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Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof

Am Ende bleibt Ratlosigkeit. Gerne wäre er ihr noch näher gekommen, räumt Alois Prinz ein, als er zum Schluss seines Buches über Ulrike Meinhof schildert, wie er an ihrem Grab auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitskirche im Berliner Stadtteil Alt-Mariendorf steht. Dort liegt sie jetzt fast schon 27 Jahre begraben, die Christin und Journalistin, die maßlos gehasste und ebenso maßlos verehrte Mitbegründerin der "Rote-Armee-Fraktion".

Kersten Knipp |
    Gerne also hätte er sie besser verstanden, räumt Alois Prinz ein. Doch immer undeutlicher sei die Person dem Biographen geworden. Hat der vielleicht seine Aufgaben nicht hinreichend erledigt? Hat er keinen hinreichenden Einblick genommen, zuwenig Dokumente studiert, nicht genügend Zeitzeugen interviewt? Nein, das ist nicht der Fall, glaubt Prinz, denn auch als er noch einmal von vorne beginnt, noch mehr Material sichtet, Briefe, Artikel, Bücher liest, kommt er Ulrike Meinhof nicht näher.

    Der Leser wird es bestätigen: Prinz hat gründliche Arbeit geleistet. Minutiös verfolgt er auf dreihundert Seiten das Leben der Meinhof als kleines Mädchen, junge Frau und schließlich als berüchtigte Terroristin. Im hessischen Weilburg beginnt Prinz seine Spurensuche, denn dort hat Ulrike Meinhof einen Teil ihrer Jugend verbracht. In Weilburg ist Prinz noch ganz am Anfang seiner Recherchen, und schon kommen ihm Zweifel: Was eigentlich will er hier, was mögen sie nützen, die Gespräche mit Zeugen aus Meinhofs jungen Jahren, ihren Mitschülern, den Freunden, den Nachbarn?

    Führt er nicht auch sich selbst in die Irre, fragt sich der Biograph, wenn er die Spuren eines Lebens sucht, um sie dann in eine eindeutige, scheinbar vorbestimmte Richtung laufen zu lassen? "Man findet", schreibt Prinz, "immer leicht Zusammenhänge, wenn man ein Leben von seinem Ende her betrachtet. Alles scheint auf das Spätere hinzudeuten. Aber nichts ist zwangsläufig. Das Spätere kann das Frühere höchstens erhellen, ableiten lässt es sich nicht."

    Vieles von dem, was Prinz über Ulrike Meinhofs junge Jahre erfährt, mag darum erhellend, aufschlussreich sein – aber als erschöpfende Erklärung taugt es nicht. Von den Schrecken des Krieges erfährt der Leser, den schlimmen Eindrücken, die die nächtlichen Bombenangriffe bei der 1934 Geborenen hinterlassen haben; man liest vom frühen Tod des Vaters - aber auch von Ulrikes unbefangenem fröhlichem Wesen, ihrer Lebensfreude, ihrer Aufgeschlossenheit.

    Nichts, gar nichts, deutet auf die strenge Verfechterin des Terrors hin, auf ihre weltentrückten Parolen von "knarre, bewusstsein, kollektiv", die sie in penetranter Kleinschrift in der Zelle im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim in ihre Schreibmaschine hämmert. Nichts in der Jugend lässt auf ihren Wunsch, nein den inneren Zwang schließen, "beziehungslos zu der scheiße" zu leben, wie sie schreibt. Unter dieser Scheiße versteht Meinhof ihr bürgerliches Bewusstsein - und noch viel mehr: Die eingesperrte Terroristin will sich auch von den mütterlichen Instinkten befreien, die sie noch immer an ihre beiden Töchter binden, darum auch keine Briefe und Zeichnungen von ihnen mehr haben.

    Der Wille setzt sich schließlich durch: So, wie sie aufgrund ihres Hungerstreiks auf 40 Kilo abmagert, reduziert sich die Meinhof auch seelisch, will ihre Töchter nicht mehr empfangen, ihre Briefe nicht mehr annehmen, auf ihre Kontaktversuche nicht mehr eingehen.

    Nein, nichts deutet in Meinhofs jungen und jüngeren Jahren auf diese Verhärtung hin. Sicher, es gibt die typischen Erfahrungen, die zahllose Menschen ihres und des folgenden Jahrzehnts zu jenem politischen Widerstand ermuntert haben, für den die Chiffre "68" steht: das angebliche Fortbestehen der faschistischen Tradition nach 1945, scheinbar belegt durch die Karrieren ehemaliger Nazi-Größen, die Wiederbewaffnung und den entschiedenen Westkurs der Bundesrepublik, den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, der Besuch des persischen Schahs Reza Pahlevi 1967 und den gewaltsamen Tod des Studenten Benno Ohnesorg. Entwicklungen und Ereignisse wie diese empörten und besorgten viele – und seit den späten 50er Jahren schreibt auch Ulrike Meinhof gegen sie an, vornehmlich in der Zeitschrift "konkret", deren Chefradakteurin sie ab 1960 wird, und deren Herausgeber Klaus Rainer Röhl sie später heiratet.

