Die Debatte über den deutschen Kriegseinsatz verlief indessen bemerkenswert sachlich. Im Ausland verbuchte man die deutsche Beteiligung am Kampf gegen Milosevicz schlicht unter "business as usual", längst betrachtete man Deutschland als selbstverständlichen Teil des westlichen Verteidigungsbündnisses. In Deutschland selber blieben Farbbeutelattacken randalierender Pazifisten die Ausnahme; Joschka Fischer war einer der wenigen Politiker, die sich beim Versuch, ihre Parteigenossen von der Notwendigkeit des deutschen NATO-Engagements zu überzeugen, heiser schreien mussten. Was die deutsche Intelligenzia betrifft, so fehlten auch auf dieser Seite provokante Stellungnahmen; der PEN rang sich mühsam ein "Jein, aber" ab. Allenfalls die pro-serbischen Kapriolen des Dichters und Dichter-Darstellers Peter Handke lösten einen milden Meinungsreflex im Feuilleton aus, doch selbst der blieb weit entfernt von chauvinistischer Kesseltreiberei: alles bloss Spaß, alles bloss Kunst, alles nicht so gemeint.
Indes blieb ein anderes mindestens so grosses Unbehagen unartikuliert. Es überkam wohl auch nur die Angehörigen der Kriegsgeneration. Ausgelöst von den Bildern berennender Stadtteile und rauchender Trümmerhaufen erwachte in manchen Deutschen das Bewusstsein für jene Zerstörung, die ihr eigenes Land gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt hatte. Dem Luftkrieg der Alliierten fielen in Deutschland zwischen den Jahren 1942 und 1945 600'000 Menschen zum Opfer. Dreieinhalb Millionen Wohnungen zerstört, siebeneinhalb Millionen Deutsche bei Kriegsende obdachlos, so die Schätzungen. Dass derlei Angagben abstrakt bleiben, hat nicht allein mit der schieren Grösse der Zahlen zu tun. Unwirklich erscheinen sie uns vor allem deshalb, weil abgesehen von einigen Wochenschauen, Militärprotokollen und später von wenig glaubwürdiger Memoirenliteratur kaum Zeugnisse von direkt Betroffenen existieren. Was an Berichten über das in Schutt und Asche liegende Deutschland vorhanden ist, stammt hauptsächlich von Journalisten aus den Ländern der Besatzungsmächte. Auch der von Hans Magnus Enzensberger 1990 herausgegebene Band "Europa in Ruinen" besteht überwiegend aus Augenzeugenberichten von ausländlischen Beobachtern, die zwischen den Jahren 1944 bis 1948 durch das kriegsversehrte Land reisten. Enzensberger fand gute Gründe für dieses Schweigen:
"Wer nur an die nächste Mahlzeit denkt, wer gezwungen ist, sich ein Dach über dem Kopf zusammenzunageln, dem fehlen gewöhnlich Lust und Energie dazu, sich zum wohlinformierten Zeitgenossen zu emanzipieren (...) Die Realität wird nicht nur ignoriert, sondern glatt geleugnet. In einer Mischung aus Lethargie, Trotz und Selbstmitleid regredieren die Menschen in eine Art zweiter Unmündigkeit."
Enzensberger spricht im Zusammenhang mit dem Sinnverlust und der an Katatonie grenzenden Wortlosigkeit dieser Menschen von "moral insanity ", einer Art moralischen Wahnsinns, und kommt zu dem Schluss: "Verwüstet war offenbar nicht allein die physische Umgebung, sondern auch das Wahrnehmungsvermögen."
