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Lieber Surfen als Allgäu

Die Wahl zwischen einem Frühwerk des US-Autors Don Winslow und dem neuen Zuspätwerk um Kommissar Kluftinger fällt leicht: Winslow wins. James Sallis macht dafür seinem Killer das Sterben schwer, metaphysisch gesprochen. Ganz real und realistisch geht es in den Büchern von Dominique Manotti und Massimo Carlotto zu.

Von Andreas Ammer | 10.06.2011
    Der Mai ist vorbei

    und langsam schon stellt sich für Pessimisten in der nördlichen Hemisphäre die bange Frage, ob denn auch dieses Jahr im Juni die Sonne auf ihrem Gang plötzlich am 21. Juni aufhört täglich, höher und höher zu steigen.

    Die Tage werden bald kürzer.

    Der Frühling ist vorbei,

    ... der Sommer kommt.

    Jetzt möchte keiner mehr sterben.

    ... um so mehr wird in Büchern gestorben.

    Dort allerdings kippen selbst die Killer tot um,

    ... und auch zukünftige Erfolgs-Autoren fürchten die Polizei,

    ... während Flugzeuge voller Waffen vom Himmel fallen ...

    ... und in Deutschland richtig schlechte Krimis richtig großen Erfolg haben.

    eine apokalyptische Welt, die unseren Rezensenten ...

    ... furchtbar auf die Nerven geht ...

    ... weshalb sie jetzt in der Krimikolumne ...

    ... schonungslos angeprangert wird.

    Die Krimikolumne ...

    ... heute mit den ultimativen Survivaltips für jeden Flüchtling.



    Der Buchhandel freut sich, die Kritiker stöhnen.

    Mit "Schutzpatron" ist im Piper-Verlag soeben der sechste Fall des derzeit erfolgreichsten deutschen Kommissars, Kluftinger erschienen, dessen Autorenpaar auf die eigenartigen Namen Klüpfel und Kobr hört.

    Mit mittellangem Haar, und Designerbrille sowie mit sorgfältig gebügelter Jeansjacke und blondierten Haarspitzen

    so trägt man das offensichtlich im Allgäu

    ... lächelt das - laut Nachrichtenmagazin - "erfolgreichste deutsche Autorenduo" vom hinteren Umschlagbild ihres neuen Kluftinger-Krimis herab. Der neue Kluftinger, Beiname Allgäu-Krimi, wird von dem schnieken Duo währenddessen in Zirkusarenen präsentiert und dürfte jetzt schon ungelesen auf der Bestsellerliste stehen. Ein trauriges, eigentlich unerklärliches Phänomen.

    Denn Kluftinger-Krimis lesen sich so unbeholfen wie eine schlechte Übersetzung eines ganz schlechten Thrillers aus einer obskuren Weltgegend. Begründung?

    Dafür genügt die Lektüre des ersten Absatzes des neuen Allgäu-Aufregers: Da ist die "Stille" "vorabendlich", die "Dämmerung" "heraufziehend", das "Licht" "diffus", die Bäume "knorrig" und der "Waldboden" "feucht". Zusammengefasst, na Herr Rezensent?:

    Sieht aus wie ein Buch, kann aber keines sein. Hier wurde der Nullpunkt der Literatur entdeckt.

    Ein Witz wird in dem buchartigen Objekt auch gleich gemacht, denn als Allererstes ruft jemand "Wotan" in die "vorabendliche Stille" hinein und meint damit ...

    ... seinen Dackel.

    Das ist der Witz.

    Für die, die diesen Witz nicht verstanden haben, folgt ein innerer Monolog zur Erklärung dieses krummbeinigen Witzes; Zitat:

    "Er hatte den Kontrast so putzig gefunden ..."

    - Doppelpunkt -

    ".. der kleine Dackel mit den krummen Beinen und der Name der germanischen Gottheit".

    Haben das jetzt alle verstanden? ... Dann bitte jetzt ... lachen!

    Unerklärlich, was Deutschland an diesen Krimis findet.

    ... rätselt unser Rezensent über die schlechte Simulation eines Spannungsromans angesichts von Klüpfl/Kobrs neuem buchähnlichem Gebilde mit Aufdruck "Schutzpatron".

