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Lisa´s Liebe

Wer Michael Endes Unendliche Geschichte gelesen hat, wird sich an die folgende Szene erinnern. Der zehnjährige Bastian gerät zu Beginn der Geschichte ganz zufällig in ein Antiquariat und wird von einem bestimmten Buch magnetisch angezogen. Er greift nach dem Band und spürt dabei, daß mit dieser Berührung etwas Unwiderrufliches begonnen hat und nun seinen Lauf nimmt.

Eva Leipprand |
    "Er hob das Buch auf und betrachtete es von allen Seiten. Der Einband war aus kupferfarbener Seide und schimmerte, wenn er es hin und her drehte. Bei flüchtigem Durchblättern sah er, daß die Schrift in zwei verschiedenen Farben gedruckt war. Bilder schien es keine zu geben, aber wunderschöne, große Anfangsbuchstaben. Als er den Einband noch einmal genauer betrachtete, entdeckte er darauf zwei Schlangen, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und so ein Oval bildeten. Und in diesem Oval stand in eigentümlich verschlungenen Buchstaben der Titel: "Die unendliche Geschichte."

    Der Leser ist verblüfft, verwirrt. Das Buch, das hier beschrieben wird, das hält er ja in seinen eigenen Händen! Die kupferfarbene Seide, die zwei Schlangen - er fühlt sich eins mit Bastian, er wird sich jetzt, in diesem Augenblick, wenn er weiterliest, auf etwas Unwiderrufliches einlassen. Leibhaftig ist er in die Welt des Buches einbezogen und wird selbst, wie Bastian, ein Retter des bedrohten Landes Phantasien. Durch den Kunstgriff des Autors bleibt hier die fiktive Welt des Romans nicht zwischen den Buchdeckeln eingeschlossen, sie durchstößt den Einband und greift direkt nach dem Leser. Die Gestaltung des Buches selbst wird Teil der Romanwelt, die Grenzen zur Realität hin verwischen sich. Experimente wie dieses findet man häufiger in der Literatur. Sie sind schon allein deshalb interessant, weil sie Gelegenheit geben, über das Wesen literarischer Fiktion nachzudenken. Wo fängt sie an, wo hört sie auf, wie kommt sie zustande? Es stellt sich aber auch die Frage nach dem künstlerischen Gewinn. In der Unendlichen Geschichte wird das Reich der Phantasie durch den Akt des Lesens immer wieder neu geschaffen; die vorhin beschriebene Szene ist also ein schlüssiger Ausdruck der zentralen Romanidee.

    Bei einem Streifzug durch die Buchläden lassen sich ähnliche Beispiele finden. Oft allerdings ist die äußere Gestaltung nichts weiter als ein Verkaufsgag, die "Kleine Beziehungskiste" zum Beispiel im Haffmans Verlag, aufgemacht wie ein Bretterkistchen mit roter Schleife. Toni Robbins´Roman "Buntspecht" sieht wie eine Camel-Zigarettenpackung aus, mit dem Aufdruck "Zerreiß das Zellophan. Geh meilenweit durch die Wüste des Aberwitzes." Nick Bantocks Briefgeschichten bestehen aus Postkarten und Briefen, die man erst aus dem Umschlag holen muß, wenn man sie lesen will. Auch hier steht eher die hübsche Aufmachung im Mittelpunkt als die literarische Idee. Verwickelter wird die Sache bei dem neuen Bilderbuch des Comic-Autors Art Spiegelman: "Schlag mich auf . Ich bin ein Hund." Der Hund auf dem Einband ist, so berichtet er in der Geschichte, von einem Zauberer in ein Buch verwandelt worden und wendet nun alle Überzeugungskraft darauf, dem Leser klarzumachen, daß das Buch wirklich der Hund selber ist. Es hat sogar eine Hundeleine als Buchzeichen und wackelt mit dem Schwanz, wenn man die richtige Seite aufschlägt. Hier wirken Text und Bild zusammen in einem irritierenden Spiel mit dem Leser.