Mit diesem gestörten Wahrnehmungsvermögen, mit den Folgen und Formen des von Enzensberger diagnostizierten moralischen Wahnsinns, beschäftigt sich W.G. Sebald in seinem jüngsten Buch. Der 1944 im kriegsverschonten Allgäu geborene, heute in England lebende und lehrende Schriftsteller erzählte schon in seinem Debüt, dem 1988 erschienenen "Elementargedicht" "Nach der Natur", vom Luftkrieg als Familiengeschichte:
"Man schreibt den 26. August 1943.Am 27. Abreise des Vaters nach Dresden,von dessen Schönheit seinem Gedächtnis,wie er auf meine Fragen bemerkt,nichts in Erinnerung geblieben ist. In der Nacht auf den 28. flogen 582 Maschinen einen Angriff auf Nürnberg. Die Mutter,die am anderen Morgen nachhause ins Allgäu zurückfahren wollte,ist mit der Bahn bloß bis nach Fürth gekommen. Von dort aus sah sie Nürnberg in Flammen stehn, weiß aber heut nicht mehr,wie die brennende Stadt aussah und was für Gefühle sie bei ihrem Anblick bewegten. (....) Was die brennende Stadt betrifft, so hängt im kunsthistorischen Museum in Wien ein Bild Altdorfers,auf dem Lot dargestellt ist mit seinen Töchtern. (:...)Als ich dieses Gemälde im vorvergangenen Jahr zum erstenmal sah,war es mir, seltsamerweise, als hätte ich all das zuvor schon einmal gesehen,und wenig später hätte ich bei einem Gang über die Friedensbrücke fast den Verstand verloren."
In "Luftkrieg und Literatur" skizziert Sebald nun ein Psychogramm des deutschen Volkes nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf der der Suche nach Quellen stiess Sebald auf eine Leerstelle, die Fragen aufgab: "Das nahezu gänzliche Fehlen von tieferen Verstörungen im Seelenleben der deutschen Nation lässt darauf schliessen, dass die neue bundesrepublikanische Gesellschaft die in der Zeit ihrer Vorgeschichte gemachten Erfahrungen einem perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet hat, der es ihr erlaubt, ihre eigene Entstehung aus der absoluten Degradation zwar faktisch anzuerkennen, zugleich aber aus ihrem Gefühlshaushalt völlig auszuschalten, wenn nicht gar zu einem weiteren Ruhmesblatt im Register dessen zu machen, was man erfolgreich ohne ein Anzeichen innerer Schwäche überstanden hat."
Der Verdrängungsmechanismus stellt für Sebald jedoch nicht den einzigen Grund dar für das Schweigen, mit dem die deutsche Bevölkerung ihrem eigenen Elend gegenüberstand. Wie Enzensberger deutet Sebald die buchstäblich panische Aktivität, die die Deutschen nach dem Kriegsende entfalteten, als erfolgreichen Versuch, mit dem Schutt der Städte auch Bruchstücke des Bewusstseins wegzuschaffen. Die Erfahrungen, über welche die Deutschen nicht sprechen konnten, sollten vom deutschen Wirtschaftswunder zusammen mit den Ruinen fortgezaubert werden. Das ist gelungen:
"Der Katalysator (...) war eine rein immaterielle Dimension: der bis heute nicht zum Versiegen gekommene Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von allen gehütete Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist, ein Geheimnis, das die Deutschen in all den Jahren nach dem Krieg fester aneinander band und heute noch bindet, als jede positive Zielsetzung, im Sinne etwa der Verwirklichung von Demokratie, es jemals vermochte."
Die Befunde Enzensbergers und Sebalds stimmen weithin überein - nicht zuletzt in der Benennung der Leichen im Keller des heutigen Hauses Europa. Enzensberger argumentiert weiträumiger, das heisst nicht nur Deutschland betreffend, und politischer als Sebald. Er drängt auf eine Analyse der Gründerjahre, weil er die Zukunftshörigkeit der Gross-Europa-Enthusiasten für gefährlich hält: "Denn im Rückblick zeigt sich heute, dass in den Jahren 1944 bis 1948, ohne dass die Akteure es ahnten, die Keime nicht nur zu zukünftigen Erfolgen, sondern auch zu künftigen Konflikten gelegt worden sind."
Auch Sebald schlägt eine Brücke zur Gegenwart, fasst sich dabei aber sehr kurz. Seine Analyse der Voraussetzungen des deutschen Wirtschaftswunders mündet in die Warnung:
"Vielleicht ist es nicht verkehrt, an diese Zusammenhänge zu erinnern, da das zweimal bereits gescheiterte grosseuropäische Projekt in eine neue Phase eintritt und der Einflussbereich der D-Mark - die Geschichte hat eine Art sich zu wiederholen - ziemlich genau so weit sich ausdehnt wie im Jahr 1941 das von der Wehrmacht besetzte Gebiet."
