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Linke Judenfeindlichkeit

In Bremen spannten Wissenschaftler einen Bogen von den antisemitischen Flugblättern im 16. Jahrhundert bis zum World Wide Web unserer heutigen Tage. Ein Ergebnis: Die linke 68er-Bwegung - angetreten, mit der Nazivergangenheit aufzuräumen - benutzte selber antisemitische Argumente im Kampf gegen den Kapitalismus.

Von Godehard Weyerer | 27.05.2010
    Sind deutsche Zeitungen wie "taz" oder "Tagesspiegel" antisemitisch? Das beklagt zumindest Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, und verweist auf einen Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Michel Friedman wird hierin als Moderator von Talkshows und als Jude tituliert. Auch Mosche Zimmermann, Historiker und Antisemitimus-Experte aus Jerusalem, mahnt zur Vorsicht:

    "Wenn man jemand als Jude bezeichnet, kommt es auf die Absicht an. Wenn ich sage, ich bin Jude, ist das Selbstbestimmung. In dem Moment, wo ich etwas anderes meine, eben den Friedman zu diskreditieren oder in die Ecke zu schieben, dann befinden wir uns im Bereich des Antisemitismus. Das ist eine heikle Sache und man muss hier sehr differenziert vorgehen."

    Mosche Zimmermann war einer von 62 Teilnehmern aus elf Ländern, die nach Bremen zur Konferenz Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse anreisten. Zu der viertägigen Tagung hatte Professor Michael Nagel, Leiter der Deutschen Presseforschung an der Universität Bremen, geladen:

    "Warum der Blick auf die Presse? Weil die Presse einerseits Stimmungen und Meinungen in einen weiteren Adressenkreis hineinträgt als Einzelpublikationen und zum Teil auch in einem populäreren Ton als der neuere Antisemitismus, der sich als wissenschaftlich ausgeben will. Zum anderen, das ist das zweite Prinzip der Presse, greift sie Stimmungen auf, die bereits vorhanden sind, um Käufer und Abnehmer zu finden, womit können wir arbeiten."

    Die Bandbreite der Themen reichte von Flugblättern im 16. Jahrhundert bis zum World Wide Web unserer Tage. Paula Wojcik, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Jena, referierte über Verschwörungstheorien und Geschichtsfälschung auf deutschen, polnischen und US-amerikanischen Webseiten:

    "Der eigentliche Unterschied ist, dass sich diese Foren oft als die eigentlichen Informationsquellen darstellen, in denen endlich die Wahrheit gesagt wird. Die Verschwörungstheoretiker glauben, dass die gesamte Presse von den Juden eingenommen ist, wie sie es aus den Protokollen der Weisen von Zion ableiten. Somit glauben die User sich in der Rolle, die Presse zu ersetzen."

    Die "Protokolle der Weisen von Zion" sind begehrtes Objekt der Verschwörungsfanatiker im Internet. Russische Antisemiten ersannen die Protokolle im späten 19. Jahrhundert und wollten damit den unbedingten Willen des Judentums dokumentieren, die Welt zu beherrschen. Obwohl sich die Protokolle längst als Fälschung erwiesen haben, stellen sich die alten Stereotypen in den Dienst neuer Aufgaben.

    Wojcik: "In Deutschland hat das sehr viel mit Schuldabwehr zu tun, mit dem Beenden des Redetabus. In Polen hat es diesen nationalistischen Hintergrund, oft auch eine Schuldabwehr, die sich meistens auf die Pogrome der Polen an den Juden nach 1945 bezieht."

    Im Internet verbreiten sich Hetzparolen schneller und unkontrollierter als in klassischen Medien. Die Anonymität im Netz enthemmt zusätzlich. Das Positive im Internet, sagt Paula Wojcik, sei, dass es in diesen einschlägigen Foren auch immer Gegenstimmen gibt – gerade in den USA, wo die antisemitischen Tiraden oftmals mit Humor und sehr selbstbewusst gekontert werden:

    "Zum Beispiel reagiert ein User auf den Einwand, die Protokolle der Weisen von Zion seien wahr, weil sie eingetroffen sind – das ist auch so eine typische, verquere Argumentationsweise. Darauf antwortet der User, vollkommen richtig, du hast es herausgefunden, pass auf, als Nächstes benötigen wir das Blut unschuldiger Kinder."