    Meinhofs journalistische Arbeit mag noch im Rahmen des üblichen Einspruchs liegen. Den Mitstreitern fällt allein der Ernst auf, mit dem sie ihren politischen Kurs verfolgt. Merkwürdig, finden sie, wie wenig sie übrig hat für den Hedonismus der linken Polit-Schickeria. Doch wann mag er vollzogen sein, der innere Bruch mit der Leichtlebigkeit der Mitstreiter, der innere Abschied von den sanften Sommern auf Sylt mit Sekt, den die gut situierte Hamburger Links-Szene so liebte?

    Alois Prinz hat Glück mit seinem biographischen Handwerk: Die ebenso streitbare wie erfolgreiche Journalistin Ulrike Meinhof hat zahllose Schriften hinterlassen, anhand derer er ihre politische Entwicklung nachvollziehen kann. Aber wann tritt die endgültige, nicht mehr rückgängig zu machende Radikalisierung ein?

    Im Mai 1970 hilft Meinhof, den gefangenen Andreas Baader gewaltsam aus der Haft zu befreien. Von da an lebt sie als flüchtige Terroristin im Untergrund. Zuvor, im März 1969 hat sie ihre Mitarbeit bei der Zeitschrift "konkret" mit der Begründung eingestellt, die Zeitschrift sei dabei, Zitat, "ein Instrument der Konterrevolution zu werden". Es geht weiter in diesem Ton. Mal erwähnt sie die "von Monotonie durch Automation verblödeten Metaller", mal die "in Herr & Hund-Verhältnissen lebenden Frauen", die in "Reihenhauskaninchenstallwohnungen" eingepferchten Bürger. Der Ton verhärtet sich: "Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen …, und natürlich kann geschossen werden." O-Ton einer, die einst die Geschöpfe der Welt so liebte, die immer zu den Schwachen hielt. Wie anders dagegen der spätere Ton: Als "scheinheilige Sau der herrschenden Klasse, das ist einfach Selbsterkenntnis" wird sie sich selbst einmal bezeichnen.

    Nein, man kann die Radikalisierung der RAF nicht leicht erklären, zumindest nicht restlos. In einem viel beachteten und äußerst umstrittenen Buch hat vor zwei Jahren der ehemalige Funktionär des "Kommunistischen Bundes Westdeutschland", Gerd Koenen, einen Deutungsversuch jener Radikalisierung der 70er Jahre unternommen.

    Koenen zufolge verlief diese vornehmlich in ästhetischen Bahnen: durch ein Eintauchen in die Poesie der damals aktuellen politischen Schriften, eine Lust am Extremismus, den psychologisch hoch aufgeladenen Eintritt in ein Wahngebilde, das sich gegen alle Kritik und Gegenargumente als gründlich immun erwies. Viele Streiter jener Jahre waren am Ende klug genug, rechtzeitig aus dem ideologischen Wettlauf auszusteigen und in ein zuletzt doch bürgerliches Leben zurückzukehren. Dergleichen smarte Wendigkeit war Meinhofs Sache nicht. Man muss wohl sagen: leider nicht. 67 Tote, zitiert Prinz Horst Herold, den in den 70er Jahren amtierenden Präsidenten des Bundeskriminalamts, hat der Terror der RAF auf beiden Seiten gefordert.

    Prinz hat ein Buch geschrieben, das ihn als verantwortlichen Pädagogen ausweist. Er gibt nicht vor, Antworten liefern zu können, wo Antworten notgedrungen ausbleiben müssen. Überhaupt nähert sich Prinz der Meinhof in betont nüchterner Haltung, die sich auch im Stil niederschlägt: Er verzichtet darauf, das außergewöhnliche Leben der Meinhof unnötig zu dramatisieren, ihr Leben zur crime story aufzubauschen.

    Der ruhige, unaufgeregter Ton des Buches bleibt dem Gegendstand angemessen, und auch die geduldige Ausrichtung an der historischen Chronologie erweist sich als adäquates Ordnungsprinzip. Prinz hat ein Buch für junge Leser geschrieben, die insgeheim schon erwachsen sind – nicht, weil seine Sprache allzu zu schwierig, das Thema zu komplex wäre. Sondern weil er zeigt, dass sich die Widersprüche eines Lebens nicht immer aus der Welt schaffen lassen.