W.G. Sebalds Verharren in der Vergangenheit hängt weniger mit der Nostalgie des Autors zusammen als mit dem eigentlichen Thema seines Buches. In "Luftkrieg und Literatur" sucht Sebald nach den Spuren, die der Bombenregen und die Zerstörung in der deutschen Lieratur hinterlassen haben. Er interessiert sich weniger für die politischen als für die poetischen Konsequenzen des Kriegs. Damit greift Sebald auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die er zu diesem Thema im Herbst 1997 an der Universität Zürich gehalten hat. Damals lösten seine Vorlesungen besonders in Deutschland heftige Reaktionen aus. Linke Intellektuelle warfen ihm deplazierten Revisionismus vor, rechte Kreise hielten den Augenblick für gekommen, öffentlich zu verkünden, dass eben doch alles ganz anders war, als es heute in den Geschichtsbüchern steht. W.G. Sebald wurde von beiden Seiten gründlich missverstanden. Wie Enzensberger weiss Sebald um die Unergiebigkeit der historischen Quellen:
"Die der Katastrophe Entgangenen waren unzuverlässige, mit halber Blindheit geschlagene Zeugen.(...) Dieses irgendwie Unwahre der Augenzeugenberichte entsteht (...) aus den stereotypen Wendungen, derer sie sich vielfach bedienen. Die in ihrer extremen Kontingenz unbegreifliche Wirklichkeit der totalen Zerstörung verblasst hinter einschlägigen Formulierungen wie 'ein Raub der Flammen', 'verhängnisvollen Nach', 'es brannte lichterloh', 'die Hölle war los', 'starrten wir ins Inferno', 'das furchtbare Schicksal der deutschen Städte' und dergleichen mehr. Ihre Funktion ist es, die über das Fassungsvermögen gehenden Erlebnisse zu verdecken und zu neutralisieren. (...) Das anscheinend unbeschadetet Weiterfunktionieren der Normalsprache in den meisten Augenzeugenberichten ruft Zweifel herauf an der Authentizität der in ihnen aufgehobenen Erfahrung. Der innerhalb weniger Stunden sich vollziehende Feuertod einer ganzen Stadt mit all ihrem Bauten und Bäumen, mit ihren Bewohnern, Haustieren, Geschafäten und Einrichtungen jedwelcher Art musste zwangsläufig zu einer Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazität derjenigen Führen, denen es gelang, sich zu retten. Die Berichte einzelner Augenzeugen sind darum nur von bedingtem Wert und bedürfen der Ergänzung durch das, was sich erschliesst unter einem synoptischen, künstlichen Blick."
Gefordert wäre demnach die Beobachtungs- und die Beschreibungsgabe des Schriftstellers. Sebalds These gründet auf der Idee der Literatur als Ort der Erinnerung schlechthin. Gerade die Literatur hat aber nach Sebald zu jenem entscheidenden Zeitpunkt versagt. Die deutschen Literaten wären demnach mitverantwortlich für die Lückenhaftigkeit der Erinnerung an den Luftkrieg, weil keiner von ihnen je wirklich den Versuch unternahm, das millionenfache Elend in Sprache zu fassen. Sebald beklagt "die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis".
In dieser These steckt mehr Sprengstoff, als auf den ersten Blick scheint. Nichts weniger als ein Paradigmenwechsel der Literaturgeschichtsschreibung wird hier gefordert. Dagegen lässt sich einiges einwenden. Da ist zunächst die Tatsache, dass viele der Autoren, die Sebald offenbar als Zeugen herbeiwünscht, sich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs im Exil befanden. Dass sie sich in Hollywood, Mexico oder Brasilien kein Bild von der Lage in ihrer Heimat machen konnten und entsprechend wenig darüber schrieben, wird man ihnen schwerlich vorwerfen. Ausserdem stellt sich die Frage: Wo bleibt bei Sebalds vernichtendem Urteil über die Zeugnisfähigkeit deutscher Nachkriegsautoren die Trümmerliteratur? Hat nicht dieser von der Gruppe 47 initiierte Aufbruch in die Jahrzehnte nach der Stunde Null ermöglicht, was Sebald schmerzlich vermisst? Heinrich Böll, Hans Erich Nossack oder Hermann Kasack, versuchten sie nicht alle, das Grauen, das der Wirtschaftswunderzeit vorausging, zu Papier zu bringen? Sebald räumt sowohl Kasacks 1947 erschienenen Roman "Die Stadt hinter dem Strom" als auch den Arbeiten Nossacks einigen Platz ein. "Die Stadt hinter dem Strom", Hermann Kasacks vielgepriesener fiktiver Reisebericht aus einem post-apokalyptischen Deutschland, vermag Sebald wenig zu überzeugen:
"Es ist für den heutigen Leser schwer mitanzusehen, wie sich Kasack, ganz im Stil seiner Zeit, mit pseudohumanistischen und fernöstlichen Philosophismen und unter Aufbietung von viel symbolischem Brimborium hinwegsetzt über die unerhörte Realität der kollektiven Katastrophe..."