    Als "Zionistischer Agent Nummer 72" trat dieser User im Internet auf. Dass diese offensive und ins Lächerliche überspitzte Gelassenheit im Umgang mit judenfeindlichen Ausfällen in Deutschland nicht möglich ist, ist klar. Die Besonderheit des deutschen Antisemitismus liegt darin, dass per Gesetz bestimmt wurde, wer Jude war und es selbst im Falle einer religiösen Abkehr immer blieb. Diese radikale Form der Selektion endete an den Rampen der Todesfabriken. Und nach 1945? Monika Halbinger aus München stellte auf der Bremer Tagung Zeitungsberichte vor über Juden, die aus den KZs befreit wurden und als DPs als "displaced persons", im zerstörten Nachkriegs-Deutschland auf ihre Weiterreise warteten:

    "Juden wurden vor allem als DP, als Remigranten und Empfänger von Wiedergutmachung dargestellt. Da wurden antisemitische Haltungen wieder deutlich. Gerade DPs wurden als Kriminelle und Schieber, als Profiteure des Schwarzmarktes dargestellt. Da spielte auch dieses alte Bild des ostjüdischen Händlers eine Rolle."

    Das vermeintliche Unrecht der Wiedergutmachung und die Rückgabe von Hab und Gut an NS-Verfolgte griffen die Zeitungen, die Monika Halbinger untersuchte, wiederholt auf. In Stern, Zeit und Spiegel entdeckte sie eine Fülle antisemitischer Abwehrhaltungen. Der Wandel in den deutschen Redaktionsstuben vollzog sich langsam. Anfang der 60er-Jahre rückten die ersten jungen Redakteure auf die Chefredakteurssessel auf. Der Judenfeindlichkeit in der deutschen Presselandschaft war damit freilich noch kein Ende gesetzt, wie die Bremer Tagung am Beispiel des linken Antisemitismus aufzeigte.

    Nagel: "Es gibt Ergebnisse, die zum Teil überraschend sind, zum Beispiel was die Presse der linken Studentenbewegung, der 68er-Bwegung angeht. Hier wird erstmals dezidiert von Thomas Kaplan aus den USA gezeigt, wie der Antizionismus, der damals en vogue war, mit antisemitischen Argumenten unterfüttert ist. Wenn wir Flugblätter dieser Zeit anschauen, sehen wir den Kapitalisten in starker Ähnlichkeit mit Stürmer-Karikaturen."

    Das Phänomen, wie sich auf unbewusster Ebene antisemitische Vorurteile von Generation zu Generation übertragen, blieb auf der Konferenz in Bremen eine Randnotiz. Im Mittelpunkt stand die Berichterstattung über unsittliche Ostjüdinnen in deutschen Zeitungen während des 1. Weltkrieges, über Selbsttötungen deutscher Juden im Jahre 1933, über Antisemitismus der katholischen Presse während des Kulturkampfes oder über Toleranz, Aufklärung und Judenfeindschaft im 18. Jahrhundert. Die antisemitischen Stereotypen, darauf verwies Mosche Zimmermann, unterlägen einem ständigen Wandel. Die alten Bilder hätten sich nach 1945 in den Dienst neuer Aufgaben gestellt:

    "In Deutschland ist man besonders empfindlich. Weil man in Deutschland so empfindlich ist, benutzt man Antisemitismus sehr oft als Vorwurf, das macht die Deutschen sehr oft und sehr schnell mundtot. Man zieht es als Deutscher vor, in der Öffentlichkeit Israel keine Kritik vorzuwerfen, weil man eben den Gegenvorwurf meiden will, du bist Antisemit."

    Mosche Zimmermann, der für die viertägige Tagung nach Bremen anreiste, rät allen Verlegern und Chefredakteuren, hellhörig zu sein und darauf zu achten, was als antisemitische Vorlage dienen oder missverstanden werden kann.

    Judenfeindliche und antisemitische Unterstellungen in der deutschen Presse, auch das ein Resümee der Tagung, funktionieren immer dann gut, wenn sich hierdurch eigene Unbeholfenheit kaschieren lässt. Fremdenhass, darauf verweist Wolfgang Benz, der allerdings an der Konferenz nicht teilnahm, kompensiert Minderwertigkeitskomplexe. Nicht unerwähnt blieben auf der Bremer Tagung die wenigen Beispiele in der deutschen Presselandschaft vor 1933, die sich diesem gefährlichen Verhängnis widersetzten.