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Literarische Untiefen und menschliche Abgründe

Romane junger Autoren über den Holocaust und die Zeit des Faschismus lösen Skepsis und Zweifel aus, schreiben doch diejenigen, die endgültig nur noch über geschichtlich vermitteltes Wissen mit der Vergangenheit verbunden sind. Nun reiht sich auch die 1982 geborene Schriftstellerin Nora Bossong, die sich zugleich als Lyrikerin einen Namen gemacht hat, in dieses Phänomen der neueren deutschsprachigen Literatur ein.

Eine Besprechung von Claudia Kramatschek | 10.06.2009
    Es könnte ein Uhr mittags sein, ein kalter aber sonniger Tag, als Weber sich auf den Weg macht, um seine letzten Spuren zu beseitigen. Weber im Jackett, Krawatte sorgfältig gebunden, tritt aus einem Hauseingang, ein in seiner grauen Kleidung kaum sichtbarer Mann, Aktentasche in der Hand, schwarzes Leder.

    Ein Mann will verschwinden. Sein Name: Konrad Weber. Einst war er stellvertretender Leiter des deutschen Generalkonsulats in Mailand, im Jahre 1943. Doch nun, an diesem Tag im Jahre 1960, will Weber endgültig verschwinden. Verschwinden aus jenem lästigen Protokoll, das ihn festhält in seiner Vergangenheit, die ihn partout nicht loslassen will. 1943 nämlich, so lautet noch immer in diplomatischen Kreisen das Gerücht, habe er Gelder veruntreut, die für den Bau einer deutschen Schule bestimmt gewesen waren. Das stimmt – und stimmt auch nicht. Denn die Wahrheit ist, wie überhaupt alles in diesem Roman, um vieles komplizierter.

    "Für mich war klar, wenn ich ein Buch zu dieser Zeit schreibe, dass ich definitiv nicht von einem Helden berichten werde und definitiv nicht von einem Opfer. Vor den Opfern habe ich viel zu viel Respekt, die Kategorie des Helden hat eine viel zu große kathartische Wirkung. Das heißt, ich wollte einen Charakter schaffen, der verunsichert und der (...) Fragen aufwirft und der eben nicht beruhigt und nicht das Gefühl gibt: Ach, ist das gut, dass es solche Menschen gab, so hätte ich auch gehandelt."

    Zeitsprung 1943: Die Deutschen marschieren in Italien ein, Weber bekommt einen neuen Vorgesetzten namens Palmer, der keine Ahnung hat vom diplomatischen Dienst, aber der Partei angehört. Bald schon spricht Palmer Weber auf die verschwundenen Gelder an – und der gerät in Nöte, das Geld aus der Schweiz, wo es gelagert ist, zurückzuerhalten. Weber scheint nur ein Ausweg zu bleiben: sich wider Willen auf das riskante Geschäft einzulassen, dass ihm ein zwielichtiger Bekannter namens Wendler angetragen hat. Fortan besorgt er Pässe für all jene, die von den Nazis auch in Italien verfolgt werden. Die Gelder sind längst abbezahlt, da warnt man ihn vor seiner drohenden Verhaftung. Weber setzt sich, man schreibt das Jahr 1944, in die Schweiz ab – und stößt Anfang der 50er-Jahre, als er wieder Fuß fassen will im diplomatischen Dienst, auf unerwartete Widerstände. Für Weber ist das unbegreiflich – ist er doch der einzige, der sich in all den Jahren die Hände nicht schmutzig gemacht hat.

    "Nicht dass er etwas zu verschweigen hätte! Er hat, abgesehen von einer kleinen Misslichkeit bei der Verwaltung gewisser Baugelder, seinen Dienst, solange er im Amt war, korrekt, ja gewissenhaft erledigt, er hat im August '44 mit dem Regime gebrochen und das ist alles, was es von seiner Vergangenheit noch gibt. Mehr ist nicht nötig, denkt Weber."

    Bis zuletzt wird Weber auf seiner moralischen Integrität beharren – und blind sein für die Verwerflichkeit seines Handelns: dass er Gutes tut aus falschen Gründen. Das Treiben der Nazis verachtet er, doch seine Verächtlichkeit zeigt sich im schweigenden Wegsehen über das, was passiert. Dass er eines Tages durch Taubendreck erblindet, ist daher so symbolisch wie bildlich zu sehen. Denn ohne es zu wollen, agiert Weber als Steigbügelhalter für die Nazis – eine Schachfigur in einem Spiel, in dem er nur der Bauer ist, der sowieso geopfert wird. Ist er demnach ein bequemer Mitläufer? Oder gar selbst ein Opfer? Oder ist er, den man als ebenso grausam wie schwächlich erlebt, einfach nur erschreckend menschlich – und das macht, auch als literarische Figur, seine Ungeheuerlichkeit aus? Bossong – die diesen Weber auf der Grundlage realer diplomatischer Biographien aus jener Zeit zu einer Figur verdichtet hat – lässt diese Fragen bewusst offen, weiß sie doch um die Falltüren der Moral.

    "Moral ist etwas, das sich sehr schnell im Alltag verliert und was man absolut nicht festhalten kann und was man nicht für sich buchen kann. Von daher halte ich diesen Charakter für einen wichtigen Charakter, weil er eben diese Frage nach Moral aufwirft."