An manchen Stellen des Romans glaubt Sebald gar das Vokabular der Nazis zu erkennen. Wenn Kasack schreibt "Eine Unzahl von Menschen wurde vorzeitig abgerufen, damit sie rechtzeitig als Saat, als apokryphe Neugeburt in einem bisher verschlossenen Lebensraum auferstehen konnte", kommentiert Sebald: "Die Wort- und Begriffswahl solcher in dem Kasackschen Epos nicht seltenen Passagen zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, dass die von der inneren Emigration angeblich kultivierte Geheimsprache weitgehend identisch war mit dem Code der faschistischen Gedankenwelt."
Sebalds Kritik an Hans Erich Nossacks Prosa fällt weniger scharf aus. Immerhin erkennt er Nossacks Verdienst an, "dass er, trotz seiner fatalen Neigung zur philosophischen Überhöhung und falschen Transzendenz, als einziger Schriftsteller damals den Versuch unternahm, das, was er tatsächlich gesehen hatte, in möglichst unverbrämter Form niederzuschreiben."
Damit meint Sebald vor allem Nossacks Bericht über die Verwüstung Hamburgs Ende Juli 1943. Darin finden sich einige Schilderungen dessen, was von der Handelsstadt nach den Bombenangriffen übriggeblieben war. Doch überwiegen Sätze wie: "Es war einmal ein Mensch, den hatte keine Mutter geboren. Eine Faust stiess ihn nackt in die Welt hinein, und eine Stimme rief: Sieh zu, dass du weiterkommst. Da öffnete er die Augen und wusste nichts anzufangen mit dem, was ihn umgab. Und er wagte nicht, hinter sich zu blicken, denn hinter ihm war nichts als Feuer."
Hans Erich Nossack ist kein Einzelfall in der sogenannten Trümmerliteratur geblieben, eher bestätigt er die Regel: metaphysische Verklärung statt der von Sebald geforderten Aufklärung. Die Trümmerliteraten schrieben nicht über die Trümmer, sondern über die Trümmer hinweg. Bleibt die Frage nach den Gründen. Sebald argumentiert differenziert. Neben dem Schock, den die in Deutschland verbliebenen Schriftsteller während des Luftkriegs nicht anders als der Rest der Bevölkerung erlitten, sieht er in der Schuld eine weitere Ursache für das kurzfristige Aussetzen der deutschen Literaturtradition. Eine Möglichkeit, die Vernichtungsaktion der Alliierten zu begreifen, war, sie als gerechte Strafe für die Verbrechen deutscher Nazis zu empfinden. Über die Folgen hatte man zu schweigen, denn: Die Deutschen durften keine Opfer sein, sie waren die Täter. Deutsche Autoren erlegten sich also eine Art Selbstzensur auf. Damit standen sie allerdings nicht allein. Auch die Leser lehnten weit über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus die Bewältigungsliteratur ab. Die meisten von W.G. Sebald zitierten Werke sind heute vergriffen. Am Schluss von W.G. Sebalds "Luftkrieg und Literatur" steht somit die Erkenntnis: Wer von den deutschen Schriftstellern nicht schon damals geschwiegen hat, schweigt spätestens heute.