    Ein ähnlich irritierendes Abenteuer erleben wir, wenn wir uns auf Marlene Streeruwitz´ neuen Roman einlassen, "Lisa´s Liebe", den wir uns hier näher anschauen wollen. Die Wienerin Marlene Streeruwitz hat eine steile Karriere als Theaterautorin hinter sich. Ihre ebenso provozierenden wie verstörenden Stücke werden überall auf deutschen Bühnen gespielt. Letztes Jahr hat sie ihren ersten Roman vorgelegt, "Verführungen", der von der Kritik begeistert aufgenommen wurde. Und nun also "Lisa´s Liebe". Der Text ist wie ein Groschenroman aufgemacht, in drei verschiedenfarbigen Heftchen mit einem alpenländisch anmutenden Foto vorne drauf, Berge mit einem frischen Mädel, dazu ein Edelweiß. Auch innen rahmen Blümchen die Seitenzahlen ein. Locker, von Fotos unterbrochen, ist der Text auf graues Heftchenpapier gedruckt, jeder Abschnitt beginnt mit einem geschwungenen L für Lisa. "Lisa´s Liebe", ein Groschenroman, im anspruchsvollen Suhrkamp Verlag - ist das mehr als eine witzige Marketing-Idee?

    Die Heftchen erwecken sofort eine bestimmte Leseerwartung. Wir rechnen mit leichter Lektüre, Herz-Schmerz, ein bißchen Kitsch und natürlich einem Happy End. Wir setzen uns gemütlich zurecht, mit etwas schlechtem Gewissen, weil wir normalerweise so etwas nicht lesen, aber auch neugierig und ganz froh, diesmal nichts Zentnerschweres vorgesetzt zu bekommen. Wir entwickeln die Gelüste des Groschenkonsumenten, auch wenn wir der Sache natürlich nicht trauen und damit rechnen, auf den Arm genommen zu werden.

    In der Tat ist ein Heftchen pro Abend leicht zu schaffen. Die Erwartung wird zunächst voll erfüllt. Lisa erscheint als naive Volksschullehrerin; der Arzt, in den sie sich verliebt, tritt schon auf der ersten Seite auf. Das Ganze ist so banal, daß der Text, denken wir, nichts anderes sein kann als eine Parodie.

    "Lisa hatte sich verliebt. Lisa ging jeden Morgen auf dem Weg zur Schule an ihm vorbei. Jeden Morgen zur gleichen Zeit. Jeden Morgen traf Lisa auf der Fischerstiege den Arzt Dr. Karl Adrian. Sie gingen aneinander vorbei. Lisa ging bergab zur Schule. Dr. Adrian hinauf zu seiner Ordination. Lisa wußte längst, wer er war. Lisa war sicher, er wußte nicht, wer sie war. Mehr als ein Jahr waren sie so aneinander vorbeigegangen."

    Lisa gibt Dr. Adrian einen Brief, in dem sie ihm mitteilt, daß sie sich in ihn verliebt hat, dazu ihre Urlaubsadresse. Dort sitzt sie dann zwei Heftchen lang, in Glosau im Gebirge, und wartet auf Post, auf Antwort von Dr. Adrian. Während sie wartet, erfahren wir Näheres über ihr Leben, die Eltern, den Bruder, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, Lisas Männergeschichten, auch daß sie schon Ende dreißig ist. Je mehr wir über Lisa erfahren, desto merkwürdiger und unpassender erscheint uns die äußere Form, die kurzen, schlichten Sätze, der naive Volksschulstil. Immer mehr drängt sich die Frage auf, was das für eine Frau ist, die sich hier als Heftchenklischee vorstellt. Was verbirgt sich hinter der Banalität?

    In ihrem Roman "Verführungen" setzt Marlene Streeruwitz ihre Heldin Helene in ein ganz banales Leben hinein. Helene ist eine Durchschnittsfrau; was sie erlebt, erleben andere auch. Sie kommt aus einem unsensiblen Elternhaus, wo der Vater die Kinder schlägt und die Männer ganz selbstverständlich mehr gelten als die Frauen. Helene lebt defensiv, fragt sich immerzu, ob sie alles richtig gemacht hat, hat als Frau kein Selbstwertgefühl entwickelt. Mit Lisa in dem neuen Buch ist dieser Frauentyp noch konsequenter ausgeformt, so wie auch die Sprache noch einfacher, noch ausdrucksloser geworden ist. Männern gegenüber verhält sich Lisa vollkommen passiv, erfüllt ihre Wünsche, paßt sich an, läßt sich ausnützen, ohne sich selber zu fragen, was sie will. Sie kämpft nicht, sie wehrt sich nicht. Für die Sicherheit im Leben scheint ein Mann irgendwie nötig zu sein. Lisa wirkt in ihrer eigenen Entfaltung gelähmt. Sie macht, auch beruflich, nichts aus ihrem Leben. Auf schwierige Situationen reagiert sie nur mit ihrem Körper. Abwechselnd stopft sie sich mit Essen voll und hungert dann wieder, bekommt Hautausschlag oder Zahnfleischbluten. Zu ihren Gefühlen hat sie keine Beziehung mehr.