    Zugleich ist er fassungslos, dass sich auch in der Literatur - wie zuvor beim Fernsehen - jede Niveausenkung eine Vermehrung des Erfolgs bedeutet.

    Genug der Schlechtigkeiten. Jetzt kommen die Guten!



    Im Nicht-Kluftinger-Deutschland hat es sich herumgesprochen, dass literarische Qualität und kriminalistische Handlung sich längst nicht mehr ausschließen. Man kann sogar beobachten, dass sich mit Heinrich Steinfest, Wolf Haas und Friedrich Ani die besten Poeten ihrer Generation eher dem Krimi-Genre als der klassischen Literatur zugewandt haben.

    Es gibt mehr gute deutsche Krimis als große deutsche Romane.

    ... urteilt streng unser Rezensent und blickt schnell mal über die Grenzen hinweg.

    In Amerika hat sich Großautor Thomas Pynchon grinsend dem Krimi zugewandt und Don Winslow hat mit "Tage der Toten" unlängst ein kriminalistisches Epos veröffentlicht, der gerne mal mit Tolstois "Krieg und Frieden" verglichen wird.

    Die Entdeckung des Schriftstellers Don Winslow für Deutschland haben wir der relativ neuen Krimi-Reihe des Suhrkamp-Verlags zu verdanken. Nach dem sensationellen Erfolg von "Tage der Toten" im letzten Jahr veröffentlicht man nun dort - in der Übersetzung von Judith Schwab - "Bobby Z".

    Klüpfel und Kobr ins Stammbuch geschrieben, wie ein Krimi auch beginnen kann: Zitat:

    "So wird aus Tim Kearney der legendäre Bobby Z. Tim Kearney wird zu Bobby Z., indem er ein Autonummernschild so zufeilt, dass es scharf wie eine Rasierklinge ist, und damit einem vierschrötigen Hell's Angel namens Stinkdog die Kehle durchschneidet. Stinkdog ist auf der Stelle ein toter Mann, und Tad Guzsa, ein Agent der Drogenbehörde, ist glücklich."

    Sofort mit Glückshormonen angefüllt ist da unser Rezensent, der nach fünf Zeilen weiß:

    Ich habe einen schönen Job, dass ich für das Lesen solcher Bücher bezahlt werde.

    Dabei ist "Bobby Z" kein Meisterwerk wie "Tage der Toten". Es ist zwar - wie der Aufkleber auf der Titelseite stolz verspricht - "Vom Autor des Bestsellers 'Tage der Toten'" - aber doch ein ganz anderes Buch. Ein Frühwerk. Mit "Bobby Z" hatte Don Winslow vor anderthalb Jahrzehnten zum ersten Mal ein wenig Erfolg mit seinen im Surfer-Milieu spielenden Krimis.

    "Bobby Z" wurde schon im letzten Jahrtausend ins Deutsche übersetzt. Offensichtlich gut geschrieben, aber damals nur ein Achtungserfolg, nur eine Vorahnung des kommenden Meisterwerkes des Autoren Winslow.

    Wohlan Herr Rezensent, walten Sie ihres Amtes.

    Ungefähr 748-mal besser als der Kluftinger-Krimi, aber nur ungefähr ein Drittel so dick und nur exakt drei Fünftel so gut wie "Tage der Toten" ...

    ... sei nach dem Urteil unseres Rezensent "Bobby Z" von Don Winslow, neu erschienen als Suhrkamp-Taschenbuch und übersetzt von Judith Schwaab.

    Wodurch die Handlungsanweisung für Krimikolumnenhörer klar ist. Wer "Tage der Toten" schon gelesen hat, kann dieses Buch beruhigt zur Hand nehmen, wer sich Klüpfel/Kobr schon gekauft hat, sollte jenes buchartige Gebilde schleunigst in diesen wirklich ordentlichen Krimi umtauschen.



    Wir bleiben in Amerika.

    "Der Killer stirbt" heißt ein eher schmaler Band des für seine schmalen Bände bekannten Amerikaners James Sallis. Übersetzung: Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeld. Verlag: liebeskind.