Schade nur, dass Sebald über dieses Fazit nicht hinauskommt. So bleiben eine Reihe spannender Fragen unangesprochen. Etwa die, ob die Literatur als Gedächtnis einer Kultur ihrer Aufgabe überhaupt noch gerecht werden kann. Überfordert Sebald die Literatur nicht, wenn er ihr die Funktion eines exakten Katastrophenbarometers zumißt? Ist als Speichermedium historischer Erfahrung nicht eher die Geschichtswissenschaft gefordert? Dass es deren Analysen oftmals an Anschaulichkeit fehlt, kann man nicht der Literatur zum Vorwurf machen. Wenn es den deutschen Autoren angesichts der Zerstörung ihrer vertrauten Umgebung die Sprache verschlug, so war der Ausdruck dieser subjektiven Erfahrung eben das Nichts: ein beredtes Schweigen. Auf diese Lücke in der deutschen Literaturgeschichte hingewiesen zu haben, ist Sebalds Verdienst; füllen lässt sie sich im nachhinein nicht. Und das ist auch gut so.
Indes blieb ein anderes mindestens so grosses Unbehagen unartikuliert. Es überkam wohl auch nur die Angehörigen der Kriegsgeneration. Ausgelöst von den Bildern berennender Stadtteile und rauchender Trümmerhaufen erwachte in manchen Deutschen das Bewusstsein für jene Zerstörung, die ihr eigenes Land gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt hatte. Dem Luftkrieg der Alliierten fielen in Deutschland zwischen den Jahren 1942 und 1945 600'000 Menschen zum Opfer. Dreieinhalb Millionen Wohnungen zerstört, siebeneinhalb Millionen Deutsche bei Kriegsende obdachlos, so die Schätzungen. Dass derlei Angagben abstrakt bleiben, hat nicht allein mit der schieren Grösse der Zahlen zu tun. Unwirklich erscheinen sie uns vor allem deshalb, weil abgesehen von einigen Wochenschauen, Militärprotokollen und später von wenig glaubwürdiger Memoirenliteratur kaum Zeugnisse von direkt Betroffenen existieren. Was an Berichten über das in Schutt und Asche liegende Deutschland vorhanden ist, stammt hauptsächlich von Journalisten aus den Ländern der Besatzungsmächte. Auch der von Hans Magnus Enzensberger 1990 herausgegebene Band "Europa in Ruinen" besteht überwiegend aus Augenzeugenberichten von ausländlischen Beobachtern, die zwischen den Jahren 1944 bis 1948 durch das kriegsversehrte Land reisten. Enzensberger fand gute Gründe für dieses Schweigen:
"Wer nur an die nächste Mahlzeit denkt, wer gezwungen ist, sich ein Dach über dem Kopf zusammenzunageln, dem fehlen gewöhnlich Lust und Energie dazu, sich zum wohlinformierten Zeitgenossen zu emanzipieren (...) Die Realität wird nicht nur ignoriert, sondern glatt geleugnet. In einer Mischung aus Lethargie, Trotz und Selbstmitleid regredieren die Menschen in eine Art zweiter Unmündigkeit."
Enzensberger spricht im Zusammenhang mit dem Sinnverlust und der an Katatonie grenzenden Wortlosigkeit dieser Menschen von "moral insanity ", einer Art moralischen Wahnsinns, und kommt zu dem Schluss: "Verwüstet war offenbar nicht allein die physische Umgebung, sondern auch das Wahrnehmungsvermögen."
Mit diesem gestörten Wahrnehmungsvermögen, mit den Folgen und Formen des von Enzensberger diagnostizierten moralischen Wahnsinns, beschäftigt sich W.G. Sebald in seinem jüngsten Buch. Der 1944 im kriegsverschonten Allgäu geborene, heute in England lebende und lehrende Schriftsteller erzählte schon in seinem Debüt, dem 1988 erschienenen "Elementargedicht" "Nach der Natur", vom Luftkrieg als Familiengeschichte:
"Man schreibt den 26. August 1943.Am 27. Abreise des Vaters nach Dresden,von dessen Schönheit seinem Gedächtnis,wie er auf meine Fragen bemerkt,nichts in Erinnerung geblieben ist. In der Nacht auf den 28. flogen 582 Maschinen einen Angriff auf Nürnberg. Die Mutter,die am anderen Morgen nachhause ins Allgäu zurückfahren wollte,ist mit der Bahn bloß bis nach Fürth gekommen. Von dort aus sah sie Nürnberg in Flammen stehn, weiß aber heut nicht mehr,wie die brennende Stadt aussah und was für Gefühle sie bei ihrem Anblick bewegten. (....) Was die brennende Stadt betrifft, so hängt im kunsthistorischen Museum in Wien ein Bild Altdorfers,auf dem Lot dargestellt ist mit seinen Töchtern. (:...)Als ich dieses Gemälde im vorvergangenen Jahr zum erstenmal sah,war es mir, seltsamerweise, als hätte ich all das zuvor schon einmal gesehen,und wenig später hätte ich bei einem Gang über die Friedensbrücke fast den Verstand verloren."
