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Literatur als zentrale Waffe

Selbst wer sich mit zeitgenössischer türkischer Literatur intensiv beschäftigt findet nur wenige Bücher in deutscher Sprache. Natürlich gibt es derzeit überall die Literaturübersetzungen des Friedenspreisträgers des deutschen Buchhandels, Orhan Pamuk. Und auch die Bücher des Erfolgsautors Yasar Kemal haben seit Jahren ihren festen Platz in den Auslagen der Buchhandlungen. Kemals Fortsetzungsgeschichten um Mehmet den Falken, einer Art anatolischen Robin Hoods, haben in Deutschland viele treue Anhänger gefunden. Trotz der öfters laut gewordenen Kritik, der Dorfromanzyklus sei literarisch zwischen Konsalik und Karl May angesiedelt, also mehr seichte Unterhaltung als ernst zu nehmende Literatur.

Von Christoph Burgmer |
    Andere türkische Autoren, die sich auf literarisch anspruchsvollem Niveau bewegen, finden sich dagegen kaum. Sicher, es gibt Übersetzungen des bedeutendsten türkischen Lyrikers und Dramatikers des 20. Jahrhunderts Nazim Hikmet. So in zweisprachiger Ausgabe im allerdings weithin unbekannten Berliner Dagyeli Verlag. Und auch einige zeitgenössische türkische Erzählerinnen wie Elif Shafak, Bilge Karasu oder Erendiz Atasü sind in deutscher Sprache erschienen. Dank des engagierten Frankfurter Verlegers Mesut Caner, der sie in das Programm seines Literaturça Verlag aufgenommen hat. Doch diese Schriftstellerinnen sind nur ein kleiner Ausschnitt einer seit Jahrzehnten vibrierenden türkischen Literaturszene. Jens Peter Laut ist Turkologe am Freiburger Institut für Islamwissenschaft.

    "Es gibt tausende von Polemiken und erregte Auseinandersetzungen. Es gibt hunderte von Literaturzeitschriften während mir bei uns auf Anhieb vielleicht drei oder vier einfallen, die sich auch gut verkaufen. Die Literatur gehört auf jeden Fall zu einem ganz wichtigen Teil des öffentlichen kulturellen Lebens. Das ist ganz erstaunlich. Und da würde ich auch einen ganz klaren Gegensatz zu den sonstigen islamischen Ländern sehen. Die Türkei ist ja nach wie vor ein islamisches Land. Aber hier hat die Literatur einen wesentlich höheren gesellschaftlich-politischen Stellenwert."

    Wer nach Gründen forscht, warum die türkische Literatur in Deutschland bislang wenig wahrgenommen wurde, durchschreitet ein weites Feld von Vorurteilen, Xenophobien, Unkenntnis und Ignoranz. Hinzu kommt die zunehmende Marktkonzentration auf wenige transnational operierende Buchkonzerne. Absatzmöglichkeiten für kleinere Verlage, die sich den für Europäer exotischen Literaturen verschrieben haben, sind in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Dem will der Züricher Unionsverlag, mit finanzieller Rückendeckung durch die Robert Bosch Stiftung, nun entgegenwirken. Kulturelle Vielfalt statt literarischen Fast Foods ist für beide Partner seit Jahrzehnten Programm. Die Reihe mit 20 Bänden unter dem programmatischen Titel "Türkische Bibliothek" soll dem deutschen Leser ausgewählte Kostproben türkischer Literatur des 20. Jahrhunderts anbieten.

    "Ich beschäftige mich auch mit vorislamischer türkischer Literatur in Zentralasien und bereits dort ist die türkische Literatur ohne fremde Vorbilder undenkbar. Die Türken übersetzen seinerzeit aus dem Chinesischen und aus dem Sanskrit. In islamischer Zeit später und heute ist es tatsächlich so, dass westliche Muster zu 90 Prozent übernommen werden. Allerdings wird mehr und mehr versucht, wie das zum Beispiel Orhan Pamuk und Nedim Gürsel tun, osmanische stilistische und inhaltliche Traditionen damit zu verweben. Es ist also irgendwo eine sehr interessante Suche nach einer spezifisch türkischen Identität. Das heißt, man übernimmt westliche Vorbilder, aber versucht, sie mit eigenen türkischen Inhalten und Stilmustern irgendwie zu füllen, die man als türkisch empfindet."

