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Lied der Bewegung

Vor allem die intensive Beziehung zur Musik von Komponisten wie Steve Reich, Beethoven oder Bartok zeichnete die Arbeiten der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker bislang aus. Ihr jüngstes Stück "The Song" am Pariser Théâtre de la Ville verwirrt das Publikum mit einer eher geräuschhaften Begleitung - bis die Tänzer Beatles-Lieder zu singen beginnen.

Von Wiebke Hüster |
    Aus der erstaunlicherweise ursprünglich rein männlichen Besetzung ist dann doch eine gemischte geworden: Acht Männer und eine Frau tanzen in Anne Teresa de Keersmaekers neuem Stück "The Song". Stets am Rand der grau ausgeschlagenen quadratischen Tanzfläche bewegt sich eine weitere weibliche Person: Céline Bernard die Geräuschemacherin. Während des zweistündigen Tanzabends mischt sie sich mit immer neuen Utensilien akustisch ins Geschehen. Mal lässt sie ein Seil pfeifend die Luft durchschneiden, dann gießt sie etwas Wasser aus und reibt mit den Händen über die nasse Stelle, dass es quietscht. Sie knistert mit Plastik, tippt mit dem Schuh im Rhythmus einer Tanzphrase mit. Abgelöst wird diese musikalische Begleitung nur durch den einen oder anderen Tänzer, der ein kleines Lied singt, sehr informell - oder durch komplette Stille. Der Tanz dazu - viele Soli, viele Duette, viel Laufen im Kreis wie beim Mannschaftssport - der Tanz ist hinreißend, egal ob Geräusch oder rührend privater Gesang ihn begleitet. Aber viele Zuschauer im Pariser Théâtre de la Ville macht die Stille nervös. Fast ununterbrochen verlassen weitere Zuschauer das 1000-Plätze-Haus, als wär's ein Bassin, aus dem jemand den Stöpsel gezogen hat und jetzt tropft es. Genau das hat Anne Teresa de Keersmaeker wohl gewollt. Sie wollte aus ihrem hochdynamischen, stets von großartigen Kompositionen angetriebenen Tanztheaterreservoir den Stöpsel ziehen und sehen was passiert, wenn das Sprudelwasser der Musik abgelassen wird und der Tanz sich auf dem Trockenen wiederfindet. Wenn schließlich nach einer Stunde Eleanor Bauer zu einem der mit Gegenspannungen arbeitenden, elektrisierenden Soli ansetzt und dabei "Rocky Rackoon" von den Beatles singt, dann ist das ironische Lied über den Westernhelden, den es beim Showdown im Saloon erwischt, nicht rein als Scherz zu verstehen. Es funktioniert als Anspielung auf vielen Ebenen. Es ist ein Rekurs auf die Entstehung der Künste - war zuerst das Lied da oder der Tanz? Es ist ein Scherz über die Ungefährlichkeit des Tanzens und einer über sein - im Falle de Keersmaekers - Beharren auf der Ungegenständlichkeit. Von Saloonschießereien kann man ein Lied singen, aber kein Solo tanzen.

    Kurz darauf folgen die spektakulärsten Momente des gewagten Abends: Die Installation der bildenden Künstler Ann Veronica Janssens und Michel Francois, ein riesiger, an zwei Zügen befestigter Baldachin aus Silberfolie, wird von einer der Zugstangen ausgeklinkt, fällt knisternd herab und hängt nun senkrecht als gleißender Vorhang. Es dauert Minuten, bis das Kunstwerk langsam vollständig zu Boden gelassen ist, wobei es gleißt und knistert und das Licht des auf ihn gerichteten Scheinwerfers aufbricht und zurück in den Zuschauerraum wirft, blendend hell.

    Wenn der Vorhang unten liegt und immer noch funkelt und knistert wie ein langsam erlöschendes chinesisches Feuerwerk, ist klar, worauf die Bühnenbildner hier mit de Keersmaeker abzielen - sie entfesseln die technischen und ästhetischen Äquivalente der Naturgewalten im Theater.

    Das sind vor allem gewaltige Gegensätze - Licht und Dunkelheit, Krach und Stille - mit deutlichen Auswirkungen auf die Tänzer und unsere Wahrnehmung. Blackouts mitten in Sprüngen der Tänzer machen, dass wir den Rest einer Bewegungsphrase nicht mitkriegen - für uns ist der Satz abgerissen, obwohl er zu Ende gesprochen wird.

    Der silberne Wasserfall aus Folie ist versiegt, da reißt das Licht die ganze Bühne fahl auf und die Beatles schreien "Helter Skelter" in Rockclub-Lautstärke. Die Tänzer gehen am Rande auf und ab wie Rennpferde in der Abkühlphase.

    Dann aber geht "The Song" noch einmal in der Stille weiter. Was hören wir, wenn draußen nichts zu hören ist, welche innerlich gespeicherte Musik begleitet unsere alltäglichen Verrichtungen - den Tanz eines Tänzers in der Stille?

    Mit einem Nocturne endet das Stück. Einem letzten, einem nach vielen großartigen Männerduetten abschließenden nächtlichen Tanz: Wieder strahlt er diese virile Kraft aus, diese hormongesteuerte Ungebärdigkeit, diese kühle, geistige, männliche Souveränität im nächsten Moment. Aber de Keersmaeker entwirft nicht nur ein neues Bild vom männlichen Tänzer. Sie provoziert, um zu zeigen: Unsere soziale Umwelt kann Dynamiken entwickeln, die uns wie Naturgewalten vorkommen.

    Aber man kann sich entziehen. Man muss nur mal den Krach abstellen und lauschen, was dann zu hören ist. Gehen wir zu den Extremen und schauen, was da zu holen ist.