    "Lisas Vater war in diesem Winter gestorben. Er war beim Baumschneiden von der Leiter gefallen. Knapp vor Weihnachten. Er war sofort tot gewesen. Lisa ging neben der Mutter hinter dem Sarg her. Lisa hatte neue Kleider anziehen müssen aus der Boutique. Lisa sollte ihrer Mutter keine Schande machen. Zumindest aussehen könne sie ordentlich, wenn sie es schon nicht sei, hatte ihre Mutter gesagt. Lisa war sehr dünn geworden und ihre alten Kleider viel zu weit. Lisa hatte beim Begräbnis das Gefühl, es gingen der neue Mantel und der neue Hut hinter dem Sarg. Von sich selbst spürte Lisa nichts."

    Lisa ist aber auch nicht spektakulär unglücklich. Ihr Leben könnte nicht banaler sein. Im Lauf der Lektüre erscheint die Form des Groschenromans wie ein Ausdruck der Lähmung in der Durchschnittlichkeit, wie eine Gefangenschaft im Klischee. Die Einfachheit der Sprache ist nicht mehr Ausdrucksmittel, sondern Fessel. In der Leere zwischen den Sätzen, im sprachlosen Bereich, entsteht eine Spannung, die nach Ausdruck sucht.

    Ganz nebenbei erfahren wir, daß Lisa an einem Fernlehrkurs für Schreiben teilnimmt. Jedes Heft enthält einen ihrer eingesandten Texte, als Schreibmaschinenskript. Der erste Text beginnt folgendermaßen:

    "Also, im Augenblick möchte ich am liebsten spanisch sprechen, nur die Laute, so als ob und dazwischen sehr viel lachen oder einen russischen Satz sagen und alle, die schon mein Spanisch nicht verstehen, erstaunen lassen und dann rasch einen russischen Satz in mein nachgemachtes Spanisch übersetzen."

    Es entwickelt sich eine üppig-lüsterne Atmosphäre mit schwarzen Strümpfen und weißen Schultern, die im Mond aufglänzen, in spürbarer Sprachlust hingeschrieben. Eine schöne selbstbewußte Frau läßt die Männer nach ihrer Pfeife tanzen. Kaum zu glauben, daß dieser Text aus Lisas Feder stammen soll. Noch erstaunlicher der zweite Text.

    "Zu fragen am Ende nur das woher des Lichts, die Richtung aus der und ob aus dem Blau, sie sicher sein konnte des Lichts, am Ende vollkommen sicher und lange gedauert bis knapp vor dem Ende, lange gedauert, bis auch in Dunkelheit das Licht und nicht nur die Töne.

    Töne, nur Töne gewesen bis zu dem Punkt, an dem das Licht endlich möglich, nur Töne gewesen, Töne im Kopf zu hören und nie zu wissen gewesen, die Töne im Kopf knapp am Rand des Schädels innen, oder außen und knapp, außen die Töne, ein langer Weg gewesen von ihnen nur langsam näher dem Licht."

    In poetischer Sprachmelodie beschreibt dieser Text das Entstehen einer eigenen Sprache, die sich befreit aus der Gefangenschaft des Vorgegebenen, der durch andere geprägten Wirklichkeit, einer Sprache, die den Tönen aus dem eigenen Innern Raum und Licht gibt.

    Im Schreiben enthüllt Lisa völlig andere Schichten ihres Wesens, neue Dimensionen tun sich auf. Damit ist der Rahmen des Groschenhefts gesprengt und der Schluß des Romans vorbereitet. Im letzten Heft unternimmt Lisa eine Reise nach New York, wo sie sich frei und wohl fühlt und erstaunlich gut zurechtkommt. Einem Gast im Lokal stellt sie sich als Autorin vor. Sie hat zwar Angst vor dem Ungewissen, öffnet sich dem Neuen aber ganz unvoreingenommen. Allmählich scheint es ihr wichtiger, intelligent auszusehen als nur schön. Am Ende fährt sie nicht nach Hause, sondern steigt in den Zug zu den Niagara-Fällen, vielleicht auch noch weiter. Sie tut, was sie will. Der Groschenroman ist zu Ende, es gibt keine Fortsetzung mehr.

