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"Liliom" getanzt von John Neumeiers Compagnie

John Neumeier ist ein gefeierter Starchoreograf, selbst dann noch, wenn er zu süßliches Ballett macht. In "Liliom" werden Armut und Arbeitslosigkeit der amerikanischen Dreißiger Jahre werden der sorglosen Jahrmarktshektik gegenübergestellt.

Von Wiebke Hüster |
    Und warum sollte auch aus Ferenc Molnars 1909 uraufgeführtem Stück "Liliom" kein Ballett werden. Ein Musical war es schon, da hieß es "Carousel" und John Neumeier sah es. Der Hamburger Ballettchef seit 1973 ist an den Anfängen der Moderne nicht nur im Tanz und in der Musik interessiert. 1909 ist für ihn zudem wie für alle Tanzkenner eine Art magische Zahl, wurden damals doch Sergej Diaghilews Ballets Russes zuerst in Paris berühmt. Das Schaustellergewerbe bei Molnar erinnert denn auch an einen ihrer zauberhaftesten Erfolge, das rohe und traurige Jahrmarktsballett "Petruschka".

    Molnars "Liliom" zaubert nun sowohl mehr Diesseits als auch mehr Jenseits auf die Bühne als alle Ballette vom Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen. Es ist ein Volksstück, insofern in ihm Kellnerinnen und Karussellschreier auftreten, Karussellbesitzerinnen und mittelschwere Jungs, Arbeitslose und Jugendliche, die sich auf dem Rummel amüsieren wollen. Als der Karussellausrufer Liliom, Mädchenschwarm und Liebhaber der Karussellbetreiberin Muskat, sich ernsthaft in die Kellnerin Julie verliebt, muss er das Karussellausrufen aufgeben.

    Liliom kommt vom Rummel aber nicht los, findet keine andere Arbeit, ergibt sich den Einflüsterungen des Kriminellen Ficsur und macht sich zu dessen Handlanger bei einem räuberischen Überfall. Da erscheinen Polizisten, und um nicht verhaftet zu werden, ersticht sich Liliom. So geht das Volksstück zu Ende und die Legende beginnt. Die Legende vom Büßer, der aus dem Fegefeuer nach sechzehn Jahren wieder auf die Erde entlassen wird, seinem Sohn einen Stern vom Himmel herunterholt und seine Frau küsst, ist allerdings schwer verdauliche Rührseligkeitskost, inszenierbar allenfalls von Marthaler oder Kriegenburg.

    Spätestens da merkt man auch, dass dieses Brutalität und Zärtlichkeit in einer Figur zusammenzwingende Stück über Liebe als Schicksal und das "Irrationelle des Herzens", wie der deutsche Übersetzer Alfred Polgar es formulierte, schon sehr auf Schmacko ausgeht. So einen wegen der Unzufriedenheit mit seiner Lage zu Frau und Kind gewalttätig werdenden Kerl fand man einfach sexy damals.

    Das Wunder dieser Hamburger Aufführung von John Neumeier ist, wie Carsten Jung den Liliom spielt, brutal und sexy, wie man es der immer nur schönen Ästhetik des Hamburg Ballett nicht im Traum zugetraut hätte. Und es passt, dass Jungs nackter Oberkörper bei seiner körperlich extrem fordernden Partie ständig schweißbedeckt ist, sein Haar verschwitzt. Neben ihm steht als seine Geliebte Julie und Mutter seines Kindes eine der berühmtesten Tänzerinnen der Gegenwart, die großartige Alina Cojocaru vom Londoner Royal Ballet.
    Musik: Liebesmotiv

    Neumeier hat nicht nur diese beiden fantastischen Tänzer in den Hauptpartien, seine Clowns, sein Matrose, sein Mann mit Luftballons, sie alle erfüllen ihre Rollen mit größter Intensität.

    Das mit bunten Glühbirnen und einem alten Karussell arbeitende Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer ist unvergesslich schön nostalgisch, die Musik von Hollywood-Komponist Michel Legrand, eine Auftragskomposition, bei der die NDR Big Band und die Philharmoniker Hamburg zum Einsatz kommen, ist tänzerisch. Was muss man einem Choreografen noch zu Füssen legen? Neumeiers "Liliom" aber ist wieder so sentimental selbstgerührt geworden wie die meisten seiner Ballette.

    Seine Jahrmarktsbesucher lächeln künstlich und tun keinen normalen Schritt, seine Arbeitslosen sind blank geschrubbte feine Kerle, aber was das Schlimmste ist, Alina Cojocaru sitzt gefühlte Ewigkeiten auf der Bank, um Carsten Jung anzuschmachten, statt zu tanzen. Sie sitzt da und sitzt da in einem grauen Kittelkleid und teilt mit Würde das Schicksal so vieler weiblicher Gestalten in Neumeier-Balletten:

    Mütterlich-selbstlos liebende, in biederen Kostümen steckende Nebenfiguren, die wenig tanzen. Carsten Jung als Liliom ist großartig, aber Cojocaru staunt über den riesigen Hamburger Beifall, als wollte sie sagen, was würdet ihr wohl tun, wenn ihr mich erst mal tanzen sehen könntet.