In "Luftkrieg und Literatur" skizziert Sebald nun ein Psychogramm des deutschen Volkes nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf der der Suche nach Quellen stiess Sebald auf eine Leerstelle, die Fragen aufgab: "Das nahezu gänzliche Fehlen von tieferen Verstörungen im Seelenleben der deutschen Nation lässt darauf schliessen, dass die neue bundesrepublikanische Gesellschaft die in der Zeit ihrer Vorgeschichte gemachten Erfahrungen einem perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet hat, der es ihr erlaubt, ihre eigene Entstehung aus der absoluten Degradation zwar faktisch anzuerkennen, zugleich aber aus ihrem Gefühlshaushalt völlig auszuschalten, wenn nicht gar zu einem weiteren Ruhmesblatt im Register dessen zu machen, was man erfolgreich ohne ein Anzeichen innerer Schwäche überstanden hat."
Der Verdrängungsmechanismus stellt für Sebald jedoch nicht den einzigen Grund dar für das Schweigen, mit dem die deutsche Bevölkerung ihrem eigenen Elend gegenüberstand. Wie Enzensberger deutet Sebald die buchstäblich panische Aktivität, die die Deutschen nach dem Kriegsende entfalteten, als erfolgreichen Versuch, mit dem Schutt der Städte auch Bruchstücke des Bewusstseins wegzuschaffen. Die Erfahrungen, über welche die Deutschen nicht sprechen konnten, sollten vom deutschen Wirtschaftswunder zusammen mit den Ruinen fortgezaubert werden. Das ist gelungen:
"Der Katalysator (...) war eine rein immaterielle Dimension: der bis heute nicht zum Versiegen gekommene Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von allen gehütete Geheimnis der in die Grundfesten unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist, ein Geheimnis, das die Deutschen in all den Jahren nach dem Krieg fester aneinander band und heute noch bindet, als jede positive Zielsetzung, im Sinne etwa der Verwirklichung von Demokratie, es jemals vermochte."
Die Befunde Enzensbergers und Sebalds stimmen weithin überein - nicht zuletzt in der Benennung der Leichen im Keller des heutigen Hauses Europa. Enzensberger argumentiert weiträumiger, das heisst nicht nur Deutschland betreffend, und politischer als Sebald. Er drängt auf eine Analyse der Gründerjahre, weil er die Zukunftshörigkeit der Gross-Europa-Enthusiasten für gefährlich hält: "Denn im Rückblick zeigt sich heute, dass in den Jahren 1944 bis 1948, ohne dass die Akteure es ahnten, die Keime nicht nur zu zukünftigen Erfolgen, sondern auch zu künftigen Konflikten gelegt worden sind."
Auch Sebald schlägt eine Brücke zur Gegenwart, fasst sich dabei aber sehr kurz. Seine Analyse der Voraussetzungen des deutschen Wirtschaftswunders mündet in die Warnung:
"Vielleicht ist es nicht verkehrt, an diese Zusammenhänge zu erinnern, da das zweimal bereits gescheiterte grosseuropäische Projekt in eine neue Phase eintritt und der Einflussbereich der D-Mark - die Geschichte hat eine Art sich zu wiederholen - ziemlich genau so weit sich ausdehnt wie im Jahr 1941 das von der Wehrmacht besetzte Gebiet."