    "Driver" hieß das kleine Kunstwerk von Krimi, mit dem James Sallis hierzulande die Krimi-Preise gewann und unseren Rezensenten damals haltlos begeisterte. Die Verfilmung dieses kleinen Juwels von einem Krimi hatte gerade in Cannes Premiere und mit "Der Killer stirbt" ist James Sallis erneut ein Meisterwerk des Krimi-Genres gelungen, das

    - wie alle Meisterwerke -

    ... natürlich die Grenzen des Genres sprengt.

    Ein sterbenskranker Killer verschusselt seinen letzten Auftrag. Er soll einen biederen Buchmacher um die Ecke bringen. Bevor er dazu kommt, wird der Buchmacher allerdings von jemand anderen ermordet . Fast zumindest. Der Killer und die Polizei stehen vor einem Rätsel.

    Soweit so originell.

    Immer gut für den Krimi, wenn sich die Ausgangslage in 3 knappen Sätzen zusammenfassen lässt.

    ... weiß aus Erfahrung unser Rezensent.

    "Der Killer stirbt" ist aber zwar genau dieser gute Krimi, darüber hinaus aber eine schwer beeindruckende und nicht unbedingt leicht zu lesende Reflexion über alles, was mit Tod, Sterben, Einsamkeit zu tun hat.

    Und es wird viel gestorben in "Der Killer stirbt", aber noch mehr wird beim Sterben zugesehen. Im Krieg, in den Familien, auf den Straßen. Dem eigenen Sterben und dem der Fremden. Es geht - pathetisch gesagt - um die Extrembereiche menschlicher Existenz.

    Wow

    Dies aber - uns durch Rand-Bereiche des Lebens zu führen- ist eine der vornehmsten Aufgaben der Literatur.

    ... weiß unser Rezensent und ist deshalb hingerissen von James Sallis Mörderrequiem "Der Killer stirbt", erschienen im liebeskind-Verlag.



    Zurück nach Europa: hier, wo noch alte Werte gelten und Bücher eine lange Wirkung haben.

    Was nur eine Ausrede dafür ist, dass unser Rezensent das nächste Buch etwas zu lange ungelesen in den Tiefen seiner Bücherstapel hat verkommen lassen. Andererseits ist es so gut, dass es hierher in die Krimi-Kolumne gehört:

    "Der Flüchtling" heißt dieses Buch, sein Autor ist Massimo Carlotto, der Übersetzer war Hinrich Schmidt-Henkel und erschienen ist das gute Stück im Tropen-Verlag.

    Aber was heißt in diesem Fall Buch? - Es ist Überlebensschule, Erlebnisaufsatz, Doku-Thriller, Geständnis, Sachbuch ... und ein Krimi, aufregend wie eine Horde schießwütiger Terroristen.

    vor allem aber ein unschätzbarer Ratgeber: Wenn sie jemals - als Anhänger einer extremistischen Organisation - in die Situation kommen sollten, von der Polizei um den halben Erdball gescheucht zu werden, dann sollten Sie dieses Buch als Kompagnon in der Tasche haben. Es wird ihr Leben retten.

    Die Erfahrungswerte, die hinter diesem mit Spannung gesättigten Sachbuch stecken, sind ziemlich einmalig: Elf Prozesse hat Massimo Carlotto, Autor und - in Anführungszeichen - "Held" dieses Buches hinter sich. 86 Richter und über ein Halbhundert Gutachter haben sich mit ihm beschäftigt. Die Akten seines Falles wiegen gut 100 Kilo.

    Los ging es, als Januar 1976 in Padua eine 25-jährige Studentin mit 59 Messerstichen ermordet wird. Massimo Carlotto, damals 19 Jahre alt, Anhänger der linksextremen Organisation "lotta continua! - findet die Leiche, holt die Carabinieri und wird - wie in einem schlechten Krimi - verdächtigt, verhaftet und unter Mordanklage gestellt.

    Zunächst wird er freigesprochen, im nächsten Prozess allerdings zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt. eine Revision schlägt fehl, Massiomo Carlotto flieht vor der Verhaftung nach Paris, dann nach Mexiko, lebt jahrelang als vogelfreier Flüchtling.

