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Liebesgeschichte in Tasmanien

"Sturm" heißt das neue Buch von Nicolas Shakespeare. "Ein Roman wagt das nicht allzu oft, anhand von zwei Menschen zu zeigen, wie die Zeit vergeht. Ich will nicht behaupten, dass mir das geglückt ist, aber ich habe die Herausforderung angenommen", sagt der Autor über sein Werk.

Moderation: Hajo Steinert | 04.12.2007
    Hajo Steinert: Nicholas Shakespeare, warum sind Sie, ein britischer Autor, der in London die ganze literarische Welt um sich versammeln kann, ausgerechnet nach Tasmanien gezogen, ans Ende der Welt?

    Nicholas Shakespeare: Das war so: Ich habe eine Biografie über den englischen Reiseschriftsteller Bruce Chatwin geschrieben und bewegte mich sieben Jahre lang auf seinen Spuren durch die ganze Welt, beflügelt von einem Gefühl großer Verbundenheit, fast wie früher, als man die Engländer als Strafgefangene nach Australien geschickt hat. Auch ich war gewissermaßen auf meinem eigenen Transport rund um die Welt, eingesperrt mit Bruce Chatwin. Als das Buch fertig war, wollte ich nur noch eins: unbedingt einen unberührten Ort finden, einen, an dem Chatwin garantiert noch nie gewesen war, und da blieb nur Tasmanien, eine Insel, von der man mir schon gesagt hatte, wie wunderschön sie sei. Ich bin also erst mal eine Woche lang hingefahren mit meiner Freundin und habe mich sofort in diese außergewöhnliche Landschaft verliebt. Es war alles so rein und unberührt. Ich entdeckte ein kleines Haus an einem einsamen Strand - wunderbar! Als mein Vater zu Besuch kam, wollte er mich überreden, dieses Haus nicht zu kaufen. Aber als er es gesehen hat, sind ihm Tränen in die Augen geschossen. So etwas Schönes habe er noch nie gesehen.

    Wieder zu Hause rief mein Vater aus England an, er habe im Keller einen ganzen Sack voller Briefe gefunden, eine Korrespondenz, die mehr als 200 Jahre alt sei, es sehe ganz so aus, als hätten wir Vorfahren in Tasmanien. Er hat mir den ganzen Sack geschickt. Damals hielt ich mich im Schloss Wiepersdorf auf, arbeitete an einem Roman über Ostdeutschland. Und dann diese Briefe aus den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Einer der beiden Briefschreiber war genau der Mann, der Tasmanien einst im Auftrag der Krone zum britischen Territorium erklärt hatte, er war der Vater Tasmaniens: Anthony van Kemp - eine fürchterliche Figur!

    Steinert: Ich muss nachtragen, dass Nicholas Shakespeare einen Roman über Ostdeutschland geschrieben hat, erschienen unter dem Titel "In dieser einen Nacht", vor drei Jahren im Rowohlt Verlag erschienen. Es war der durchaus geglückte Versuch, deutsche Geschichte von außen zu beschreiben. Auch aus der Korrespondenz des Groß-Groß-Groß-Großonkels ist ein Buch geworden, unter dem Titel "In Tasmanien" im mare-Buchverlag erschienen. Da denkt man natürlich gleich an den Titel "In Patagonien" von Bruce Chatwin, Ihrem großen Idol. Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Autoren Nicholas Shakespeare und Bruce Chatwin?

    Shakespeare: Chatwin ist ein wunderbarer Schriftsteller, er schreibt diese unglaublich klare Prosa, in der er selbst gar nicht vorkommt, allerhöchstens in der Floskel: "I see I said"'. In der persönlichen Begegnung war das ganz anders, er redete ununterbrochen von sich selbst. Bruce Chatwin ließ jede Form der Gefühligkeit außer Acht, das gibt seiner Prosa diesen wunderbar klaren, kühlen Effekt. Auch wenn ich seine Prosa sehr bewundere, bei mir geht es im Gegensatz zu ihm immer um Herzensdinge. Ich schaue gerne auf Verletzungen. in zwischenmenschlichen Beziehungen. All das hat Bruce Chatwin nicht interessiert.

    Steinert: Dieses Herzblut, das Nicholas Shakespeare in seine Arbeit legt, ist auch Anlass unseres Gesprächs. Sein neuer Roman heißt "Secrets of the Sea". Die deutsche Übersetzung gibt sich etwas kühner: "Der Sturm". Es ist eine Liebesgeschichte zwischen Alex und Merridy, beide ursprünglich aus Tasmanien, es entwickelt sich eine sehr komplizierte Liebesgeschichte, in der der Wunsch nach einem Kind eine große Rolle spielt. Können Sie diese Geschichte erklären?

