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Liebesklagen und Freude

Die Musik, die Sie in dieser Sendung hören, hat eine lange Geschichte hinter sich, denn sie ist mehr als 550 Jahre alt. Doch eine neue Aufnahme lässt sie ungemein frisch und innovativ klingen und setzt neue Maßstäbe in diesem Repertoirebereich. Das junge flämische Ensemble Graindelavoix um den Sänger und Musikwissenschaftler Björn Schmelzer hat sich den Chansons des burgundischen Hofmusikers Gilles de Bins zugewandt, der sich Gilles Binchois oder- wie Spezialisten für Altfranzösisch meinen - Gilles Binchois nannte. Die gerade beim Label Glossa erschienene CD trägt den Titel 'Joye' oder-wieder altfranzösisch-Joye.

Von Rainer Baumgärtner |
    Musikbeispiel: Johannes Ockeghem, Déploration sur la mort de Binchois

    Dies war der Beginn des Klagegesanges, mit dem der Musiker Johannes Ockeghem seinen im Jahr 1460 gestorbenen Lehrer Gilles Binchois ehrte. Die 'Déploration' geht über eine höfliche Pflichterfüllung weit hinaus. Indem Ockeghem eine Melodie von Binchois zitiert und an seinen Kompositionsstil anknüpft, wird sie zu einer liebevollen Hommage an den Vorgänger. Das Ensemble Graindelavoix-frei übersetzt etwa: Der Kern der Stimme beschließt mit diesem Werk seine neue CD, die einigen der höfischen Liebeslieder Binchois gewidmet ist. Da es sich dabei durchgehend um Liebesklagen handelt, mutet der Titel der CD zunächst paradox an: Joye-Freude. Wie sich dieser scheinbare Widerspruch auflöst und wie sich Binchois Klagen kulturgeschichtlich einordnen lassen, hat Ensembleleiter Björn Schmelzer in einem instruktiven Aufsatz dargelegt. Im CD-Heft ist er in vier Sprachen abgedruckt - Deutsch ist allerdings nicht darunter.

    Hier erklärt sich auch, weshalb Binchois in Ockeghems Trauergesang als "père de joyeuseté" bezeichnet wird, als "Vater der Freude" - wo doch so gut wie alle seine Lieder einen kultiviert-zurückhaltenden, um nicht zu sagen trauernd-melancholischen Charakter tragen. Doch die 'Freude', die hier gemeint ist, ist keine äußerliche Emotion, sondern eine innere Empfindung. Der unerträgliche Schmerz über den Verlust der Geliebten - oder über das Zurückgewiesen-Werden- wird in der 'plainte', also im Klagegesang, in ein sublimes, leises Glücksgefühl umgewandelt. (Ein Gefühl, das dann auch vom Zuhörer verstanden und nachempfunden werden kann.) Hier ein besonders lyrisch angelegtes Beispiel von Gilles Binchois, "Qui veut mesdire-Der, der etwas übel will".

    Musikbeispiel: Gilles de Bins dit Binchois, Qui veut mesdire (Rondeau)

