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Lieder von toten Kindern

Der österreichische Komponist Franz Schreker galt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Berg oder Schönberg als ein Vertreter der Wiener Moderne, heute wird er als Spätromantiker eingeordnet. Bekannt sind vor allem seine Orchesterwerke und Opern. Schrekers Liedschaffen indessen wird immer noch kaum beachtet, eine Lücke, die Hermine Haselböck, Wolfgang Holzmair und Russell Ryan mit ihrer neuen CD "Songs of Franz Schreker" schließen wollen.

Von Falk Häfner | 10.05.2009
    In "Simplicissimus", der berühmten satirischen Wochenzeitschrift, findet sich im Heft 39 aus dem Jahre 1897 eine Annonce. Dort steht: "Mutterlieder von Mia Holm. - Das schönste Weihnachtsgeschenk für deutsche Mütter! Originalprachtband zum Preis von 10 Mark". Und wie um dies zu untermauern, schreibt ein Autor namens Björnsternje Björnson daneben:

    "Es ist ein schöner Zufall, daß eine junge Mutter mit feiner poetischer Begabung die Gefühle der Mutterschaft in naiven kurzen Versen, kleinen musikalischen Wundern, schildern konnte. Schon die ersten drei vierzeiligen Strophen sind Perlen, die ihre Komponisten schon finden werden."

    Björnsternje Björnson hatte recht. Ein junger Komponist namens Franz Schreker stieß offensichtlich auf diesen goldgeprägten und aufwändig bebilderten Leinenband. "Die Mutterlieder" - ein kurzer Liedzyklus, bestehend aus sechs Liedern, entstand. Den möchte ich Ihnen heute - neben weiteren Liedern von Franz Schreker - in einer neuen Aufnahme mit Hermine Haselböck und Wolfgang Holzmair vorstellen.

    "Heut nacht, als ich so bange"
    Hermine Haselböck, Mezzosopran "

    Es sind schlichte und tatsächlich naive Texte, die die schwedische Dichterin Mia Holm (mit bürgerlichem Namen hieß sie eigentlich Mia Hedenström) in ihren "Mutterliedern" zu Papier brachte. 54 Gedichte sind es insgesamt. Doch nur sechs davon wählte Franz Schreker für seinen gleichnamigen Liedzyklus aus. Das muss zwischen 1898 und 1900 gewesen sein, als Schreker bei Robert Fuchs in Wien Komposition studierte. Der 20-Jährige beschränkte sich ausschließlich auf die dramatischen, die tragischen Texte: Es geht um den Tod der Kinder, um Trauer, Verzweiflung und um das Verarbeiten solcher Extremsituationen. Die "Mutterlieder" von Franz Schreker, sie sind also wohl eher so etwas wie "Kindertotenlieder", komponiert wohlgemerkt ein, zwei Jahre, bevor Gustav Mahler seine "Kindertotenlieder" auf den Text von Friedrich Rückert komponierte. Wie bei Mahler, gab es auch bei Schreker eine persönliche Verbindung zu dieser Thematik: Seine geliebte Schwester Henriette starb mit neun Jahren an Meningitis. Er hatte also am eigenen Leib erfahren müssen, wie schlimm es ist, einen so jungen Menschen zu verlieren. Da Schreker die "Mutterlieder" nie veröffentlicht hat und später lediglich zwei Stücke daraus als op. 5 - die "Lieder auf den Tod eines Kindes" herausgab, lässt sich annehmen, es könnte sich in erster Linie um die Bewältigung eines Traumas handeln. Möglicherweise befand Schreker die Kompositionen aber auch nicht für gut genug, denn vor Veröffentlichung seines op. 5 überarbeitete er diese beiden Lieder gründlich.

    Bei der Auswahl der Gedichte scheint sich Franz Schreker weniger an deren literarischer Qualität orientiert zu haben, als vielmehr an den Möglichkeiten, die sie ihm musikalisch boten. Mittels Musik versuchte er das auszudrücken, was Worte nicht vermögen: Langklingende Akkordfolgen, die wie Sorgen bleischwer lasten; Tremoli, die Unruhe suggerieren; melodische Linien, die im Nichts enden.

    " "Dass er ganz ein Engel werde"
    Hermine Haselböck, Mezzosopran "

    Die österreichische Sängerin Hermine Haselböck ist mit ihrem warmen Mezzosopran eine ideale Besetzung für den Zyklus "Mutterlieder" von Franz Schreker. Geschmackvoll phrasiert sie die schlichten melodischen Bögen. Selbst dramatische Passagen gestaltet sie zurückhaltend und in sich gekehrt und suggeriert so Verzweiflung, aus der es kein Entrinnen gibt.

