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Literatur als Impfstoff

Johannes Türk untersucht den gesellschaftlichen Stellenwert von Literatur mit einem überraschenden Vergleich: So wie bei einer Impfung der Erreger absichtlich ins Blut gelangt, um die Krankheit zu stoppen, so funktioniere auch die Literatur als Schutz vor dem grausamen Leben.

Von Helmut Mörchen | 05.07.2011
    Johannes Türk hat mit seinem Buch "Die Immunität der Literatur", erschienen in der Wissenschaftssachbuchreihe des S. Fischer Verlags, eine bemerkenswerte Doktorarbeit geschrieben. Der Grundgedanke von Türks Fachgrenzen sprengender Arbeit ist einfach. So wie der Arzt bei der Impfung mit einer kontrollierten Infizierung die Widerstandskräfte gegen die jeweiligen Infektionen weckt und stärkt, baue die literarische Fiktion Schutzwälle gegen die Schrecken des wirklichen Lebens.

    Spannend wird Türks Gedankengang aber dadurch, dass er diese Parallele mit vielen literarischen Beispielen um das Ereignis der ersten medizinischen Impfung im 18. Jahrhundert herum illustriert. So gebe es von der Antike bis zu diesem Zeitpunkt die metaphorische Aufnahme des Impfprozesses in literarische Texte sozusagen avant la lettre, während danach Krankheiten und ihre Heilungen ganz konkret in die Plots fiktionalen Erzählens einfließen.

    Paradebeispiel für die antike Frühphase ist die Geschichtsschreibung des Thukydides. Der eine Schlacht Überlebende sei nicht nur zur Schonung des Gegners motiviert worden, sondern hätte nun mit allen Geretteten einen höheren Grad der Unverletzbarkeit gewonnen:

    Am meisten hatten immer noch die Geretteten Mitleid mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles vorauswussten und selbst nichts mehr zu fürchten hatten; denn zweimal packte es denselben nicht, wenigstens nicht tödlich. Diese wurden glücklich gepriesen von den anderen und hatten auch selbst seit der Überfreude dieses Tages eine hoffnungsvolle Leichtigkeit für alle Zukunft, als könne sie keine andere Krankheit mehr umbringen.

    So wie reale Lebensprozesse selbst immunisieren, könnten auch Berichte über sie Nicht- oder Nochnichtbetroffene auf Schlimmes vorbereiten. Ein Gedanke, bei dem Türk allerdings zu fragen versäumt, ob eine solche Immunisierung nicht auch nur Abstumpfung sein kann, durchaus in gefährlicher Nähe zur Verrohung.

    Erst mit der Entdeckung, dass man mit der Einpflanzung von Krankheitskeimen Krankheit vorbeugen kann, wächst das Bewusstsein für die Kraft "schützender Negativität". Immer aber geht es noch um konkretes Handel, das ethisch bewertet werden muss. Beispielhaft ist hier Kants Reflexion über die Pockenimpfung in seiner "Metaphysik der Sitten":

    Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschließt, wagt sein Leben aufs Ungewisse: ob er es zwar tut, um sein Leben zu erhalten, und ist in einem weit bedenklicheren Fall des Pflichtgesetzes, als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, dem er sich anvertraut, stattdessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht. Ist also die Pockenimpfung erlaubt?

    "Die Pockenimpfung ist für Kant also prekär, weil sie" – so Johannes Türk – "ein Risiko birgt, das nicht natürlich ist, sondern aus einer Intention entsteht." Von hier aus ist der Schritt zur Literatur plausibel. Denn Dichter schaffen eine ihrer Intention entspringende Welt, sie können Gutes und Böses in der Fantasie ihrer Leser lebendig werden lassen. Aus einem "wohl eingerichteten Gemeinwesen" hätte etwa Rousseau den "zu künstlichen Leidenschaften" verführenden Roman am liebsten verbannen lassen, in einer aber leider schlechten Welt könne das fiktive Böse im fiktionalen Text wie ein Impfstoff wirken. So wird im späten 18. Jahrhundert laut Türk "Immunisierung zum charakteristischen Merkmal des Bildungsromans": "Literarische Texte müssen nicht mehr exemplarisch für Normen sein, vielmehr können sie eine große Variationsbreite negativer Ereignisse von Schmerz bis zur Abweichung von moralischen und sozialen Richtwerten zur Darstellung bringen."

