Anz: Beides! Es gibt natürlich Texte, die dazu geeigneter sind, eine lustvolle Lektüre zu fördern, und es gibt Texte, die dazu weniger geeignet sind. Es gibt aber auch unterschiedliche Arten, Texte zu lesen, lustvoller zu lesen und weniger lustvoll zu lesen. Das Ideale ist, wenn ein Text, der so beschaffen ist, daß er Lust erregen kann, auch den richtigen Leser findet, der es versteht, lustvoll zu lesen.
Hagestedt: Kann man dieses Buch als Anleitung verstehen, lustvoll zu lesen und lustvoll zu schreiben?
Anz: Wenn man das kann - ich möchte das nicht entscheiden - dann würde ich mich natürlich darüber freuen. Ich habe mich bemüht, im Rahmen des Möglichen auch so zu schreiben, daß dieses Buch lustvoll gelesen werden kann. Es geht mir allerdings vor allem um eines, nämlich um den Versuch, zu erklären, warum man aus ganz verschiedenen Gründen beim Lesen von Literatur Lust haben kann. Die Gründe dafür sind wirklich sehr unterschiedlich: Es gibt eine Lust am Traurigen wie am Fröhlichen, eine Lust am Grauen wie am Schönen. Und diese ganze Palette von heterogenen Lüsten mal zu durchleuchten, genauer, nicht nur allgemein von der Leselust zu sprechen, sondern ihr auf den Grund zu gehen, das war das Anliegen meiner Arbeit.
Hagestedt: Auch die spröde auftretende Germanistik entwickelt bisweilen ihre eigene Lust an analytischer Kompetenz. Sie ironisieren das ein bißchen.
Anz: Ja, ich habe in diesem Buch von der lustlosen Literaturwissenschaft gesprochen. Das darf nicht mißverstanden werden. Die Literaturwissenschaft ist insofern lustlos, als sie nicht genauer danach fragt, woran die Lust am Lesen besteht. Das heißt aber nicht, daß Literaturwissenschaftler, wenn sie Texte analysieren und interpretieren, dabei nicht einen hohen Grad an Lustbefriedigung haben könnten. Zum Beispiel Strukturalisten, deren Geschäft oft sehr trocken und rationalistisch aussieht, üben eine Tätigkeit aus, die hochgradig lustvoll sein kann. Lustvoll kann dabei das Entdecken von Zusammenhängen sein, das Entdecken von Beziehungen zwischen Textteilen zu anderen Textteilen. Das hat manchmal den Lustcharakter eines Kreuzworträtsel-Spiels, das hat auch den Lustcharakter, den ein Mathematiker haben kann, wenn er etwas entdeckt und auf eine einfache Formel bringt. Und was da psychisch in uns vorgeht, wenn wir so etwas machen, auch das habe ich versucht, in diesem Buch darzustellen.
Hagestedt: Spannung, so eine These in Ihrem Buch, werde in der modernen Literatur über das Textende hinaus verlängert - strapaziert, könnte man sagen. Es entsteht eine Art lustvoller Spannungsschmerz. Was ist die Ursache für diese Entwicklung?
Anz: Lange Zeit hat man das Wohlgefallen an Literatur, die Lust auch an Literatur, mit dem Schönen gleichgesetzt. Mit Harmonie, Ordnung und solchen Vorstellungen und Erlebnisweisen. In der modernen Literatur ist das häufig suspekt geworden. Man entdeckt hier, daß auch Disharmonien, Dissonanzen, Diskrepanzen, Widersprüche etwas Lustvolles sein können. Lustvoll deshalb, weil sie energiefördernd sein können - sie sind weniger beruhigend als erregend. Und dieses Lustpotential hat die Moderne in der Musik, in der Kunst und in der Literatur für sich entdeckt. Die völlige Ruhe, die völlige Harmonie ist letztendlich nur im Tod zu haben, während Spannungen, Widersprüche zum Leben gehören. Diese Lebendigkeit in uns zu stimulieren, das ist vielfach ein Anliegen der Moderne.
Hagestedt: Inwieweit können in diesem Sinne Schmerz und Angst lustvoll sein?
Anz: Schmerz und Angst haben, so leidvoll sie häufig empfunden werden, doch große Vorzüge, nämlich unsere Gefühle überhaupt in Bewegung zu bringen. Nichts ist erregender als Angst, als ein großer Schmerz. Kafka hat einmal davon gesprochen, daß Literatur der Axthieb in das gefrorene Meer in uns sein muß. Dieses Erregungspotential von Angst und Schmerz nutzt Literatur regelmäßig aus, und sie kann das deshalb, weil wir beim Lesen auch eine gewisse Distanz dazu immer noch haben zu dieser Lust und dem Schmerz. Wir empfinden ihn einerseits mit, den Schmerz von Figuren, wir haben Angst mit ihnen, andererseits genießen wir auch die Distanz, die wir als Leser dazu haben, so wie wir sie auch im Fernsehsessel genießen oder im Kino.
Hagestedt: Zusammenfassend könnte man sagen, daß eine bestimmte Dynamik Texte lustvoll macht.
Anz: Ja, das ist die Dynamik von Lust und Unlust. Es gibt einen berühmten Ausspruch von Freud, der lautet: "Nur der Unglückliche phantasiert". Nur der Unglückliche entwickelt den starken Wunsch nach Phantasien, die ihn glücklicher machen. Wenn nun aber wir Leser nicht unbedingt unglücklich sind, dann hat Literatur die Möglichkeit und auch die Aufgabe, uns unglücklich zu machen, um gleichzeitig auch die Möglichkeit bereitzustellen, dieses Unglück, das wir durch Literatur erleben, auch wieder aufzuheben. Das geschieht etwa im Märchen, im Happy End, nachdem die Figuren böseste Erfahrungen gemacht haben. Kurzum, die Literatur läßt ihre Leser leiden, um dann in der Aufhebung des Leidens den Wechsel zum Glück genießbar zu machen.
