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Literarischer Menschenversuch

Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Ein Selbstversuch von Denis Scheck | 03.02.2006
    Scheck: " Sagen wir so: Sorgen über die gesundheitsschädigenden Wirkungen von Handystrahlen muss ich mir keine mehr machen. Aber Lesen war schon immer gefährlich. "

    " Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik ... "

    ... diesmal mit jeder Menge Familienromane, einer überfälligen Unterscheidung zwischen Geist und Esprit, einer kleinen Meditation über literarische One-night-Stands und darüber, warum Harry-Potter-Leser keinen Selbstmord begehen sowie mit der Konstituierung einer neuen literarischen Gattung: dem Schweinchen-Schlau-Roman.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen 5872 Gramm auf die Waage: zusammen 3834 Seiten.

    Los geht's mit Platz zehn und einem der erstaunlichsten Bestseller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Arno Geiger: Es geht uns gut (Hanser Verlag, 390 Seiten, 21 Euro 50)

    " Im Supermarkt der Therapieangebote würde man das, was der Österreicher Arno Geiger in seinem kunstvollen Roman macht, eine Familienaufstellung nennen: drei Generationen von der Nazi-Zeit bis in unsere Gegenwart begegnen dem Leser. Geiger weiß faszinierend vielschichtig von den Leichen im Keller dieser Familie und vom Krieg der Generationen zu erzählen. Am Ende steht die Erkenntnis: "

    "Wer gewinnt? Keiner. Die eine Seite verliert nur langsamer als die andere."

    Platz neun: Marc Levy: Zurück zu Dir (Aus dem Französichen von Bettina Runge und Elsiabeth Hagedorn, Droemer Knaur Verlag, 336 Seiten, 16 Euro 90)

    " Dies ist die Fortsetzung einer Liebesgeschichte zwischen einem Mann, einer Frau, die im Koma liegt, und deren Geist. Am Ende der Lektüre liegen Mann und Frau einander in den Armen und die Leser dieser zwar nicht geist-, sehr wohl espritlosen Schnulze im Koma. "

    Platz acht: Irene Dische: Großmama packt aus (Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Hoffmann & Campe Verlag, 366 Seiten, 23
    Euro)

    " Oma erzählt vom Krieg. Und vom davor und danach. Und weil diese Großmama einerseits eine rasende Antisemitin, andererseits nun mal mit dem Juden Carl verheiratet ist, weil sie zudem das Ganze aus dem Jenseits erzählt und weil ihre Erfinderin Irene Dische eine Spezialistin für die Demontage von Lebenslügen ist, deshalb ist diese Chronik einer katholisch-jüdischen Familie zwischen Schlesien und New Jersey ein großer Spaß. Und wenn der Hoffmann und Campe Verlag in der nächsten Auflage dieses Buchs ein Papier nimmt, in dem die Schrift nicht durchscheint, dann könnte das Lesevergnügen ganz ungetrübt sein. "

    Platz sieben: Ken Follett: Eisfieber (Aus dem Englischen von Till R. Lohmeyer und Christel Rost, Lübbe Verlag, 461 Seiten, 22 Euro 90)

    " Es gibt Mischlinge, die sehen auch auf den zweiten Blick schlicht albern aus: halb Rehpinscher, halb Rottweiler etwa, oder halb Boxer, halb Cockerspaniel. Dieses Buch über einen Killervirus ist so ein armer Hund:

    Die Kreuzung eines High-Tech-Thrillers mit einem Familienroman ist Follett wirklich nicht gelungen. Aber seltsamerweise löst dieser missratene Krimi in mir eine ähnliche Konträrfaszination aus wie so ein lächerlicher Hund: man muss ihn einfach ganz doll liebhaben. "

    Platz sechs: Dan Brown: Diabolus (Aus dem Amerikanischen von Peter A. Schmidt, Lübbe Verlag, 524 Seiten, 19 Euro 90)