    Shakespeare: Es ist immer sehr schwer, eine Geschichte zu erklären, die man selbst geschrieben hat. Ich wollte eine Geschichte schreiben, die über die Ozeane geht, so viel stand fest. Und das Besondere an Tasmanien ist ja, wenn man dort ist, scheint die Insel gar nicht das Ende der Welt zu sein. London, Deutschland, das ist das Ende der Welt! Alles, was sich in diesen kleinen Gemeinden in Tasmanien zuträgt, wird große Bühne, große Oper. Ich habe mal in Argentinien gearbeitet, in der Pampa, ich war so eine Art Cowboy. Und dort gibt es einen sehr treffenden Spruch: "kleines Dorf, große Hölle". Ein Unfall, eine Leidenschaft, ein Seitensprung - in so einem Dorf erschüttert jeden alles. Und genau das hat mich fasziniert. Eine solche Liebesgeschichte am Ende der Welt kann man inszenieren wie eine große Oper.

    Dazu die australische Landschaft! Voller Melancholie, voller Verlust. Es gibt keine Aborigines mehr in Tasmanien. Der verschwundene Körper ist ein zentraler Bestandteil der australischen Mythologie, zum Beispiel in den Romanen von Patrick White. Auch "Picnic at Hanging Rock" von Joan Lindsay ist so eine Geschichte. Auch da verschwinden zwei Personen, die einen Berg besteigen wollten. In meinem Dorf hat sich folgende Geschichte zugetragen: Ein kleines Kind ist mir nichts dir nichts von der Veranda verschwunden. Drei Tag lang hat man nach ihm gesucht und dann endlich einen Schuh mit einem Strumpf in einem Teich gefunden. Der Körper des Kindes blieb verschwunden, man hat nie einen Täter gefunden. Die Mutter wurde verrückt. Das war um 1920. Um die gleiche Zeit kam ein 78-jähriger Mann zurück, er wurde seit einem Schiffsunglück von 1850 vermisst. Alle seine Geschwister wurden angeschwemmt, auch sein Name stand auf dem Grabstein. Und doch hatte er überlebt und war als alter Mann zurückgekommen, um das Grab seiner Brüder und Schwestern zu finden. Solche Geschichten haben mich sehr berührt. Ich wollte eine Geschichte schreiben, in der sich all das wieder findet. Diese Isolation, diese Liebesgeschichten, die glücken oder scheitern, in denen man Kinder bekommen kann oder auch nicht. Es ist also eine Liebesgeschichte geworden vor dem Hintergrund dieser einsamen Wildnis.

    Steinert: Es ist auch ein Roman, der sehr viele aktuelle Themen anspricht wie die künstliche Befruchtung. Alex und Merridy kommen auch über den medizinischen Weg nicht zu einem Kind. Sie verarbeiten auch viele romantische Stoffe. Kann es sein, dass Sie sich hier auch als Schriftsteller von ihren ersten journalistischen Arbeiten befreien und somit fortentwickeln wollten?

    Shakespeare: Auf jeden Fall. Als ich jung und alleinstehend war, konnte ich meinen journalistischen Recherchen ausgiebig nachgehen. Jetzt bin ich 50, verheiratet und habe zwei kleine Kinder. Das ist so, als hätte ich Speere in den Füßen. Ich habe also aus der Not eine Tugend gemacht und dieses unbesiedelte Land erobert. Es handelt sich hier nicht um ein geografisches Land, sondern um ein Territorium der Sesshaftigkeit. Ich wurde regelrecht domestiziert. Ich war früher so naiv, heute beschämt mich das. Alle diese Freunde mit Kindern! Früher habe ich immer gesagt, was für ein langweiliges Leben die führen! Heute wird mir klar, es ist überhaupt nicht langweilig, es ist jeden Tag die große Oper!

    Jeden Tag erlebe ich Zeter und Mordio, jeden Abend Aida und Nabucco! Ich dachte, so lange die Kräfte noch reichen, will ich dieses domestizierte Gelände betreten. Es ist in gewisser Weise genau so politisch wie damals mit der peruanischen Guerillabewegung "Der leuchtende Pfad" oder der DDR. Alles Themen, über die ich Bücher geschrieben habe. Wenn man über zwei Menschen erzählt, die zusammenleben, dann gibt es nichts Spannenderes als diese plötzlichen Umschwünge: An einem Tag liegt alle Macht bei dem einen Partner, am nächsten beim anderen. Wie geht man damit um über so viele Jahre hinweg? Ich habe mich von einem Roman von Patrick White inspirieren lassen, "The Tree of Man". Es geht darin um australische Farmer. Zwei lernen sich kennen, verlieben sich, sie heiraten, bekommen Kinder, sie öden sich an, gehen fremd, und am Ende lieben sie sich doch wieder. Ein Roman wagt das nicht allzu oft, anhand von zwei Menschen zu zeigen, wie die Zeit vergeht. Ich will nicht behaupten, dass mir das geglückt ist, aber ich habe die Herausforderung angenommen.