    Auch wir Leser atmen freier durch am Ende, wir legen die Heftchen weg wie eine Hülle, buchstäblich beiseite und entlassen Lisa gern in ihr neues Leben. Die Lisa, die wir jetzt kennen, paßt in keinen Arztroman mehr. Vielleicht profitieren wir ja von ihrem Ausbruch und bekommen irgendwann einmal das zu lesen, was wir bislang nur in kleinen Kostproben, Texten intensiver Selbstfindung, zu Gesicht bekommen haben. Indem wir die Heftchen weglegen, erleben wir Lisas Befreiung auch auf einer nichtsprachlichen Ebene und vollziehen sie selbst ein wenig mit. Nichtsprachliche Wirkung entfalten auch die Fotos in den Heftchen. Neben einigen Zeitungsausschnitten sind dies vor allem Urlaubsfotos, von Glosau im Gebirge und von New York. Auch hier spielt Marlene Streeruwitz mit Erwartungen. Urlaubsphotos bieten üblicherweise Berge unter blauem Himmel, strahlende Gesamtansichten, Schönes am Rande des Kitsches. Lisas Fotos sind aber nichts als Ausschnitte der Wiese vor dem Haus, wo sie auf einen Brief des Dr. Adrian wartet, immer die gleichen schlechten Aufnahmen, schwarz-weiß und verschwommen, mit handschriftlichem Datum versehen, der 21. Juli, der 22. Juli, der 23. Juli, und einer Bemerkung zum Briefträger, der auf den Bildern kaum oder gar nicht zu erkennen ist: daß er kommt, daß er nur zum Nachbarhaus fährt, daß er Prospekte bringt oder eine Postkarte des Kollegen aus Hongkong.

    Die Fotos erscheinen zunächst wie ein Witz, ein Gag, entfalten aber bald eine eigenartige Wirkung. Ein Bild ist ja kein episches, sondern ein dramatisches Element, es beschreibt nicht, sondern zeigt das Gemeinte. Interpretieren muß der Betrachter selber. Wir schauen also alles genau an und suchen nach der Bedeutung. Wozu sind die Fotos da? Zum Illustrieren nicht, dazu sind sie zu schlecht. Um zu dokumentieren, daß der Briefträger über Wochen hin keinen Brief des Dr. Adrian bringt? Das ist zu banal. Wir suchen, wie bei Bildgeschichten oder Comics, nach Handlung und Entwicklung, aber auch hier werden wir enttäuscht. Es tut sich nichts auf den Bildern, der Ausschnitt ist immer gleich, er verändert sich nicht, er weitet sich nicht. So entsteht der Eindruck des Stillstands, des lähmenden Wartens, der Machtlosigkeit; des unglaublich eingeengten Blickwinkels, der Unschärfe der Welt gegenüber. Das Wesentliche ist nicht sichtbar. Da ist etwas, das sich nicht ausdrückt. In diesen Bildern erfahren wir unmittelbar Lisas Gemütszustand, am intensivsten in dem, was sie nicht zeigen. Auch die Fotos von New York sind nicht das Übliche, die Freiheitsstatue, das Empire State Building, die Skyline von Manhattan. Wir sehen nur Straßenpfosten, durchnummeriert von der 14. Bis zur 46. Straße, Pfosten an der Kreuzung mit Kabeln, Straßenschildern, Pfeilen mit der Aufschrift "One Way", manchmal ein Haus oder der Beginn einer Häuserzeile dahinter. Keine Menschen, alles ziemlich undeutlich. Wieder fühlen wir uns zunächst verschaukelt, bis wir dem Sog der Fotos erliegen. Die Pfosten sind von unten nach oben aufgenommen, in den Himmel hinein; durch die Schilder "One Way", die Pfeile, bekommen sie gerade in der zwanghaften Aufzählung Aufforderungscharakter: hinauf, hinaus. Das letzte Bild führt die Geschichte über das Ende des Textes fort. Es zeigt den Ocean Boulevard in Santa Monica, L.A., wo es keine Pfosten, sondern immerhin Palmen vor einem verheißungsvoll hellen Hintergrund gibt. Da muß Lisa dann wohl auch hingefahren sein.

    Die Verwendung der Bilder unterstreicht also die Wirkung der Sprache. Durch Reduktion auf das äußerst Banale erzeugen sie eine Spannung, die nach Auflösung drängt. Dabei ist sehr viel Witz mit im Spiel, der Leser muß mitspielen, wenn er auf der Seite der Lacher und nicht der Ausgelachten sein will. Jedenfalls gelingt es Marlene Streeruwitz auf ungewöhnliche Weise, das Banale literaturfähig zu machen, eine eigene Poesie des Durchschnitts zu entwickeln. Zugleich zeigt sie die Entstehung einer eigenen Sprache, und wie notwendig es ist, eine solche eigene Sprache zu haben.