    Diese Frage nach Moral erhält umso mehr Gewicht, indem Bossong der mehr oder weniger fiktiven Figur Weber die historisch verbürgte Figur von Papst Pius XII. gegenüber stellt, dessen politische Position in Nationalsozialismus bis heute umstritten ist. So spiegelt sich die weltliche in der geistigen Diplomatie – und das titelgebende Wort des Protokolls gewinnt eine weitere Bedeutung: die Frage nach dem richtigen Verhaltenskodex des Individuums. Insgesamt merkt man: Bossong hat für ihren Roman ausgiebig und sorgfältig in alle Richtungen recherchiert. Dieser Akribie verdankt der Roman seine ungeheure atmosphärische Dichte – eine Dichte, die zugleich von irritierender Unschärfe ist: Denn versucht man, diesen Weber und alle Einzelteile dieses wie ein Puzzle erzählten Romans zu einem Ganzen zusammen zu fügen, scheint der Roman sich zugleich zu entziehen. Allemal, da Weber sich als wahrer Hypochonder erweist, und man somit als Leser letztlich nicht wirklich zu fassen bekommt, was an seiner Geschichte allein der Fantasie, seiner Einbildung geschuldet ist.

    "Es geht ja in diesem Roman auch um die Frage, wie können wir, wie kann meine Generation über diese Zeit, deren Zeitzeugen sie nicht mehr sind und nie gewesen sind – wie können wir davon erzählen? Und wie authentisch ist es? Gibt es eine Authentizität? Und: Wie kann ich geschichtlich schreiben? Wie kann ich mit Geschichte als Thema arbeiten? Und da war für mich diese Unschärfe ein ganz wichtiger Punkt. Weil ich eigentlich denke: Wir können nicht mehr sagen: 'So und so ist es gewesen'. Ich kann nur vermuten. Ich kann mich annähern. Ich kann mutmaßen. Alles andere ist Behauptung."

    Das Moment einer bewussten Unschärfe hat Bossong daher auch zum formalen Erzählprinzip des Romans erhoben: Das beginnt bei dem kunstvollen Spiel mit den verschiedenen Zeitebenen, zwischen denen die Erzählung hin- und her wechselt, das gilt für die prismenartig gebrochene Handlung anhand einzelner, teils wiederkehrender, teils doppelt erzählter Szenen und Bilder ebenso wie für die Stimmen, die Weber wie Geister seiner Vergangenheit regelmäßig heimsuchen. Vor allem aber gilt dies für den Erzählrahmen des Romans. Denn das Protokoll, das wir hier lesen, entstammt dem Zwiegespräch einer jungen Ich-Erzählerin und ihres Gegenübers, einem alten Diplomaten. Und das Gespräch, das sie führen, weitet sich letztlich aus zu einem Streit, einem Kampf um die Frage nach der Deutungs- und Erzählhoheit derer, die über und von Geschichte schreiben.

    Der uralte Diplomat lacht und hebt sein Glas. "Auf Ihr Wohl, Fräulein! Und so also stellen Sie sich Weber vor? Sie können nicht anders, Sie, die Sie Weber nie trafen. Wie sollte er für Sie mehr sein als bloße Rhetorik? Aber vielleicht stapeln Sie hoch, vielleicht ist er für Sie nicht einmal das, nur ein Fragment und ich soll Ihnen die fehlenden Worte einflüstern? Eines kann ich Ihnen gern verraten: Wenn Sie die Widersprüche nicht ertragen, wenn sie sich lieber in ein Urteil verkriechen, dann halten Sie dem Ganzen sicher nicht stand."

    "Die beiden stehen natürlich auch für die Frage: wer kann es nun eigentlich besser erzählen? Können es die Zeitzeugen besser erzählen? Denn die Zeitzeugen sind in ihrer Subjektivität vollkommen befangen. Wer aber kann es denn erzählen? Und genau das ist ein Punkt, der mir wichtig war: diese Erzählhoheit der Zeitzeugengeneration streitig zu machen und zu sagen, ja aber Moment mal, uns gibt es auch. Die erste Generation hat alles so erlebt, wie man ein Leben erlebt. Man erlebt ja nicht objektiv. Die zweite Generation hat gegen die erste Generation, gegen die Tätergeneration rebelliert. Aber natürlich rebelliert jede Generation gegen die Generation ihrer Eltern. Nur ist es, denke ich, sehr schwer zu sagen, wo fängt das Politische an und wo hört das Familiäre, der Generationskonflikt auf. Und meine Generation ist, so denke ich, in dem Sinn noch weniger befangen als noch die Generation meiner Eltern. Und die Frage, wer es wirklich besser erzählen kann, die ist noch überhaupt nicht geklärt. Die fängt gerade erst an, interessant zu werden."

    In der Tat – denn mit "Webers Protokoll" hat Nora Bossong einen Roman hingelegt, dessen Ganzes mehr ist als seine Einzelteile. Thematisch vielschichtig spricht er von Moral und Macht, von den Mechanismen der Täuschung, die zur Selbsttäuschung wird, von Harmlosigkeit, die in menschliche Niederlage führt. Bossongs Sprache spielt mit dem sachlichen Ton des Berichts und ist zugleich dicht und suggestiv, verknüpft die Autorin doch ihre unterschiedlichen zeitlichen Ebenen gekonnt anhand motivischer Assoziation. Bilder, ja Tonfall der Bibel durchziehen den Roman ebenso wie die Schachmetapher, der eine Art Binnenerzählung gleichkommt. Und nicht zuletzt ist der Roman angelegt wie ein Krimi, dem die Suchbewegung der Autorin, wie sie Spur für Spur, Schicht für Schicht dieser Geschichte abgedeckt hat, auf Schwindel erregende Weise eingeschrieben ist. Herausgekommen ist ein Roman voll literarischer Untiefen und menschlicher Abgründe, der nicht allein für kommende Bücher ihrer Generation eine unübersehbare Wegmarke setzt.

    Nora Bossong: Webers Protokoll. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt 2009. 284 S., Euro 19,90