Sonntag, 28. April 2024

Archiv

Litauen
Volkstanz als Flashmob

Von Markus Nowak | 22.03.2015
    Eine EU-Fahne hängt in der Altstadt von Litauens Hauptstadt Vilnius.
    Eine EU-Fahne hängt in der Altstadt von Litauens Hauptstadt Vilnius. (dpa / Peer Grimm)
    Schon von weitem hallen die Akkordeonklänge durch die engen Gassen der UNESCO-prämierten Altstadt von Vilnius. Sie strömen von dem kleinen Park vor der Katharinenkirche. Auf einer Mauer unter den Ästen der noch jungen Kastanien sitzt hier ein Akkordeonspieler. Die Klänge seiner Ziehharmonika bringen gleich ein Dutzend Pärchen um ihn herum zum Tanzen.
    Rhythmisch wird die Schrittfolge ausgeführt: ein Schritt vor, dann mit gekreuzten Beine ein weiterer Schritt. Und zwischendurch wird geklatscht. Am Rand der Szene steht Zigimantas, ein mit Hut und Jacke gekleideter junger Mann, der leicht aus der Puste gekommen ist.
    "Was ich hier mache? Ich bin hergekommen, um zu tanzen und später selbst Musik zu machen. Heute sind wir jetzt schon zu dritt, die ein Akkordeon haben und wir wechseln uns ab. Wir spielen und tanzen hier."
    Auf der anderen Seite des Open-Air-Dancefloors in dem kleinen Vilniuser Park steht eine junge Frau und wartet auf ihren Tanzpartner. Sie kommt regelmäßig hierher, sagt sie. Egle ist ihr Name.
    "Ich mag die Musik einfach, denn ich singe und tanze dazu, seitdem ich ein kleines Kind bin. Das ist Teil meines Lebens."
    "Tradicinių Šokių klubas" heißt der litauische Tanzverein, der baltische Volkstänze nicht auf die Bühne, sondern auf die Straßen und in die Parks von Vilnius bringt. Mittlerweile gibt es diesen Tanz-Flashmob regelmäßig, einmal in der Woche in dem kleinen Park vor der Vilniuser Katharinenkirche.
    Manchmal verabreden sich die Volkstanz-Fans aber auch spontan über Facebook oder andere soziale Netzwerke zum Tanz unter freiem Himmel.
    Häufig gehen die Tänze bis tief in der Nacht, berichtet die 25-jährige Edita Gumuskaite.
    "Wenn wir manchmal nachts um vier Uhr spielen und die Partygänger von der Disco auf dem Weg nach Hause sind, bleiben sie dann bei uns stehen, hören zu und tanzen häufig auch mit. Es hört sich vielleicht seltsam an, aber diese traditionelle Musik bewegt etwas in einem. Man kann sich nicht dagegen wehren. Bei normalen Folkfestivals geht man hin und schaut zu. Das ist langweilig. Aber zu folkloristischer Musik muss man einfach tanzen, um sie zu verstehen."
    Edita tanzt nicht nur. Als Mitglied im "Tradicinių Šokių klubas" spielt sie auch Geige. Mehrfach war der "Tradicinių Šokių klubas" sogar Gast im litauischen Fernsehen und auf Festivals. Die 25-jährige Edita mag aber vor allem die Auftritte vor kleinem Publikum. Da wird viel getanzt, sagt sie.
    "Wir werden oft von jungen Paaren angefragt, ob wir bei ihren Hochzeiten spielen können. Das ist irgendwie populär jetzt. Es geht dann darum, nicht nur für die Gäste zu spielen, sondern die Hochzeitsgäste zum Mittanzen zu animieren. Wir machen halt ein lebendiges Programm und sind nicht so konservativ, was Musik und Tanz angeht."
    Konservativ ist aber häufig die Kleidung der litauischen Folk-Tänzer. Nicht nur zu Auftritten, auch zum Spontan-Tanz unter den Kastanien kommen viele Tänzerinnen in Kleidern, während der Mann Hut und Teile einer Tracht trägt. Wie Zigimantas:
    "Ich trage oft diesen Hut zum Tanzen. Der gehört zu einer traditionellen Tracht und auch das passende Hemd. Ich gehe nicht in Klubs oder Discos. Ich komme lieber hierher, es ist viel besser. Denn hier tanzt man in Paaren, in Klubs meist alleine. Und in Klubs ist es meist sehr stickig und voll. Außerdem hört man da keine gute Musik, nur zu lauten Bass. Hier aber kann man miteinander kommunizieren, auch ganz ohne Worte."
    Und wie Tanz und Kommunikation ganz ohne Worte funktioniert, weiß Zigimantas natürlich auch:
    "Die Leute sind hier ständig am Lachen und gut gelaunt. Wenn man jemanden sieht, der ein langes Gesicht zieht, dann geht man hin und fordert zum Tanz auf. Und sie oder er fangen gleich an, zu lächeln. Der Volkstanz macht einfach nur Spaß. Und wenn die Tanzpartnerin weiterhin nicht gut gelaunt ist, kann man während des Tanzens auch mal nach den Gründen fragen."
    Volkstanz als Therapie? Geigerin Edita hat eine andere Erklärung, wieso der Folk-Tanzflashmob und ihr Verein so gut ankommen.
    "In Litauen liegen zurzeit zwei Dinge voll im Trend. Alles, was ökologisch ist und alles, was ethno ist. Also traditionelle, litauische Dinge. Bei jedem unserer Tanzevents sehen wir immer mehr neue Gesichter, die mittanzen."
    Volkstanz ist trendy unter jungen Litauern. Vielleicht auch, weil viele Bewohner der ehemaligen Sowjetrepublik genug von Einflüssen von russischer oder amerikanischer Kultur haben, glaubt Artiom Oppermann. Der 27-Jährige tanzt und spielt Tamburin und hat mehrere Jahre in Deutschland gelebt.
    "Heutzutage werden wir viel von anderen Ländern beeinflusst und nicht so wie früher, wo wir viel konservativer waren. Es ist schwer, zu sagen, was wirklich litauisch ist heutzutage. In Deutschland habe ich verstanden, dass ich Litauer bin. Und jetzt bin ich zurück und suche meine Identität in der Folkmusik."
    Für die einen ist es eine Identitätssuche via Volkstanz, bei anderen steht der Patriotismus im Vordergrund, wie bei der Studentin Egle.
    "Ich bin stolz auf unsere litauische Kultur, sie ermöglicht, dass ich mein Land einfach lieben kann. Wenn ich im Ausland bin, dann vermisse ich Litauen und die volkstümliche Kultur. Und jetzt bald werde ich wieder für einige Monate fort sein, also möchte ich so viel wie möglich davon aufsaugen und mitnehmen."