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Liebesgedichte

"Der Schmerz ist das Du in der Liebe."

Elsbeth Wolfheim |
    Dieses Bekenntnis der 1892 in Moskau geborenen Dichterin Marina Zwetajewa könnte als Motto über einer Sammlung von Liebesgedichten stehen, die ihr Herausgeber und einfühlsamer Übersetzer Ralph Dutli vorgelegt hat. Aus dem umfangreichen lyrischen Werk der Zwetajewa, das kühn mit allen tradierten Formen bricht, rund hundert Liebesgedichte auszuwählen, ist eine glückliche Idee und eine provozierende zugleich. Denn Liebeserfüllung wird in dieser Auswahl so gut wie nie thematisiert. Im Gegenteil: die meisten sprechen von Niederlagen, Trennungen, Verzweiflung.

    "Ich erkenne die Liebe am Schmerz - Den Körper lang bodenwärts.

    Dabei hat die Dichterin in zahlreichen Liebesbeziehungen - fordernd und possessiv, dann wieder in gekränktem Stolz sich abwendend - die Verschmelzung mit dem Du gesucht, doch sie gelang immer nur für eine kurze Frist. Niemandem jedoch, der diese Gedichte liest, käme es in den Sinn, diese ungewöhnliche Dichterin als frivol zu bezeichnen, als flatterhaft und wenig wählerisch. Überspitzt könnte man sagen, sie liebte, um ihr erotisches Begehren in Poesie zu übersetzen. Denn das "heilige Handwerk" der Poesie war der zentrale Impuls ihrer Existenz.

    Von außen betrachtet, führte Zwetajewa scheinbar ein bürgerliches Leben. Sie heiratete mit zwanzig Jahren den um ein Jahr jüngeren Sergej Efron, dem sie zu "folgen" versprach "wie ein Hund". Sie gebar ihm drei Kinder, die jüngere Tochter verhungerte im Bürgerkrieg in Moskau, während der Ehemann sich 1917 der konterrevolutionären "Weißen Armee" anschloß und für fünf Jahre verschollen blieb. Im Prager Exil trafen sie wieder zusammen, hier wurde der Sohn Georgij geboren. 1925 fand die Familie Asyl in Paris, aus dem Sergej Efron 1937 zurück nach Rußland floh. Zwei Jahre später folgte Marina Zwetajewa ihm nach, doch sie sah ihn nie wieder. Der Ehemann wurde erschossen, die älteste Tochter in den Gulag verbannt. 1941 nahm sich die Dicherin das Leben.

    Im Pariser Exil, das die Kräfte der Zwetajewa fast bis an den Rand erschöpfte, hat sie vornehmlich Prosa, kaum noch Gedichte geschrieben. Folgerichtig umfaßt Ralph Dutlis Auswahl das dichterisch ungemein produktive Jahrzehnt zwischen 1914 und 1924. Die letzte Strophe eines Gedichts von 1915:

    Ach, wie fern ist uns der Himmel! Lippen - nah im Dunkel und vertraut ... Richte nicht, du Gott! Denn niemals warst du auf Erden eine Frau.

    Wie fast alle anderen auch, ist dieses Gedicht nicht von der Liebe zu ihrem Ehemann inspiriert, doch von wem? Darüber gibt der kenntnisreiche Kommentar des Herausgebers keine Auskunft. Im Grunde ist es auch nicht von Belang, wessen Lippen die der Zwetajewa berührten, bevor sie diese Strophen schrieb; sie sind - so Dutli - Ausdruck ihrer "erotischen Radikalität", der letztlich eigenes Ungestüm genügte.

    Schuldgefühle ob ihrer vielen Beziehungen? Die kannte sie nicht. Sie gesteht auch Gott nicht zu, darüber zu richten. Die Begründung: er war auf Erden niemals eine Frau. Nicht in animalischer Weiblichkeit indes erkannte Zwetajewa ihre Verwirklichung, sodern in der Sublimierung- weiblicher und männlicher Elemente ins Androgyne.

    "Von jeder weiblichen Sicht habe ich mich schon 1916 losgesagt, aus der Überzeugung, daß es in der Dichtung wesentlichere Unterscheidungsmerkmale gibt als die Zugehörigkeit zum Geschlecht."