    Zusammen mit Erika Glassen ist Jens Peter Laut für die Autorenauswahl der "Türkischen Bibliothek" verantwortlich. Sie wollen dem deutschen Leser in den nächsten vier Jahren einen Überblick über die stilistische und inhaltliche Entwicklung der modernen türkischen Literatur ermöglichen. Berücksichtigt wurden deshalb nur türkeitürkische Autoren. So genannte Gastarbeiterliteratur wie auch Übersetzungen kaukasischer und mittelasiatische türkische Literatur nahm man nicht mit auf. Außerdem wählte man solche Romane und Autoren aus, die, aus literarischer Perspektive für exemplarisch gelten und noch nicht ins Deutsche übersetzt sind. Der erste Band "Von Istanbul nach Hakkari" wurde als einführender Überblick konzipiert. Die 33 Kurzgeschichten zeigen die unbekannte Vielfalt der türkischen Lebensrealität.

    "Eine Kurzgeschichte in unserem Erzählband berichtet davon, dass ein älterer Mann, der jahrelang in einer Großstadt gelebt hat, sich, als er nun ein gereiftes Alter erreicht hat, auf seine Wurzeln besinnt und wieder Nomade werden will. Das ist ein typisch türkisches Muster. Kein älterer Mann in Deutschland würde sich darum bemühen, auf seine älteren Tage ein Nomade zu werden. Er scheitert natürlich daran. Das ist für mich ein sehr schönes Beispiel dafür, dass man versucht, traditionelle Lebensweisen in die moderne Literatur mit einzubeziehen. Sie also nicht zu negieren, wie das eine zeitlang getan wurde, als man sagte, dass nur die Moderne zählt, sondern das man hier tatsächlich wieder archaische Lebensmuster, wenn man so will, in den literarischen Prozess mit einbezieht."

    Die mehrhundertjährige osmanische Literaturproduktion blieb in der "Türkischen Bibliothek" leider unberücksichtigt. Man beschränkte sich auf die Literatur des 20. Jahrhunderts. Solche Vorgaben erscheinen formal-akademisch und nicht literaturästhetischen oder -historischen Entwicklungen geschuldet. Ganz unberechtigt sind sie jedoch nicht. Denn die so genannte "Revolution von oben" des bis heute wie eine Ikone verehrten Staatsgründers Kemal Atatürk hatte die Türkei in den 20er Jahren radikal umgewälzt. Türken mussten westliche Kleidung tragen und in der Verfassung wurde die Gleichberechtigung der Frauen festgeschrieben. Die Verwendung des lateinischen anstelle des arabischen Alphabets schliff, wie nebenbei, die osmanischen Literaturtraditionen bis auf die Grundmauern. Und stieß die türkische Gesellschaft, nun völlig abgesprengt von ihrem imperialen osmanischen Erbe, endgültig in das politische und kulturelle Spannungsfeld zwischen islamischen Bindungen und westlicher Dominanz. Um den Identitätsbruch zu kitten initiierte der türkische Staat eine bis dahin nicht gekannte Bildungsoffensive.

    "Man kann tatsächlich sagen, dass mit der Ausrufung der Republik und ihrer völligen Abkopplung als antiislamische Republik, zumindest in der Frühzeit, der völligen Abkopplung vom arabisch-persischen Bereich, die Türkei tatsächlich einen Sonderweg eingeschlagen hat. Sie lässt sich nicht mehr, vor allem auch auf literarischem Wege, seien es Produktion, seien es Motive, mit dem Rest der islamischen Welt vergleichen. Man hat natürlich im Zuge der Alphabetisierungskampagnen versucht, durch sehr billig gedruckte Auflagen von aus dem Osmanischen ins türkeitürkische übersetzte Klassikern, einen großen Leserkreis zu erreichen. Man findet Sie heute noch in den Antiquariaten. Dies ist in weiten Teilen, dann insbesondere in den 60er, 70er Jahren, auch geglückt. Es ist manchmal ganz skurril, wenn sie einen Roman aufschlagen und dort steht Erstauflage 1997 und 30. Auflage schon 1998. Aber das heißt natürlich nicht, dass Millionen Exemplare gedruckt wurden. Die Auflagen erfolgen immer in tausender oder zehntausender Schritten. Aber mittlerweile hat die Auflagenhöhe der Romane einen quantitativ sehr beeindruckenden Grad erreicht."

