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Liebieghaus in Frankfurt
Veristische Skulptur vom antiken Ägypten bis heute

Von Christian Gampert | 05.10.2014
    Die stark stilisierte sumerische Beter-Statue aus dem dritten Jahrtausend vor Christus hat ungewöhnlich große und heute leere Augenhöhlen - in denen sich ursprünglich farbige Einlagen aus Lapislazuli, Perlmutt oder Glas befanden, die eindrucksvoll die Augen simulierten. Der vor Riace (bei Reggio di Calabria) aus dem Meer gezogene große Bronzekrieger, etwa 450 vor Christus gefertigt, war in seinem (nun rekonstruierten) Urzustand körperfarbig bunt bemalt und trug einen güldenen Helm. Und das holzgeschnitzte Christuskind aus dem 16. Jahrhundert, aus dem Ursulinenkloster bei Landshut, hat heute noch Augen aus Glas mit aufgeschmolzener dunkler Iris und, verwirrenderweise, echtem Haar.
    Das alles widerspricht unserer heutigen Vorstellung von Skulptur diametral, denn sie ist von Renaissance und Klassizismus geprägt und favorisiert, gerade in der Rückschau auf ferne Zeitalter, eine idealisierende und auf die pure Form bezogene Darstellung des menschlichen Körpers. Und wenn man gleich zu Beginn vor einer thronenden Barock-Madonna aus dem Süddeutschen steht - mit Echthaar, echten Textilien, Perlen und Glaskugeln -, dann fragt man sich unwillkürlich, was dieser offensive Kitsch neben den altägyptischen Sarkophagen aus der ständigen Sammlung zu suchen hat, die gleich daneben stehen. Kurator Stefan Roller sieht das anders:
    "Das ist kein Kitsch, wir sind es nur nicht mehr gewohnt. Es ist genau der Sinn dieser Figur, gleich am Anfang zu zeigen, was Kultur viele Jahrhunderte lang ausgemacht hat, was normal war und was wir vergessen haben. Skulptur war immer weitaus mehr als reine Form, sondern man hat alles herangenommen und alles benützt, um Skulptur so lebensnah und realistisch zu gestalten wie nur möglich."
    Überrumpelung und Illusion
    Die veristische Skulptur setzt auf Beeindruckung, auf Überrumpelung, auf Illusion. Und es scheint, wenn man diese Ausstellung abschreitet, dieses Bedürfnis nach Echtheit, nach Drastik, nach Lebensnähe immer gegeben zu haben - von den Griechen, die ihre Skulpturen bemalten, über das Mittelalter und den Barock, also Zeitalter, die die sowieso schon harten weltlichen Lebensbedingungen in der Skulptur nochmals zu übertrumpfen versuchten (um das Leiden Christi anschaulich zu machen), bis zu den heutigen Hyperrealisten wie Duane Hanson oder John de Andrea, die Alltagsmenschen perfekt nachzuformen wissen, der eine mit Polyesterharz, der andere in Bronze.
    Die Konzentration auf die Technik ist ein weiteres zunächst befremdliches Moment dieser Ausstellung, die uns von Keramik, Terracotta, Wachs, Bronze, Holz, Glas, Gips, Porzellan, Haar und allen möglichen Requisiten eine ganze Palette von skulpturtauglichen Materialien vorführt.
    "Zum einen fasziniert uns die Technik immer, die Art und Weise, wie etwas hergestellt wird, und für uns war ein ganz entscheidender Punkt die Feststellung, dass sich bestimmte Techniken seit 4.000 Jahren kaum verändert haben oder immer wieder aufgegriffen werden, immer wieder aufleben."
    Blutige Drastik à la Hollywood
    Hollywood ist nichts gegen die blutige Drastik, die tiefen, über den ganzen Körper verteilten Wunden jener Christusfigur aus Lindenholz eines Meisters aus Oberbayern, die den großen Saal dominiert: Hier kann man physisch erfahren, was Geißelung bedeutet. Und in der Tat haben einige der heutigen Hyperrealisten, die jede Hautfalte im Gesicht oder am Hintern nachzubilden verstehen, ihr Handwerk in der Filmbranche gelernt.
    Die Ausstellung bietet die Gelegenheit, einige bei uns eher unbekannte Meister der spanischen Barock kennen zu lernen, zum Beispiel Pedro de Mena mit einem leidenden Christus und Torcuato Ruiz de Peral mit einem brutalst abgeschlagenen Kopf des Johannes. Andererseits wird in Erinnerung gerufen, dass auch die hiesige spätgotische Sakralskulptur stets bemalt war – etwa die Apostelbüsten des Michel Erhart vom Blaubeurer Hochaltar. Und auch wenn man weiß, dass das Abbild nicht alles ist, bleibt diese von den Sichtachsen schön komponierte Schau im Frankfurter Liebighaus eine beeindruckende Abweichung vom normalen Ausstellungsbetrieb. Sie endet mit den Hyperrealisten, aber letztlich ganz traditionell: mit Sam Jinks, der sich mit seinem toten Vater zur Pietà gruppiert, und mit Ron Mueck, der einen verkleinerten Menschen im Totenhemd zeigt.