    Womit wir bei dem Buch sind: In "Der Flüchtling" schildert Carlotto recht eindrücklich und wohl auch realitätsnah das Leben in der internationalen Illegalität. Wir erfahren, warum mal als Flüchtling besser nie das gleiche Restaurant zweimal besuchen soll, wieso die größte Gefahr in den eigenen vier Wänden lauert und wieso es gefährlich sein kann zum Zahnarzt zu gehen.

    Zum Zahnarzt zu gehen, - dies nur als praktischer Hinweis - ist gefährlich, weil Zahnärzte an den Plomben erkennen könnten, in welchem Land der Erde der Zahnersatz gemacht wurde ... womit manche Tarnung auffliegen kann.

    Heute ist Massimo Carlotto ein angesehener italienischer Schriftsteller. Nachdem er sich 1985 den italienischen Behörden stellt, zieht sich die juristische Behandlung seines Falls noch acht Jahre hin. Erst wird er verurteilt, dann sein Fall wieder aufgenommen, jahrelang zwischen verschiedenen Gesetzen und Gerichten hin und hergeschoben. Carlotto bleibt währenddessen in Haft, bis er 1993 vom italienischen Staatspräsidenten persönlich begnadigt wird. Sein Fall ist italienische Rechtsgeschichte.

    Das Buch "Der Flüchtling" hingegen, mit dem Carlottos zweites Leben als Schriftsteller begann, darf in die Literaturgeschichte eingehen.

    ... weiß unser Rezensent über Massimo Carlottos Bekenntnisbuch "Der Flüchtling", erschienen im Tropen-Verlag.

    Man sollte das Buch bei jeder Reise mit sich führen.



    Und weil sich die wahre Welt gerade als derart spannend gezeigt hat, noch ein Buch einer Autorin, die sich gerne reale Fälle als Vorbilder ihrer knappen, exakten Krimis nimmt.

    Dominique Manotti wurde hier in der Kolumne unlängst bereits für ihren Real-Krimi "Letzte Schicht" in den blauen Himmel über Paris gelobt. Beflügelt von derartigem Erfolg legt die Reihe "ariadne kriminalroman" im Argument-Verlag nun gleich nach: "Roter Glamour" heißt der nächste, Manotti-Krimi. Diesmal geht es um die konkurrierenden Geheimdienste und Polizeiorganisationen in Frankreich.

    Zum leichteren Verständnis der Sachlage hat die Autorin der deutschen Ausgabe eine dreiseitige Erläuterung vorausgeschickt. Dort wird die Organisation der französischen Polizei in den Jahren 1985-86 referiert. Zwar räumt Frau Manotti ein, Zitat:

    "Die Lektüre ist nicht obligatorisch für Leute, die sich einfach nur gern den Rhythmus eines Romans hingeben",

    ... doch wer wagt sich schon, ein erläuterndes Vorwort einer Autorin zu überblättern.

    Leider stiftet dieses Vorwort vor allem Verwirrung. Die lange Liste französischer Ordnungsorgane, von der Gendarmerie über die Brigade Criminelle bis zum Inlandsgeheimdienst und vom Geheimdienst für die Stadt Paris bis zu den Generaldirektionen zur Spionageabwehr oder Mitterrands persönlichem Sicherheitsstab ...

    Mich hat die Liste nur verwirrt.

    ... klagt unser Rezensent. Es hätte ein kurzer Hinweis genügt, dass all die unterschiedlichen Dienste, die in dem Roman auftauchen, im Frankreich der 80er-Jahre wirklich existierten und das Buch somit auf wahren Tatsachen beruht. Denn als gutes Buch enthält Dominique Manottis "Roter Glamour" alles, was es zum Verständnis dieses vorbildlich guten Buches braucht.


    Besprochene Bücher:

    Massimo Carlotto: Der Flüchtling. Tropen-Verlag
    Volker Klüpfel, Michael Kobr: Schutzpatron. Piper
    Dominique Manotti: Roter Glamour. ariadne kriminalroman 1192, Argument-Verlag
    James Sallis: Der Killer stirbt. liebeskind
    Don Winslow: Bobby Z. Suhrkamp tb4245