    Aufhorchen läßt bei diesem Bekenntnis die Zeitangabe: 1916. Denn kurz zuvor hatte sich die "erste Katastrophe" ihres Lebens ereignet, der Abbruch ihrer Liebesbeziehung zu der um sieben Jahre älteren Lyrikerin Sofja Parnok. Diese von Begehren, von Eifersucht, von Trotz und Unterwerfung aufgewühlte Beziehung - sie dauerte fast eineinhalb Jahre - inspirierte Zwetajewa zu einem ihrer schönsten Gedichtzyklen

    Deine Seele steckt in meiner Seele - steckt mir quer.

    Auffallend - bei aller Anmut bereits in diesem Zyklus der für Zwetajewa charakteristische Duktus, die Schroffheit, das lapidar Ungefällige, die staccatohafte Syntax, die oft ohne Verben auskommt -, für den Übersetzer eine schwere Hürde, die Ralph Dutli fast immer meisterhaft nimmt. Zwetajewa spürt es selbst. In einem an den Dichter Ossip Mandelstam gerichteten Gedicht fragt sie den Geliebten einmal:

    Ist dir, mein junger Derschawin Mein Vers nicht zu ruppig, zu schrill?

    Ruppig? Das trifft es nicht. Die Brüche in ihrer Sprache geben doch die abrupten Einbrüche ihrer Gefühlswelt adäquat wieder, vergleichbar dem Aufprall von Wellen gegen Felsen, die das Wasser wieder zurückschleudern, zurück in das Ich der Dichterin, die die Liebe einmal als "Jammertal" apostrophiert. Beglückung, Erfüllung in der Liebe ersehnte Zwetajewa gleichwohl. Die Liebesgedichte zum großen Teil erstmals ins Deutsche übertragen, bezeugen es noch und noch. Bisweilen blieb ihr allein die Imagination, so in dem Pasternak gewidmeten Zyklus, aus dem Dutli zehn Gedichte aus dem Jahre 1923 auswählte. Und doch verlieh ihr der Traum Allmachtsgefühle:

    Von meinem Stolz herab, der hohen Zeder, Schau ich auf diese Welt: der Schiffe Lauf Die Feuerröten streunen ... Das Innere der Meere Wende ich um - und bringe dich vom Grund herauf!

    Die leidenschaftlich ersehnte Vereinigung mit dem bewunderten Dichter - sie konnte nur in Zwetajewas Träumen stattfinden, waren doch beide weltenfern voneinander getrennt: sie im Exil, er in Moskau. Alle zehn Gedichte haben etwas Forderndes, Erotik schimmert nur verhalten hindurch: Sie sind ein Schrei nach Liebe im Wissen um ihre Unerfüllbarkeit. Die Dichterin ist die auf die Felsen von Naxos verbannte Ariadne, die um Theseus klagt.

    Ein halbes Jahr darauf tritt ein anderer Mann in ihr Leben, ganz offenbar ein Casanova, der nicht die berühmte Dichterin begehrte, sondern der sexuellen Ausstrahlung dieser Frau erlag. In einem Brief an eine Prager Freundin resümiert sie diese Erfahrung mit den Worten:

    "Zum ersten Mal suche ich Glück statt Verhängnis, weil ich nehmen statt geben, sein statt mich verlieren."

    Doch dieses Glück währte nur kurze Zeit. Der Geliebte floh vor ihrer Habsucht, die ihn zum "Mythos" stilisiert hatte, wie er nachträglich gestand. War sie im tiefsten Grunde doch nicht die große Liebende, sondern eine "Nonne", wie Mandelstam ihr einmal vorhielt? Mag das für ihr persönliches Leben zutreffen, in ihrer Posie war sie es nicht. Der dichterische Ertrag, ein überaus umfangreicher, den Dutli nur in Auszügen präsentieren konnte, spricht seine eigene Sprache. Neben den Gedichten an Sofja Parnok gehören die an Konstantin Rodsewitsch zu den sinnlichsten und leichtfüßigsten dieser Auswahl. Die meisten jedoch - auch drei der biblischen Maria Magdalena gewidmete Gedichte, bestätigen mit hinreißenden Wort-Ekstasen und stolzer Selbstgewißtheit, daß "der Schmerz das Du in der Liebe" ist.