Hagestedt: Kann man dieses Buch als Anleitung verstehen, lustvoll zu lesen und lustvoll zu schreiben?
Anz: Wenn man das kann - ich möchte das nicht entscheiden - dann würde ich mich natürlich darüber freuen. Ich habe mich bemüht, im Rahmen des Möglichen auch so zu schreiben, daß dieses Buch lustvoll gelesen werden kann. Es geht mir allerdings vor allem um eines, nämlich um den Versuch, zu erklären, warum man aus ganz verschiedenen Gründen beim Lesen von Literatur Lust haben kann. Die Gründe dafür sind wirklich sehr unterschiedlich: Es gibt eine Lust am Traurigen wie am Fröhlichen, eine Lust am Grauen wie am Schönen. Und diese ganze Palette von heterogenen Lüsten mal zu durchleuchten, genauer, nicht nur allgemein von der Leselust zu sprechen, sondern ihr auf den Grund zu gehen, das war das Anliegen meiner Arbeit.
Hagestedt: Auch die spröde auftretende Germanistik entwickelt bisweilen ihre eigene Lust an analytischer Kompetenz. Sie ironisieren das ein bißchen.
Anz: Ja, ich habe in diesem Buch von der lustlosen Literaturwissenschaft gesprochen. Das darf nicht mißverstanden werden. Die Literaturwissenschaft ist insofern lustlos, als sie nicht genauer danach fragt, woran die Lust am Lesen besteht. Das heißt aber nicht, daß Literaturwissenschaftler, wenn sie Texte analysieren und interpretieren, dabei nicht einen hohen Grad an Lustbefriedigung haben könnten. Zum Beispiel Strukturalisten, deren Geschäft oft sehr trocken und rationalistisch aussieht, üben eine Tätigkeit aus, die hochgradig lustvoll sein kann. Lustvoll kann dabei das Entdecken von Zusammenhängen sein, das Entdecken von Beziehungen zwischen Textteilen zu anderen Textteilen. Das hat manchmal den Lustcharakter eines Kreuzworträtsel-Spiels, das hat auch den Lustcharakter, den ein Mathematiker haben kann, wenn er etwas entdeckt und auf eine einfache Formel bringt. Und was da psychisch in uns vorgeht, wenn wir so etwas machen, auch das habe ich versucht, in diesem Buch darzustellen.
Hagestedt: Spannung, so eine These in Ihrem Buch, werde in der modernen Literatur über das Textende hinaus verlängert - strapaziert, könnte man sagen. Es entsteht eine Art lustvoller Spannungsschmerz. Was ist die Ursache für diese Entwicklung?
Anz: Lange Zeit hat man das Wohlgefallen an Literatur, die Lust auch an Literatur, mit dem Schönen gleichgesetzt. Mit Harmonie, Ordnung und solchen Vorstellungen und Erlebnisweisen. In der modernen Literatur ist das häufig suspekt geworden. Man entdeckt hier, daß auch Disharmonien, Dissonanzen, Diskrepanzen, Widersprüche etwas Lustvolles sein können. Lustvoll deshalb, weil sie energiefördernd sein können - sie sind weniger beruhigend als erregend. Und dieses Lustpotential hat die Moderne in der Musik, in der Kunst und in der Literatur für sich entdeckt. Die völlige Ruhe, die völlige Harmonie ist letztendlich nur im Tod zu haben, während Spannungen, Widersprüche zum Leben gehören. Diese Lebendigkeit in uns zu stimulieren, das ist vielfach ein Anliegen der Moderne.
Hagestedt: Inwieweit können in diesem Sinne Schmerz und Angst lustvoll sein?
Anz: Schmerz und Angst haben, so leidvoll sie häufig empfunden werden, doch große Vorzüge, nämlich unsere Gefühle überhaupt in Bewegung zu bringen. Nichts ist erregender als Angst, als ein großer Schmerz. Kafka hat einmal davon gesprochen, daß Literatur der Axthieb in das gefrorene Meer in uns sein muß. Dieses Erregungspotential von Angst und Schmerz nutzt Literatur regelmäßig aus, und sie kann das deshalb, weil wir beim Lesen auch eine gewisse Distanz dazu immer noch haben zu dieser Lust und dem Schmerz. Wir empfinden ihn einerseits mit, den Schmerz von Figuren, wir haben Angst mit ihnen, andererseits genießen wir auch die Distanz, die wir als Leser dazu haben, so wie wir sie auch im Fernsehsessel genießen oder im Kino.
Hagestedt: Zusammenfassend könnte man sagen, daß eine bestimmte Dynamik Texte lustvoll macht.
Anz: Ja, das ist die Dynamik von Lust und Unlust. Es gibt einen berühmten Ausspruch von Freud, der lautet: "Nur der Unglückliche phantasiert". Nur der Unglückliche entwickelt den starken Wunsch nach Phantasien, die ihn glücklicher machen. Wenn nun aber wir Leser nicht unbedingt unglücklich sind, dann hat Literatur die Möglichkeit und auch die Aufgabe, uns unglücklich zu machen, um gleichzeitig auch die Möglichkeit bereitzustellen, dieses Unglück, das wir durch Literatur erleben, auch wieder aufzuheben. Das geschieht etwa im Märchen, im Happy End, nachdem die Figuren böseste Erfahrungen gemacht haben. Kurzum, die Literatur läßt ihre Leser leiden, um dann in der Aufhebung des Leidens den Wechsel zum Glück genießbar zu machen.