    Doch die türkische Literatur ließ sich nicht als ästhetisches Rankwerk politisch diktierter Bildungskampagnen missbrauchen. Vielmehr verschrieb sie sich der Kritik an der geistesarmen und machtfanatischen türkischen Militärkaste. Diese Haltung, mit literarischen Mitteln Machtansprüche in Frage zu stellen, hat sie bis heute beibehalten. Sie ist der Puls, an dem die Anwendung bürgerlicher Rechte in der türkischen Gesellschaft konkret messbar ist. Viele Schriftsteller waren gegen Militärdiktaturen aktiv. So ist es wenig verwunderlich, wenn die Protagonisten in den Romanen zwischen politischer Realität und Träumen von einer besseren Welt innerlich zerrissen werden. In Leyla Erbils Roman "Eine seltsame Frau", dem zweiten Band der Reihe, ist es die junge Studentin Nermin, die angezogen von der linken Künstlerszene Istanbuls dort auf einen ausgeprägten männlichen Machismo trifft. Ihre Träume von Gerechtigkeit und Freiheit zerstieben im banalen Machtgefüge des Alltags. Für die türkischen Intellektuellen wird die Literatur im 20.ten Jahrhundert zur zentralen Waffe. Nur so ist es möglich, den Alltag einer autoritären Gesellschaft zu beschreiben und damit reflektierbar zu machen.

    "Sie war auf jeden Fall ein Ventil. Schauen Sie sich den Roman, den wir von Leyla Erbil "Eine seltsame Frau" aus dem Jahre 1971, den wir jetzt veröffentlicht haben, an. In diesem Roman werden Tabubrüche geschildert, die die seinerzeitige sonstige Öffentlichkeit, also sprich Zeitungen, Zeitschriften oder sonstige Verlautbarungen, niemals thematisiert hätten. Da ist die Rede von der weiblichen Sexualität, es kommen Tabus wie Inzest, Masturbation zur Sprache. Sie sind sehr geschickt und amüsant verpackt, also nicht aufdringlich und plakativ, wie ein primitiver Feminismus sich äußern kann, sondern tatsächlich mit einem Augenzwinkern, wenn auch sehr bestimmt. Das ist ein schönes Beispiel einer solchen Ventilfunktion von Literatur. Der Roman war damals übrigens auch ein Skandal und die Autorin bekam einige Schwierigkeiten."

    Auch der dritte Band der "Türkischen Bibliothek" löste in der Vergangenheit eine heftige Debatte aus. Im 1996 veröffentlichten Kriminalroman "Nacht und Nebel" beschreibt Ahmed Ümid die brutale Welt türkischer Geheimdienste und ihren Krieg gegen Terroristen. Ein Tabubruch, denn darüber, dass die Türkei bis in die 90er Jahre Kommunisten, Linke und Kurden verfolgte, einsperrte und ermordete, spricht man nicht. So wie alle anerkannten türkischen Autoren hat auch Ahmed Ümit, obwohl erst 1960 geboren, viel Sympathie für die linke politische Szene. So verwundert es nicht, dass Autoren mit islamischer Tendenz nicht in die Reihe mit aufgenommen wurden.

    "Die Schriftsteller, die wirklich gut sind, nach unseren Maßstäben zumindest, sind eigentlich eher alle auf dem linken Spektrum angesiedelt. Wir hätten sehr gerne etwas aus dem rechten oder religiösen Spektrum genommen. Sie finden dort zwar Literatur, aber ehrlich gesagt, keine Literatur, die unseren oder auch den Maßstäben der türkischen Literaten entsprechen würde."

    Die "Türkische Bibliothek" ist beispielhaft ausgestattet. Jeder Band ist mit einem ausführlichen, kenntnisreichen Nachwort versehen. Im Internet sind zusätzliche Informationen über den jeweiligen Autor und die Rezeption des Werkes bereitgestellt. Und sogar Materialien für den Unterricht sollen bald erscheinen. Bravo, die bisherigen Veröffentlichungen machen Lust auf mehr.