    Die Schilderung des Einzugs von Krankheit und Immunität in die Erzählhandlungen seit dem späten 19. Jahrhundert eröffnet Türk mit Theodor Fontanes Schachzug, die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Realität in Frage zu stellen. Effi Briest, von Gespensterangst erfasst, unterhält sich mit ihrem diese Angst instrumentalisierenden Ehemann Baron von Instetten über die Vergleichbarkeit der Fragen nach der Realität des unsichtbaren Spukes und nach der Realität ebenfalls unsichtbarer Bakterien. Johannes Türk spitzt seine Kurzinterpretation des Fontane-Romans abschließend zu: "In der Gesamtstruktur des Romans stellt der Vergleich mit der Bakteriologie eine zentrale poetologische Frage: obwohl es in der Tat die Bakterien sind, die schließlich Effis Tod herbeiführen, wird an ihnen die Grenze des Sinns verhandelt."

    Sehr ausführlich sind Türks Kapitel zu Thomas Manns "Tod in Venedig" und zum "Zauberberg", weltbekannten Krankheitsgeschichten par excellence. Auch Marcel Prousts Asthma in seiner "À la Recherche du temps perdu" wird vielleicht etwas zu viel Platz eingeräumt. Das sind Kapitel, deren detaillierte Krankheitsbeschreibungen auf der einen Seite den medizinischen Laien langweilen können und den Literaturkenner durch zuweilen sehr breites Nacherzählen der Handlung andererseits unterfordern.

    Dass Türk den gesellschaftlichen Stellenwert von Literatur aus einer überraschenden Perspektive thematisiert, macht seine Studie lesenswert und reizvoll. Das Verhältnis von Lesen und Leben, die Frage, ob Literatur die Welt abbildet oder verändert, die Bedeutung der Fantasie für eine sich dem Sachzwang unterordnende Gesellschaft: all diese Komplexe geraten durch Türks Einführung der Immunität in die Literaturtheorie in ein neues Licht.

    Es sei hier an Dieter Wellershoffs Essay "Fiktion und Praxis" aus dem Jahr 1969 erinnert, in dem er von der "Simulationstechnik der Literatur" spricht derart, dass "man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routinen überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko einzugehen." Die Immunität der Literatur steigert die Gefahrlosigkeit der Simulation zur Gefahrenabwehr und Gefahrenbewältigung.

    Als Beleg für eine solche Möglichkeit hat Türk ein treffliches Zitat bei Walter Benjamin gefunden. In der "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" beschreibt der Exilierte, wie Fantasie zur Bewältigung bedrängender Erlebnisse beitragen kann:

    Ich hatte das Verfahren der Impfung mehrmals in meinem inneren Leben als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten wecken – die Kindheit – mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebenso wenig Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper.

    Ob Literatur, wie Türk abschließend meint, eine Institution ist, "die ihrem eigenen Verständnis nach die Belastbarkeit des Menschen für traumatische Ereignisse ausbildet", darüber weiter nachzudenken lohnt sich nach der Lektüre dieser beachtlichen Doktorarbeit. Unbestritten aber ist, dass Literatur durch ihre spezifische "kommunikative Form" – die Fiktionalität – "literarische Texte von unmittelbaren Reaktionszwängen" entlastet. Der Zuschauer im Parkett muss dem auf der Bühne die Pistole zückenden Mörder nicht in den Arm fallen.

    Johannes Türk: "Die Immunität der Literatur"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011. 376 Seiten, Euro 22,95.