    Das Rondeau "Qui veut mesdire" von Gilles Binchois mit Patrizia Hardt und den vier Instrumentalisten des Ensembles Graindelavoix. Bei der Besetzung knüpft die neue CD mit Liebesklagen von Gilles Binchois an die Situation am burgundischen Hof um 1450 herum an. Insbesondere zwei blinde kastilische Fidelspieler erregten damals über Burgund hinaus Aufsehen. Überlegungen, was diese Musiker ohne Noten gespielt haben könnten, sowie Hinweise in Theoretikertraktaten lieferten Graindelavoix den Impuls, die Chansons in einer von Mittelalterensembles bisher nicht gewagten Weise zu realisieren. Bislang ging die Diskussion eher darum, ob die Lieder überhaupt von Instrumenten begleitet werden sollten. Dies steht für Graindelavoix-Gründer Björn Schmelzer außer Frage und er stellt mit seinem Ensemble nun die verschiedensten Möglichkeiten vor, wie Sänger und Instrumentalisten zusammen gewirkt haben könnten. Sein Hauptansatz besteht darin, dass die Instrumentalisten die aufgezeichneten Gesangsstimmen umspielen und sie dabei zum Teil stark verzieren und anreichern. (Dies geschieht ad hoc, wird also nicht eingeübt.) Ebenso wichtig ist es Schmelzer, das seiner Ansicht nach moderne Konzept der Klangtransparenz in Frage zu stellen. Dies bedeutet, dass die Diskantstimme an vielen Stellen nicht mehr dominiert-wie bei Realisierungen bisher, sondern Teil eines Stimmengeflechts wird. Zu seinen bemerkenswert vielfältigen und auf jedes Werk individuell abgestimmten Lösungen zählt zudem das Vokalisieren von Stimmen in einzelnen Chansonabschnitten. Dies ist auch im folgenden Rondeau zu hören, das mit den Worten beginnt "Les tres doulx yeux-Die überaus lieblichen Augen im Gesicht meiner Dame lassen mich oft lachen und verzückt sein".

    Musikbeispiel: Gilles Binchois, Les tres doulx yeux (Rondeau)

    Silvie Moors und Björn Schmelzer waren die Gesangssolisten im Rondeau "Les tres doulx yeux", dessen Text wie bei den meisten der Chansons von Gilles Binchois vom Komponisten selbst stammen dürfte. (Am Hof des Burgunderherzogs Philipps des Guten angestellt, besaß dieser übrigens die niederen kirchlichen Weihen, er war jedoch kein Priester. Aus Pfründen an verschiedenen Kirchen erzielte er beträchtliche Einnahmen.)

    Die höfischen Liebesklagen Binchois sind formal raffiniert gebaut und besitzen einschmeichelnde und graziöse Melodien. Gerade die sinnliche Komponente dieser Stücke stellt das Ensemble Graindelavoix auf seiner neuen CD in den Mittelpunkt, im Gegensatz zum gelehrt-trockenen Ansatz, der Realisierungen anderer Ensembles nicht selten geprägt hat. Unter Musikwissenschaftlern wird man so manches Detail der Aufnahme sicherlich kontrovers diskutieren, doch ohne Zweifel hat Graindelavoix diesem Repertoire einen ganz neuen Klanghorizont eröffnet. Ein Teil dieses neuen ‘Sounds' besteht auch im charakteristischen Schnarren der gotischen Harfe, die man eingesetzt hat. Illustrationen aus der Zeit von Binchois belegen, dass dieser Harfentyp damals der gebräuchliche war, doch Graindelavoix ist das erste Ensemble, das dies tatsächlich berücksichtigt. Sehr präsent ist die Harfe-im Zusammenspiel mit der Laute-im Rondeau "Amoreux suy-Ich bin verliebt".

    Musikbeispiel: Gilles Binchois, Amoureux suy (Rondeau)

    Dies war das Rondeau "Amoureux suy" von Gilles Binchois. Des sangen Yves van Handenhove, Lieven Gouwy und Bart Meyneckens, die Laute spielte Jan van Outryve und die mit Schnarrstiften ausgestattete gotische Harfe wurde vom schottischen Spezialisten William Taylor gespielt. Zu finden ist das Stück auf der neuen CD mit dem Titel "Joye", auf der das flämische Ensemble Graindelavoix einige der schmerzhaft-beglückenden Liebesklagen von Gilles Binchois eingespielt hat. Die CD ist beim spanischen Label Glossa erschienen und in Deutschland über die Musikvertriebe NOTE 1 und jpc erhältlich.

    Titel: "Joye" - Les plaaintes de Gilles de Bins dit Binchois
    Ausführende: Graindelavoix
    Leitung: Björn Schmelzer
    Label: Glossa, LC 00690
    Bestell-Nr.: GCD P32102