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Liebevolle menschliche Geschichten

Ein Wochenende auf dem platten Land des Mittleren Westens der USA. Eine Familie, in der jeder seinen Traum hat: der Vater den Rückkauf des stiefväterlichen Gewehrs, die Mutter das Treffen in der großen Stadt mit ihrem Liebhaber, der kleine Micah die Entdeckung der Welt an sich.

Durchgelesen von Martin Grzimek | 06.02.2009
    Charles Darling lebte mit seiner Frau Joan, ihrem Sohn Micah und Joans Tochter Lyris auf einem zwei Morgen großen Grundstück südlich der Stadt Boris. Das Haus war vor hundert Jahren erbaut worden und hatte vor vierzig Jahren einen Anbau bekommen – aber die beiden Teile passten überhaupt nicht zusammen. Der ältere Teil war ein Landhaus mit Mansardendach, der neuere im Grunde nur ein Vorraum. Auf alle Fälle war das Haus zu klein, besonders seit Lyris dazugekommen war, die Tochter, die Joan sechzehn Jahre zuvor zur Adoption freigegeben hatte.

    Charles, Joan, Lyris und der kleine Micah – das sind die Hauptpersonen in Tom Drurys Roman "Die Traumjäger", der in den USA schon im Jahr 2000 erschien. Der 52-jährige Autor stammt aus Iowa, einem der typischen Staaten des Mittleren Westens, bekannt für seine endlosen Mais- und Getreidefelder entlang der oft schnurgerade verlaufenden Landstraßen. In dem dünnbesiedelten Gebiet gibt es vor allem kleine Städte und vereinzelte Farmen, und in dieser Abgeschiedenheit ist Tom Drury aufgewachsen. Aus seinen Kindheitserinnerungen stammt das Personal seiner Romane und Kurzgeschichten. Es sind eigenwillige Menschen, die ihren anspruchslosen Alltag leben und ihren Tagträumen folgen. Die Biographien, die dabei entstehen, sind nicht selten skurril und verschroben, das Leben besteht aus einer Ansammlung kleiner zufälliger Geschichten.
    So beginnt der Roman "Die Traumjäger" damit, dass Charles versucht, das Gewehr seines schon lange verstorbenen Stiefvaters der Witwe des Reverend Matthews abzukaufen, dem der Stiefvater es irgendwann einmal geschenkt hatte.

    Es handelte sich um einen doppelläufigen Repetierer. 410, von Hutzel and Pfeil aus Cincinnati. Charles sah die verschnörkelte Schrift des auf der Basküle eingravierten Herstellernamens noch deutlich vor sich. Als der Pfarrer starb, erbte seine Frau die Waffe. Vielleicht war es ja sentimental von Charles, dass er sie nach so langer Zeit zurückhaben wollte, doch er war überzeugt, dass ein Gewehr auch ab und zu benutzt werden müsse. Ein Gewehr sollte einfach mehr sein als ein Dekorationsstück an der Wand einer Dame, die keinerlei Beziehung zu dem ehemaligen Besitzer hatte.

    Diese Mischung aus Sentimentalität und Funktionalität, Erinnerung und praktischem Handeln ist die Triebfeder, die die Charaktere dieses Romans in ständiger Bewegung hält. Tom Drury schildert sie in einer lakonischen, humorvollen, bisweilen verschmitzten Erzählweise, und das Komische und Aberwitzige der sich aneinanderreihenden Begegnungen und Erlebnisse ergeben sich wie von selbst aus dem Milieu heraus und der Eigenart der Protagonisten. Charles ist Klempner. Er repariert Wasserleitungen, macht Besorgungen, kauft bei einer Versteigerung eine Ziege für seinen Jüngsten und geht mit seiner Frau Joan um, als wäre sie ein guter Kumpel. Während Charles versucht, mit dem stiefväterlichen Gewehr ein Stück eigener Lebensgeschichte wiederzuerlangen, bereitet sich Joan auf ein Wochenende in einer der größeren Städte vor, wo sie auf einem Kongress von Tierschützern einen Vortrag halten soll.
    In Wahrheit aber zieht sie das Zusammentreffen mit Dr. Palomino in die Ferne, einem Arzt aus der Nachbarschaft, dem sie zufällig einmal bei einem aufkommenden Tornado das Leben rettete. Instinktiv ahnt Charles etwas von Joans Seitensprungabsichten, und als er ihren sorgfältig gepackten Koffer durchsucht, stößt er auf ihr Necessaire.

    Er öffnete ihr geblümtes Kosmetiktäschchen und nahm die silbernen und goldenen Röhrchen mit Lippenstift heraus, außerdem eine Wimpernzange, die wie eine gottlose Chirurgenschere aussah, und einen Malkasten für die Augen. Charles konnte Schminksachen nicht leiden. Er wollte nicht, dass Joan am Wochenende in der Stadt mit mehr Make-up herumlief, als sie bei ihrer Abreise im Gesicht hatte. Er wollte nicht, dass sie sich an einem fremden Ort für fremde Menschen herausputzte. Entweder, die Männer verknallten sich dann in sie, oder aber nicht, und dann stand sie alleine da mit der ganzen Schminke im Gesicht, die ihre hübschen Züge verkleisterte. Er vergrub das Make-up im Wäschekorb und füllte das geblümte Täschchen mit Walnüssen und einem Nussknacker aus der Büchse unter dem Tisch.

    Es ist typisch für Charles und für den gesamten Roman, dass alle Handlungen seiner Protagonisten von einer entwaffnenden Naivität begleitet werden, von einem Witz ohne Schadenfreude, so wie Charles die Schminksachen nicht nur gegen Nüsse austauscht, sondern auch gleich noch den Nussknacker dazulegt, damit die Nüsse einen Sinn haben. Auch die kindlichen Figuren wie Lyris und Micah versieht der Autor mit einem schmunzelnden Ernst, etwa wenn er das Mädchen an einen merkwürdigen Jungen geraten lässt, der nachts mit einem Metallsuchgerät durch die Wälder rennt und dann doch von Lyris mehr will als nur Freundschaft.
    Oder er widmet sich den sprunghaft wechselnden Interessen des Siebenjährigen, der alles, was er tut, mit größter Verwunderung wahrnimmt, so wie Kinder die Welt entdecken: dem kleinen Micah ist alles gleich nah oder gleich fern, die Sterne am Nachthimmel oder das an die Wand gelehnte Fahrrad. Micah ist der unschuldigste aller Träumer in diesem feinsinnigen Roman, der von nichts als einem Wochenende einer kleinen, bunt zusammengewürfelten Familie erzählt und doch aus einer Fülle von kleinen, sorgfältig aneinander gereihten liebevoll menschlichen Geschichten besteht.

    Tom Drury: Die Traumjäger. Roman. Aus dem Amerikanischen von Gerhard Falkner und Nora Matocza. Clett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008. 255S., 19,90 Euro.