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Literarisches Leben im Antiken Rom

Als ich in den sechziger Jahren das Gymnasium besuchte, galt der altsprachliche Zweig mit Großem Latinum und Großem Graecum noch als Königsweg schulischer Bildung - ein Relikt jenes humanistischen Bildungsideals, das die deutsche Klassik erfand und das heute, im Zeichen der globalen Lingua Franca Englisch, weitgehend obsolet geworden ist. Gleichwohl hat sich die Antike und ihre Literatur in der deutschen Dichtung der Moderne und Postmoderne stets einen herausragenden Stellenwert bewahrt. Das Spektrum reicht von historischen Unterhaltungsromanen, die etwa heute Gisbert Haefs in der Tradition von "Quo Vadis" oder "Ben Hur" schreibt, bis hin zu Christoph Ransmayrs Ovid-Roman "Die letzte Welt " oder Raoul Schrotts aktualisierenden Rekonstruktionsversuchen antiker Lyrik in seiner "Erfindung der Poesie". Zweiffelos funktioniert die antike Literatur also immer noch als eine Art ferner Spiegel für bestimmte Gegenwartskonstellationen.

Klaus Modick |
    Das wird auch bei Lektüre von Elaine Fanthams Sozialgeschichte der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius sehr deutlich, die jetzt unter dem Titel "Literarisches Leben im antiken Rom" in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Autorin, Professorin für Lateinische Literatur an der renommierten Princeton-Universität, hebt ihre Argumentation allerdings weniger auf vorschnelle Aktualisierungen ab, sondern sie beleuchtet die Veränderungen in der Gesellschaft, in der römische Autoren schrieben und ihr Publikum fanden, und zeichnet die kulturellen Vorgaben und Erwartungen nach, mit denen das Publikum reagierte. Fanthams Analysen beginnen deshalb mit Cicero, weil sich in dessen Schrifttum erstmals eine spezifisch römische Literatur entfaltet; zuvor stand Rom kulturell völlig unter dem Einfluß Griechenlands, von dem man nicht nur die Mythologie, sondern eben auch die literarische Tradition übernahm. Und die Darstellung endet deshalb im zweiten Jahrhundert nach Christus, weil seitdem lateinisches Schrifttum dominiert, das in jüdisch-christlichen Traditionen eine neue Epoche begründet. Es geht also um die Blütezeit römischer Literatur, die sich nach den Wirren des Bürgerkriegs im Zeichen des Kaisertums entfaltet und erstmals nicht nur historiographisches oder rhetorisches Schrifttum hervorbringt, sondern Dichtung im engeren Sinn. Es geht um Vergil und Horaz, um Ovid und Catull, die ihre Werke nicht zuletzt deshalb schreiben können, seit und weil das politische Feld freigeräumt ist. Insbesondere aber geht es um ein Grundproblem, das sich der römischen Literatur stellte, seit Octavian zum Augustus wurde und damit eine absolute Herrschaft installierte. "Die Dichter", schreibt Fantham, "haben die moderne Wahrnehmung der augusteischen Literatur dominiert, weil seltene Talente mit der aufgeklärten Politik eines absoluten, aber idealistischen Herrschers zusammentrafen." Dies Zusammentreffen ist allerdings hochgradig widersprüchlich und konfliktreich gewesen. Zwar ist fast alle Literatur jener Zeit Literatur von und für die herrschenden Kreise, apologetisch also. Die augusteische Politik bemächtigt sich mit ihrem Patronatswesen, sprichwörtlich berühmt wurde besonders Maecenas, der neuen Dichter. Aber diese Bemächtigung schützte die Literatur zugleich vor dem Utilitarismus einer rationalen, auf Effiziens und Machterhalt ausgerichteten Gesellschaft. Kritik an diesem System ist freilich ausgeschlossen; äußert sie sich dennoch, und sei es noch so subtil und poetisch gebrochen wie im Falle Ovids, kommt es zu Verbannung oder kaiserlich verordnetem Selbstmord.

    Das Buch wartet mit vielen Tugenden und Untugenden auf, die akademischen Abhandlungen eigen sind. Zu den Tugenden gehören der verblüffende Faktenreichtum, enormes Detailwissen und eine Seriosität im Umgang mit den Quellen, die über jeden philologischen Zweifel erhaben sein dürfte. Die Autorin vertritt zwar implizit den Anspuch, zu einem größeren Rezipientenkreis als dem ihrer Fachkollegenschaft zu sprechen, aber ihr Werk bleibt den Regeln und Normen der akademischen Zunft weitgehend verhaftet; trotz aller Anregungen, die diese literarische Sozialgeschichte liefert, bleibt sie doch am Ende das Diskursangebot einer Expertin an Experten. Und deshalb verlieren sich in diesem, vom akademischen Nachweis- und Legitimierungszwang diktierten, Detailreichtum gelegentlich auch die großen Argumentationslinien der Autorin, und der nicht mit allen Wassern der Altphilologie gewaschene Durchschnittsleser dürfte sich nicht selten fragen, warum ihm auch noch allerletzte, quellenkritische Quisquillien aufgetischt werden. Dem korrespondiert eine staubtrockene, streng humorfreie, nicht selten umständliche Diktion; ein Beispiel: Wenn es darum geht, daß die römischen Dichter mit Kurtisanen verkehrten, schraubt Fantham einen Satz wie diesen zusammen: "Wie die alexandrinischen Epigrammatiker hatten auch Catulls Freunde romantische Verhältnisse zu jungen Frauen aus der Welt des Amüsements, die es sich zu ihrem Beruf gemacht hatten, sich lieben zu lassen." Das Buch ist, wie manche rhetorische Wendungen nahelegen, ganz offensichtlich auf der Grundlage von Vorlesungen entstanden, die Elaine Fantham im Universitätsbetrieb gehalten hat; manche Überkorrektheit erklärt sich vermutlich aus diesem Kontext. Und auch die gelegentlich hölzerne Übersetzung aus dem Englischen ist nicht dazu angetan, die knarrende Mechanik des Vortrags mit dem Öl sprachlicher Eleganz zu mildern. Summa summarum haben wir es hier mit einem Werk zu tun, das uns zwar kaum altphilologisches Fachchinesisch auftischt, das aber auf eine Öffentlichkeit zielt, die ein dezidiertes Interesse an der Literatur der Antike und eine entsprechende historische Vorbildung mitbringt.