    " Dieses Buch kann sich nur aus den niedersten Beweggründen auf die Bestsellerliste verirrt haben: wegen literarischer Schadenfreude. Wie jene Schaulustigen bei Unfällen auf der Autobahn wollen offenbar Hunderttausende von Literaturvoyeuren sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass der Verfasser des hoch spannenden Romans "Sakrileg" wenige Jahre zuvor einen so unglaublich dilettantischen Schmarren über Kryptographie geschrieben hat.
    Fragt sich nur, ob nun "Sakrileg" oder "Diabolus" der Unfall ist. "

    Platz fünf: Francois Lelord: Hectors Reise (Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch, 187 Seiten, 16 Euro 90)

    " Haben Sie noch die Stimme von Elmar Gunsch im Ohr? Dieses vor Lebensweisheit triefende Timbre? In genau diesem Elmar-Gunsch-Sound ist Lelords Buch über die Suche eines Psychiaters nach dem Glück geschrieben.

    Irgendwann hatten die Deutschen es satt, von einer so schönen Stimme immer so schlechtes Wetter angesagt zu bekommen. Und irgendwann werden sie auch den verlogenen Quark des Francois Lelords dicke haben. "

    Platz vier: Leonie Swann: Glennkill (Goldmann Verlag, 371 Seiten, 17 Euro 90)

    " Der Schäfer ist tot; ein Schaf ermittelt. Mehr braucht es manchmal nicht für einen richtig tollen Krimi. Das Leben kann so einfach sein. "

    Platz drei: J.K. Rowling: Harry Potter und der Halbblut-Prinz
    (Aus dem Englischen von Klaus Fritz, Carlsen Verlag, 656 Seiten, 22 Euro
    50)

    " Im sechsten Band erfahren wir mehr über Kindheit und Jugend von Ihm, dessen Namen nicht genannt werden darf alias Lord Voldemort. Das eigentliche Thema der erfolgreichsten Romanserie der Gegenwart ist aber auch im neuen "Harry Potter" der unausweichliche Tod naher Angehöriger und Freunde. Im Grunde müssten Rowlings Romane deshalb Panik im Kinderzimmer auslösen - und noch mehr unter ihren erwachsenen Lesern. Dass sie es nicht tun, spricht für die Kunst ihrer Autorin - einer Kunst, die mit dem Tod versöhnt. Vielleicht allerdings bringen sich Harry-Potter-Leser aber auch einfach deshalb nicht um, weil sie nicht sterben wollen, ehe sie erfahren, wie's ausgeht? "

    Platz zwei: Dan Brown: Sakrileg (Deutsch von Piet van Poll, Lübbe Verlag, 605 Seiten, 19 Euro 90)

    " Geheimbünde, jahrtausendealte Verschwörungen und eine Schnitzeljagd quer durch die Kulturgeschichte: das sind die Ingredienzien, aus denen Dan Brown seinen Schmöker über die Kinder von Jesus und Maria Magdalena zusammengebraut hat. Mehr als einen Lektüredurchgang verträgt dieser Roman nicht. Ein Buch wie ein One-night-Stand: ein oberflächliches Vergnügen, aber ein Vergnügen. "

    Platz eins der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 19 Euro 90)

    " Dieser Roman ist der größte kommerzielle Erfolg der jungen deutschen Literatur seit Jahren. Der größte Einwand gegen ihn sei nicht verschwiegen: es ist ein bisschen ein Schweinchen-Schlau-Roman. Aber Daniel Kehlmann verknüpft darin nicht nur die Lebensläufe und Weltanschauungen zweier großer deutscher Aufklärer, sondern gewinnt dieser Gegenüberstellung überraschende Komik ab: hier Alexander von Humboldt, der gegen die Grenzen der bekannten Welt anrennt, dort Carl Friedrich Gauss, der gegen die Grenzen der Zeit selbst rebelliert. Ein gutes Buch. "