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Literatur für Mediziner

Der Dichter liest – kurze und lange, alte und neue Gedichte aus dem eigenen Werk. An seinen Lippen hängen die Zuschauer - der moderne Hörsaal im Klinikum der Uni Lübeck ist bis auf den letzten Platz belegt. Viele reifere Semester, aber auch die, für das erste Lübecker Literarische Colloquium eigentlich gedacht ist. Dr. Hans Wißkirchen, Leiter des Buddenbrook-Hauses in Lübeck und Dozent im Colloquium:

    Primär an Studierende der Universität, also an Mediziner und Naturwissenschaftler, weil es sicherlich sinnvoll ist, mal den Blick über den Tellerrand hinaus zu richten.

    Das tun sie heute schon, ganz klar, Günther Grass ist ein Zugpferd, das die Massen bewegt. Bloß - was genau hat eigentlich Medizin mit Literatur zu tun?

    Das versteh´ich überhaupt nicht – keine Idee.

    Aber Günther Grass hat eine Erklärung – kein Wunder, er ist der Initiator des Lübecker Literarischen Colloquiums:

    Ich meine, die machen ja alle ein Fachstudium – das fordert sie, und das ist auch richtig, und es fehlen die Ergänzungen, und ich glaube, dass die Literatur ein breites, abwechlungsreiches Angebot machen kann, also auch eines, das durchaus auch mit dem Arztberuf zu tun hat – und sehr viele Bücher handeln von... für Krankheit anfälligen Menschen, die gezeichnet sind, und die sich vor Krankheit fürchten, von Krankheit befallen sind.

    Ein gutes Beispiel hierfür: Thomas Mann, ein weiterer Exportschlager der Hansestadt Lübeck:

    Nehmen Sie etwa den Zauberberg – der in einem Sanatorium spielt – und da wird im Grunde all das, was die Medizin mit ihren naturwissenschaftlichen, mit ihren medizinischen Methoden analysiert, durchgespielt, auch auf ironische – auf andere Art und Weise - also die Themen werden eben auf andere Art und Weise vorgeführt auch.

    Bloß wie liest man eigentlich Thomas oder Heinrich Mann oder eben Günther Grass, wie kommt man ´ran an den tieferen Sinn literarischer Werke? Vor allem darum geht es im Lübecker Colloquium, denn die Lesung heute Abend ist nur der Anfang. Noch im laufenden Semester wird´s zusätzlich zu Anatomie und Co. vier literaturwissenschaftliche Seminare geben. Ein gutes Angebot für die Studierenden - sie wissen es – Literatur und Medizin, ja, das passt.

    Ich muss hier, wie man sieht, total viel lernen, und es ist mal toll, sich auch geisteswissenschaftlich zu beschäftigen –
    Ich finde, man sollte nicht irgendwie nur so einspurig Medizin...darauf festgefahren sein, sondern doch auch kulturelle Angebote wahrnehmen – und das ist ja sicher auch die Literatur hier –
    Ja doch, ich find schon das´ses jedenfalls ´ne gute Abwechslung ist, und das man hier auch andere Sachen machen kann an der Uni.


    Das Studium Generale wird in der ansonsten rein naturwissenschaftlichen Uni Lübeck groß geschrieben. Veranstaltungen rund um die fünf Sinne sind diesen Winter im Angebot, die Literatur steht ganz neu auf dem Plan. Schön, findet Prorektor Prof. Peter Schmucker. Er sieht zwischen Lesen und Heilen noch eine tiefere Verbindung:

    Es ist sehr wichtig, für die Auseinandersetzung mit der Welt, dass man die Vieldeutigkeit von Zeichen versteht, und es ist geradezu eines der Qualitätskriterien von literarischen, fiktionalen Texten, dass sie vieldeutig sind. Wenn Sie sich ansehen, jedes Krankheitssymptom ist ein Zeichen, ein Zeichen ist vieldeutig, mit anderen Krankheitssymptomen zusammen bildet es einen Text, und es ist entscheidend für die Diagnose, dass dieser Text korrekt gelesen wird, und dass die Vieldeutigkeit nicht übersprungen wird.

    Im Vordergrund der Literaturveranstaltung stehen die Originaltexte, keine Sekundärquellen. Dr. Dieter Stolz aus Berlin wird in Lübeck Grass lesen mit den Studierenden und hat vor allem ein Ziel dabei:

    Dass sie wieder Lust gewinnen, genau hinzuschauen, wenn´s um Literatur geht, also sich diesem Abenteuer Literatur zu stellen.

    Bleibt bloß noch die Frage, ob den Studierenden angesichts der Vielschichtigkeit ihres Stundenplans dazu noch Luft bleibt.

    Das kann ich noch nicht so sagen, ich bin jetzt Erstsemester, deswegen – äh – weiß man nicht, wie viel man jetzt doch noch zu tun hat, aber wenn sich die Zeit bietet, bestimmt, wär´ sicher interessant, ja –
    Nein – ich hab´ überhaupt keine Zeit –
    Ich muss mal gucken, ob ich das schafffe