    In ihren Tübinger Poetikvorlesungen "Sein. Und Schein. Und Erscheinen." zeichnet Marlene Streeruwitz diesen Vorgang nach. Um es gleich zu sagen: die Lektüre ihrer Bücher macht mehr Spaß als ihre theoretischen Darlegungen. Als Literaturwissenschaftlerin ist sie zu gelehrtem Diskurs bestens in der Lage, gründet ihre Poetik jedoch auf ein sehr einseitiges Aufzählen feministischer Glaubenssätze. Das Ringen um eine eigene Sprache ist das zentrale Anliegen aller, die schreiben. Marlene Streeruwitz sieht dieses Ringen aber bestimmt von der Geschlechterdifferenz zwischen Mann und Frau. Sie versteht die herrschende Sprache in Geschichte und Gegenwart als eine Männerdomäne, die die Frau zunächst zu Sprachlosigkeit verdammt, bis es ihr gelingt, sich zu entwinden, zu befreien, ihre eigene persönliche Sprache zu finden.

    "Was bedeutet nun die immer wieder erwähnte weibliche Sprachlosigkeit? Als junge Frau wird sie die Erkenntnis von Freiheit erwerben, die sie aber erst nur männlich simulieren kann. Gibt sie den Weg zur Freiheit da noch nicht auf, steht ihr die bittere Erkenntnis des Frau-Seins bevor. Die Kenntisnahme der Nicht-Rangigkeit. Es ist eines der schwierigsten Unternehmungen, in aller Denkbarkeit die eigene Unwertigkeit aufgrund des Weiblichseins zu formulieren. Sich also diesen Zustand einzugestehen, ihn auszusprechen und daran oder davor nicht schon zu verzweifeln. Die Unwertigkeit nicht für sich zu akzeptieren, ja einen Eigenwert für sich zu konstituieren... Die Frau muß ein unverdrängtes stolzes Bild von sich entwerfen."

    Wir erinnern uns an Lisa, wie sie im Schreiben tatsächlich versucht, ein unverdrängtes stolzes Bild von sich zu entwerfen. Dazu braucht sie, so Streeruwitz, eine adäquate personale Sprache, nur für sich. ‘Die’ allgemeingültige Sprache, die die Existenz des Menschen vollständig beschreiben kann, gibt es nicht. Die imperiale Männersprache schafft Löcher des Schweigens im Ungesagten. Streeruwitz über ihren eigenen Weg:

    "Wenn ich nun - und ich möchte das strikt persönlich behandeln - im Mißverständnis gelebt habe, zu glauben, es gäbe diese eine Sprache der Poesie. Sie wäre die allgemeine, und ich könnte mich ihrer bemächtigen, sie benützen und so teilnehmen. Wenn ich dann in den vom Leben gelieferten Erkenntnisakten die Lüge herausfinden mußte. Die Lüge nämlich, daß alles in dieser Sprache zur Erscheinung gebracht werden kann, was im Sein enthalten ist. Wenn es also so sein muß, wie ich es sage, schreibe oder lese, und ich doch genau weiß, daß es nicht so ist, wie ich es sagen kann. Wenn also das Sein im Schein der Sprache zu keiner Erscheinung kommen kann, dann ist die eigentliche Konsequenz das Schweigen. Abstinenz vom Schein. Verstoßung aus der Möglichkeit des Erscheinens wieder in das Schweigen. Das aufgetragene Schweigen."

    Wenn wir "Lisa´s Liebe" lesen, erleben wir diesen Vorgang mit: die Gefangenschaft im vorgegebenen Klischee der Geschlechterrollen. Die Angst vor dem Neuen verhindert den Ausbruch. Wir spüren die Ausdruckslosigkeit, die Leere des Schweigens, die Unfähigkeit, das wirklich Wesentliche in Worte zu fassen, die daraus resultierende Banalität. Bis dann eben die eigene Sprache gefunden wird, Raum und Licht für die Töne aus dem eigenen Kopf. Wir Leser sind einen weiten Weg gegangen vom ersten gemütlichen Zurechtsetzen im Sessel in Erwartung einer leichten Lektüre. Durch die äußere Form, die sie gewählt hat, hat uns Marlene Streeruwitz in unserer Konsumentenrolle ertappt und erschüttert. Und während wir noch einmal leicht verstört durch die Heftchen blättern und über den so nichtssagenden wie enthüllenden Fotos den Kopf schütteln, hat sich Lisa unserem Zugriff entzogen und verschwindet hinter den Palmen des Ocean Boulevard in Santa Monica.