    Weniger die Worte oder die Melodie, als vielmehr der Klang an sich beschreibt die Situation. Klang ist überhaupt der Schlüssel zu Schrekers Werk. Schon als Kind hatte er manchmal am Klavier gesessen, Akkorde aus Wagner-Opern angeschlagen und nachgelauscht, wie sie verklingen. In seinem Aufsatz "Meine musikdramatische Idee" schrieb er:

    " "Wüßten die Nörgler, welche Ausdrucksmöglichkeiten, welch unerhörter Stimmungszauber ein Klang, ein Akkord in sich bergen kann! Der reine Klang - ohne jede motivische Beigabe ist, mit Vorsicht gebraucht, eines der wesentlichsten musikalischen Ausdrucksmittel, ein Stimmungsbehelf ohnegleichen."

    Zur Perfektion getrieben hat Schreker dieses Ideal erst in späteren Jahren, etwa in seinen Opern "Der ferne Klang", "Die Gezeichneten" oder "Der Schatzgräber". Damit beschreitet Schreker in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den neuen Weg eines psychologischen Musiktheaters, das sich an zeitgenössischen literarischen Strömungen wie Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus orientiert. Doch auch in seinen Liedern lässt sich diese Tendenz erkennen.

    " Sie sind so schön
    Wolfgang Holzmair, Bariton "

    Gänzlich ohne Metrumsangaben oder Taktstriche ist das Lied "Sie sind so schön" notiert. Der Sänger allein (hier ist es der Bariton Wolfgang Holzmair) entscheidet im Changieren zwischen melodischer Linie und Sprechgesang über den musikalischen Fluss.

    Kraftvoll, irisierend, rätselhaft klingt Schrekers Musik - und immer dem Wohlklang verpflichtet. Galt er damit noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Berg, Schönberg, Zemlinsky und Korngold als einer der geschätzten Protagonisten der Wiener Moderne, so sahen die Vertreter der "Neuen Sachlichkeit" nach dem Ersten Weltkrieg in ihm mehr und mehr den Spätromantiker, der an der Ästhetik des "Fin de siècle" festhielt. Die Nationalsozialisten diffamierten seine Werke in den 30er-Jahren als "entartete Musik" und zwangen ihn, von seiner Stelle als Direktor der Berliner Musikhochschule zurückzutreten.

    Auch nach 1945 war an eine Schreker-Renaissance zunächst nicht zu denken. Erst in den 90er-Jahren entwickelte sich langsam wieder Interesse an seiner Musik. Wie großartig seine klanglichen Seelendramen in Szene gesetzt werden können, das zeigte vor vier Jahren Nikolaus Lehnhoff bei den Salzburger Festspielen mit Schrekers Oper "Die Gezeichneten". Kongenial inszenierte er zum opulenten Stimmengewebe der Partitur. Zuvor hatte bereits Martin Kusej in Stuttgart eine ungleich brachialere Produktion auf die Bühne gebracht.

    Schrekers Liedschaffen indessen wird immer noch kaum beachtet. Schreker selbst hatte nur 33 Lieder veröffentlicht. Der Rest, 16 weitere Kompositionen, wurden erst im Jahre 2005 herausgegeben. 30 Lieder finden sich auf der CD "Songs of Schreker", die das Label Bridge Records jetzt herausgebracht hat. Darauf wird der Bogen geschlagen von den frühen Kompositionen (zum Beispiel den "Mutterliedern") bis hin zu expressionistisch anmuteten Werken wie "Das feurige Männlein" aus dem Jahre 1915.

    " Das feurige Männlein
    Wolfgang Holzmair, Bariton "

    Jedes Wort versteht man bei Wolfgang Holzmair. Allerdings klingt er in der Höhe angestrengt und neigt zu unmäßigem Vibrato. Das stört den Wohlklang und damit Schrekers Intention. Dennoch zeigt diese CD mit Schreker-Liedern aus dem Hause Bridge records sehr eindrucksvoll, wie Schreker über etwa ein Vierteljahrhundert seine Ästhetik des Klangs vervollkommnet hat. Der Pianist Russell Ryan ist hierfür ein idealer, weil hochsensibler und klangorientierter Begleiter.

    "Wenn mag sagt, Schönberg habe die Dissonanz kultiviert, dann kultivierte Schreker die Konsonanz", so bringt es Christopher Hailey, der Vorsitzende der Schreker Foundation, im ausführlichen Essay des CD-Booklets auf den Punkt - leider nur in englischer Sprache. Und weiter: "Schönbergs scharfe Dissonanzen und Schrekers verführerische Wohlklänge, sie galten beide dem Ziel, das Geheimnis der menschlichen Psyche musikalisch auszuleuchten."

    Für Hailey ist dies das wahre Wunder: Dass in einer Stadt wie Wien zur gleichen Zeit so viele unterschiedliche musikalische Sprachen entstehen und bestehen konnten.

    " Die Liebe als Recensentin
    Wolfgang Holzmair, Bariton "

    "Songs of Franz Schreker" - die Lieder von Franz Schreker, gesungen von Hermine Haselböck und Wolfgang Holzmair - das Album ist beim amerikanischen Label Bridge records herausgekommen und wird in Deutschland von Codaex vertrieben.


    Hermine Haselböck, Mezzosopran
    Wolfgang Holzmair, Bariton
    Russell Ryan, Klavier

    Bridge Records/ Vertrieb codaex
    Bestell-Nr. 9259