiedenen Tempi ergeben einfach einen anderen Stil."

    Die Szenen mit Madame Verona wechseln sich ab mit Anekdoten und Betrachtungen über Oucwègne. Eine fast bruegelartige Deftigkeit scheint dabei auf, etwa wenn von der Tierärztin die Rede ist, zu der auch - mangels Alternative - alle Bewohner müssen, oder die Wahl des Bürgermeisters beschrieben wird, die schlussendlich doch zugunsten der Kuh Blonde d’Aquitaine ausfällt. Die Erzählung kennt zwar einen melancholischen und milden Grundton, zugleich frischt Verhulst die Bilder regelmäßig auf, mit anrührenden und manchmal auch nur karikaturhaften Ereignissen, die durchaus seiner Vorliebe für das Banale entsprechen:

    "Anlässlich eines Literaturfestivals in Lyon erscheint bald ein Lexikon mit Worten, die Autoren als besonders wichtig für ihr Schreiben ansehen. Ich habe mich für das Wort Banalität entschieden, beziehungsweise die Erkenntnis davon. Weil ich glaube, dass Banalität eine richtungsweisende Kraft sein kann, im Schreiben eines Buchs. Dafür ist es wichtig, sich selbst davon bewusst zu sein, wie banal man eigentlich ist. Warum sehe ich die beiden Dinge zusammen? Ich glaube die Chance, dass jemand sich von meinem Werk angesprochen fühlt ist am größten, wenn ich es für mich selbst geschrieben habe. Jeder von uns ist natürlich einzigartig - aber in Maßen. Das Menschliche in mir ist auch das Menschliche im andern, und darauf will ich mich konzentrieren."

    In "Madame Verona steigt den Hügel hinab" ist Dimitri Verhulst das bisher am eindrücklichsten gelungen, auch wenn - im Unterschied zu der eigenen Familiengeschichte in der "Beschissenheit der Dinge" - er nicht von sich zu erzählen scheint. In einem Gespräch mit dem Journalisten Yves Desmet meinte er: "96 zu sein, junge Leute hektisch mit Job und Leben beschäftigt zu sehen und daran seinen Spaß zu haben, kann ich mir gut vorstellen." Mit seiner neuen Erzählung hat er sich selbst einen Vorgeschmack auf dieses Vergnügen gegönnt.

    Dimitri Verhulst: Madame Verona steigt den Hügel hinab
    Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
    Luchterhand Verlag, München,
    112 Seiten, 7 Euro