W.G. Sebalds Verharren in der Vergangenheit hängt weniger mit der Nostalgie des Autors zusammen als mit dem eigentlichen Thema seines Buches. In "Luftkrieg und Literatur" sucht Sebald nach den Spuren, die der Bombenregen und die Zerstörung in der deutschen Lieratur hinterlassen haben. Er interessiert sich weniger für die politischen als für die poetischen Konsequenzen des Kriegs. Damit greift Sebald auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die er zu diesem Thema im Herbst 1997 an der Universität Zürich gehalten hat. Damals lösten seine Vorlesungen besonders in Deutschland heftige Reaktionen aus. Linke Intellektuelle warfen ihm deplazierten Revisionismus vor, rechte Kreise hielten den Augenblick für gekommen, öffentlich zu verkünden, dass eben doch alles ganz anders war, als es heute in den Geschichtsbüchern steht. W.G. Sebald wurde von beiden Seiten gründlich missverstanden. Wie Enzensberger weiss Sebald um die Unergiebigkeit der historischen Quellen:
"Die der Katastrophe Entgangenen waren unzuverlässige, mit halber Blindheit geschlagene Zeugen.(...) Dieses irgendwie Unwahre der Augenzeugenberichte entsteht (...) aus den stereotypen Wendungen, derer sie sich vielfach bedienen. Die in ihrer extremen Kontingenz unbegreifliche Wirklichkeit der totalen Zerstörung verblasst hinter einschlägigen Formulierungen wie 'ein Raub der Flammen', 'verhängnisvollen Nach', 'es brannte lichterloh', 'die Hölle war los', 'starrten wir ins Inferno', 'das furchtbare Schicksal der deutschen Städte' und dergleichen mehr. Ihre Funktion ist es, die über das Fassungsvermögen gehenden Erlebnisse zu verdecken und zu neutralisieren. (...) Das anscheinend unbeschadetet Weiterfunktionieren der Normalsprache in den meisten Augenzeugenberichten ruft Zweifel herauf an der Authentizität der in ihnen aufgehobenen Erfahrung. Der innerhalb weniger Stunden sich vollziehende Feuertod einer ganzen Stadt mit all ihrem Bauten und Bäumen, mit ihren Bewohnern, Haustieren, Geschafäten und Einrichtungen jedwelcher Art musste zwangsläufig zu einer Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazität derjenigen Führen, denen es gelang, sich zu retten. Die Berichte einzelner Augenzeugen sind darum nur von bedingtem Wert und bedürfen der Ergänzung durch das, was sich erschliesst unter einem synoptischen, künstlichen Blick."
Gefordert wäre demnach die Beobachtungs- und die Beschreibungsgabe des Schriftstellers. Sebalds These gründet auf der Idee der Literatur als Ort der Erinnerung schlechthin. Gerade die Literatur hat aber nach Sebald zu jenem entscheidenden Zeitpunkt versagt. Die deutschen Literaten wären demnach mitverantwortlich für die Lückenhaftigkeit der Erinnerung an den Luftkrieg, weil keiner von ihnen je wirklich den Versuch unternahm, das millionenfache Elend in Sprache zu fassen. Sebald beklagt "die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis".
In dieser These steckt mehr Sprengstoff, als auf den ersten Blick scheint. Nichts weniger als ein Paradigmenwechsel der Literaturgeschichtsschreibung wird hier gefordert. Dagegen lässt sich einiges einwenden. Da ist zunächst die Tatsache, dass viele der Autoren, die Sebald offenbar als Zeugen herbeiwünscht, sich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs im Exil befanden. Dass sie sich in Hollywood, Mexico oder Brasilien kein Bild von der Lage in ihrer Heimat machen konnten und entsprechend wenig darüber schrieben, wird man ihnen schwerlich vorwerfen. Ausserdem stellt sich die Frage: Wo bleibt bei Sebalds vernichtendem Urteil über die Zeugnisfähigkeit deutscher Nachkriegsautoren die Trümmerliteratur? Hat nicht dieser von der Gruppe 47 initiierte Aufbruch in die Jahrzehnte nach der Stunde Null ermöglicht, was Sebald schmerzlich vermisst? Heinrich Böll, Hans Erich Nossack oder Hermann Kasack, versuchten sie nicht alle, das Grauen, das der Wirtschaftswunderzeit vorausging, zu Papier zu bringen? Sebald räumt sowohl Kasacks 1947 erschienenen Roman "Die Stadt hinter dem Strom" als auch den Arbeiten Nossacks einigen Platz ein. "Die Stadt hinter dem Strom", Hermann Kasacks vielgepriesener fiktiver Reisebericht aus einem post-apokalyptischen Deutschland, vermag Sebald wenig zu überzeugen:
"Es ist für den heutigen Leser schwer mitanzusehen, wie sich Kasack, ganz im Stil seiner Zeit, mit pseudohumanistischen und fernöstlichen Philosophismen und unter Aufbietung von viel symbolischem Brimborium hinwegsetzt über die unerhörte Realität der kollektiven Katastrophe..."
