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Literatur im Internet

Internet, das Medium der Zukunft. Einer unbekannten Zukunft allerdings, was seine ästhetischen Möglichkeiten angeht. Wie nutzen zeitgenössische Autoren das Netz? Wie sieht die Literatur im Zeitalter des world wide web aus, welcher künstlerische Mehrwert läßt sich aus dem Datenhighway herausschlagen? Fragen, die auf Antwort drängen.

Kersten Knipp |
    Das Literarische Colloqium Berlin wollte Abhilfe schaffen und widmete das alljährliche Autorentreff "Tunnel über der Spree" am zweiten Septemberwochenende den Neuen Medien. Gut zwanzig Autoren kamen an die idyllische Villa am Wannsee, um unter Leitung des Frankfurter Romanciers Thomas Hettche, Herausgeber der Internet-Anthologie "NULL", ihre Erfahrungen auszutauschen.

    Doch schon die Besetzung des Symposiums zeigte: Ästhetisch steckt die Web-Literatur noch in den Kinderschuhen, die erhoffte Freisetzung künstlerischer Innovationen wird kommenden Generationen vorbehalten sein. Denn mit Ausnahme des 24-jährigen Sebastian Böttcher, deutscher Poetry-Slam-"König" des Jahres 1997 und Gewinner des dritten internationalen Poetry-Slam in Amsterdam, sind die Teilnehmer vor allem Repräsentanten des klassischen Literaturbetriebs. Bekannt sind sie in erster Linie als Buchautoren und dann erst, wenn überhaupt, als Verfasser von Netz-Texten. So verlas Burkhard Spinnen einen launigen Text über das Internet, gab aber zu, noch nicht eine Seite in spezifischer Netz-Ästhetik konzipiert zu haben, dies in Zukunft auch nicht tun zu wollen. Digitale Praxis hat sich längst nicht bei allen der anwesenden Autoren eingestellt, und so orientierten sich die meisten bei ihrer Begegnung mit Netz-Literatur an den landläufigen theoretischen Vorgaben.

    Das Internet, wird oft und gern behauptet, sei anarchisch, wuchernd, hierarchiefrei. Dementsprechend hat sich das von Hettche geleitete virtuelle Autorenforum "NULL" der Logik des Sternenhimmels verschrieben, pflegt das Chaos des Kosmos: Jeder auftretende Autor erscheint als Stern oder Sternchen, alle Text sind miteinander verknüpft, und zwar in alle denkbaren Richtungen. Einen zentralen Bezugstext gibt es nicht, eine vorgegebenen Ordnung auch nicht: der Leser von "NULL" soll sich durch die freie Wahl der Lektürenfolge seine eigenen, nicht vorhersehbaren Sinnbezüge erarbeiten dürfen.

    Daß derartige poetologische Konzepte zumindest im letzten, wenn nicht dem vorletzten Jahrhundert wurzeln, verkannten die Teilnehmer nicht. Stephan Mallarmé wurde beschworen, der Erfinder der konsequent offenen Bedeutung in der Lyrik, und der Kölner Romancier und Kommunikationswissenschaftler Leander Scholz erinnerte an Friedrich Nietzsches bekanntes Diktum über seine Aphorismen: sie hingen zwar alle miteinander zusammen - er wisse nur nicht, wie. Nietzsche jedenfalls hätte auf der Tagung Brüder im Geiste finden können: Auch der österreichische Autor Martin Auer verwies bei der Präsentation seiner aus fünfzig miteinander verknüpften Gedichten bestehenden Website auf den höheren Sinn seiner Tüffteleien. Welcher das sein könnte, ließ er klugerweise offen.

    So faszinierte das Netz vor allem theoretisch. Die Teilnehmer diskutierten den multimedialen Charakter der Internet-Literatur, die an den Frühbarock erinnernde Dominanz des Bildraums, das Primat des Graphischen, die Aufhebung der Gattungen, das Aufgehen des reinen Textes im audio-visuellen Gesamtkunstwerk. Daß ein solches eines Tages eine Aura werde entfalten können, mochte man angesichts der Anschauungsbeispiele bestenfalls hoffen. Da blinkte, blitzte und zuckte es auf dem Bildschirm, farbige Flächen schlossen sich, andere öffneten sich. Gleichzeitig wurde eine Geschichte erzählt. Auf sie konnte der Leser via Mouseclick Einfluß nehmen, sich zwischen zahllosen Handlungsvarianten frei hindurchschlängeln und sich seine eigene story erzählen. Ästhetischer Fortschritt? Wer weiß.

    Zwischen dreierlei Aufgaben des Internets unterschied die Theoretiker der Tagung: Kommunikation, Distribution und Präsentation. Die Kommunikation per Internet hat sich in den Industrieländern durchgesetzt, die Chancen der Distribution hat man erkannt. Mit der Präsentation, die Tagung zeigte es deutlich, hapert es noch. Zumindest im Fall von Literatur.

    Link: &dquot;NULL&dquot;