    Eines meiner großen Vorbilder ist übrigens Garcia Marquez. "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" hat mich fasziniert, es ist die Liebe eines Lebens, aber man muss sie sich auch über sein ganzes Leben lang verdienen und kann die Frau, die man liebt, nicht berühren, bis man schon fast zu alt ist.

    Eine Schule des Begehrens: Man begehrt, das Begehren wird erwidert, ein Desaster kommt am Ende dabei heraus. Ich wollte diese verzögerte Leidenschaft erkunden. Am Ende haben die Liebenden diese Leidenschaft verdient, sie können direkt auf einer tieferen, reiferen Ebene von vorne beginnen.

    Steinert: Sie deuten an, in welche Tradition Sie sich stellen, Patrick White, Gabriel Garcia Marquez, sie beweisen in diesem Roman, der eigentlich eine Novelle werden sollte, einen vergleichbaren epischen Atem. Der Roman ist wie die antike Tragödie in fünf Kapitel gefasst, es gibt auch einen novellistischen Wendepunkt. Es findet ein Schiffsunglück statt, ein junger Mann wird angeschwemmt, mischt sich in das Liebesleben von Merridy und Alex ein. Wie sind Sie zu dieser kinoreifen Idee gekommen?

    Shakespeare: Ich lebe ja an der Küste und bin ständig diesen arktischen Stürmen ausgesetzt. Es werden immer wieder Kreaturen angespült, die man noch nicht gesehen hat. Manchmal sind Muscheln dabei, die Jahrmillionen alt sind. Um 1850 gab es ein Schiffsunglück, bei dem fünf Personen angeschwemmt wurden. Mich hat also nicht so sehr der Hollywood-Aspekt bekümmert. Ich fühle mich wie in einem Schiff, mir gegenüber der Südpol. Mich haben diese Naturgewalten fasziniert. Wenn man in London lebt oder in Hamburg oder in Berlin, dann bekommt man davon ja nichts mit. Allein die Südlichter, diese moosfarbenen, zuckenden Blitze - sehr aufregend! Wenn ich nachts zum Himmel schaue, kann ich die Ringe des Saturn sehen!

    In meinem Roman ist es so: Merridy und Alex können keine Kinder haben, sie betreiben eine Austernfarm. Wenn man eine Auster immer weiter wachsen lässt, dann wird sie dick und schwabbelig wie ein britischer Banker. Also bringt man sie alle drei Monate an Land und steckt sie in eine Maschine. Eine Art Zentrifuge schüttelt sie durch. Sie bekommen einen Riesenschock, dadurch wird ihr Fleisch gesund. Wenn man sich eine Auster anschaut, sieht man drei Ringe, einer davon ist der Ring, der davon erzählt, wie sie durch einen Schock lebendig wurde. Ich wollte, dass die Liebe zwischen Alex und Merridy, deren Leben in 17 Jahren so abgestanden war wie fauliges Wasser, durch die Ankunft dieses Mannes wieder lebendig würde.

    Steinert: Ist es wirklich so, dass Sie heute mit einem romantischen Blick aufs Meer schreiben können, befreit von der Last der dokumentarischen Stoffe?

    Shakespeare: Diese Geschichte habe ich in Wiltshire geschrieben, in einer kleinen Hütte in der Nähe von Stonehenge, also in England, und so kam alles wieder in den Fokus, was sich am anderen Ende der Erde abspielt. Und genau so habe ich meinen Roman über Ostdeutschland in einer Hütte in Tasmanien geschrieben, in der sich die Beutelratten tummelten. Ich verbrachte Zehn-Stunden-Tage in einer Hütte, das ist gar nicht so glamourös. Ich kann über Tasmanien leichter schreiben, wenn ich nicht auch noch dort bin.

    Steinert: Wie sieht Ihre aktuelle literarische Arbeit aus?

    Shakespeare: Ich arbeite an einem kürzeren, etwas leichteren und lustigeren Roman, der in London spielt. Ich habe das Gefühl, als hätte ich meinen Humor in den letzten Jahren 25 Jahren eingesperrt, und der will jetzt unbedingt einen Spaziergang machen. Es geht um einen jungen Mann, der sehr arm ist, und der plötzlich eine Menge Geld verdient.

    Steinert: Vielen Dank für das Gespräch.