An manchen Stellen des Romans glaubt Sebald gar das Vokabular der Nazis zu erkennen. Wenn Kasack schreibt "Eine Unzahl von Menschen wurde vorzeitig abgerufen, damit sie rechtzeitig als Saat, als apokryphe Neugeburt in einem bisher verschlossenen Lebensraum auferstehen konnte", kommentiert Sebald: "Die Wort- und Begriffswahl solcher in dem Kasackschen Epos nicht seltenen Passagen zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, dass die von der inneren Emigration angeblich kultivierte Geheimsprache weitgehend identisch war mit dem Code der faschistischen Gedankenwelt."
Sebalds Kritik an Hans Erich Nossacks Prosa fällt weniger scharf aus. Immerhin erkennt er Nossacks Verdienst an, "dass er, trotz seiner fatalen Neigung zur philosophischen Überhöhung und falschen Transzendenz, als einziger Schriftsteller damals den Versuch unternahm, das, was er tatsächlich gesehen hatte, in möglichst unverbrämter Form niederzuschreiben."
Damit meint Sebald vor allem Nossacks Bericht über die Verwüstung Hamburgs Ende Juli 1943. Darin finden sich einige Schilderungen dessen, was von der Handelsstadt nach den Bombenangriffen übriggeblieben war. Doch überwiegen Sätze wie: "Es war einmal ein Mensch, den hatte keine Mutter geboren. Eine Faust stiess ihn nackt in die Welt hinein, und eine Stimme rief: Sieh zu, dass du weiterkommst. Da öffnete er die Augen und wusste nichts anzufangen mit dem, was ihn umgab. Und er wagte nicht, hinter sich zu blicken, denn hinter ihm war nichts als Feuer."
Hans Erich Nossack ist kein Einzelfall in der sogenannten Trümmerliteratur geblieben, eher bestätigt er die Regel: metaphysische Verklärung statt der von Sebald geforderten Aufklärung. Die Trümmerliteraten schrieben nicht über die Trümmer, sondern über die Trümmer hinweg. Bleibt die Frage nach den Gründen. Sebald argumentiert differenziert. Neben dem Schock, den die in Deutschland verbliebenen Schriftsteller während des Luftkriegs nicht anders als der Rest der Bevölkerung erlitten, sieht er in der Schuld eine weitere Ursache für das kurzfristige Aussetzen der deutschen Literaturtradition. Eine Möglichkeit, die Vernichtungsaktion der Alliierten zu begreifen, war, sie als gerechte Strafe für die Verbrechen deutscher Nazis zu empfinden. Über die Folgen hatte man zu schweigen, denn: Die Deutschen durften keine Opfer sein, sie waren die Täter. Deutsche Autoren erlegten sich also eine Art Selbstzensur auf. Damit standen sie allerdings nicht allein. Auch die Leser lehnten weit über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus die Bewältigungsliteratur ab. Die meisten von W.G. Sebald zitierten Werke sind heute vergriffen. Am Schluss von W.G. Sebalds "Luftkrieg und Literatur" steht somit die Erkenntnis: Wer von den deutschen Schriftstellern nicht schon damals geschwiegen hat, schweigt spätestens heute.
Schade nur, dass Sebald über dieses Fazit nicht hinauskommt. So bleiben eine Reihe spannender Fragen unangesprochen. Etwa die, ob die Literatur als Gedächtnis einer Kultur ihrer Aufgabe überhaupt noch gerecht werden kann. Überfordert Sebald die Literatur nicht, wenn er ihr die Funktion eines exakten Katastrophenbarometers zumißt? Ist als Speichermedium historischer Erfahrung nicht eher die Geschichtswissenschaft gefordert? Dass es deren Analysen oftmals an Anschaulichkeit fehlt, kann man nicht der Literatur zum Vorwurf machen. Wenn es den deutschen Autoren angesichts der Zerstörung ihrer vertrauten Umgebung die Sprache verschlug, so war der Ausdruck dieser subjektiven Erfahrung eben das Nichts: ein beredtes Schweigen. Auf diese Lücke in der deutschen Literaturgeschichte hingewiesen zu haben, ist Sebalds Verdienst; füllen lässt sie sich im nachhinein nicht. Und das ist auch gut so.