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Literaturfestival in Odessa
Ein Schritt in die Weltkultur

Odessa gilt seit jeher als liberal und multikulturell. Vor zwei Jahren, also noch vor Beginn der Ukraine-Krise, wurde die Idee zu einem Literaturfestival am Schwarzen Meer geboren. Ziel sollte sein, die Millionenstadt als Kulturmetropole wieder aufzuwerten. Das ist jetzt, finanziert vom Auswärtigen Amt, auch gelungen, wenn auch mit Abstrichen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 04.10.2015
    Der Schriftsteller und Essayist Jurij Andruchowytsch, der auch im Westen Europas als eine der wichtigsten Stimmen der Ukraine gilt, sieht sich als Autor in der Rolle des Impulsgebers für Denkanstöße außerhalb des Politischen. Dabei erliegt er nicht der Illusion, dass er mit seinen Texten die Wirklichkeit verändern kann.
    "Obwohl viele Leute die literarischen Treffen besuchen, vor allem die Jugendlichen. Ich vermute, dass man in der Ukraine an der Persönlichkeit des Schriftstellers mehr interessiert ist als mit dem, was er geschrieben hat. Die direkte Kommunikation bei einer Lesung ist für die ukrainische Öffentlichkeit viel wichtiger als die Texte aus dem Buch."
    Dass Andruchowytsch sich durchaus konkret einmischt, hat er unter anderem mit der sogenannten Maidan-Bibliothek in Kiew bewiesen, in der sich die pro-europäischen Aktivisten während der Proteste zu Lesungen und Gesprächen versammelten. Der russische Autor Michail Shishkin betont, dass im Zuge von Putins Annektionspolitik auch in der idyllischen Kulturmetropole am Schwarzen Meer die Lage für Kreml-Kritiker äußerst ernst zu nehmen sei. In den letzten Monaten wurde die Stadt von mehr als 30 Anschlägen erschüttert, auch die Wohnung des Dichters Boris Chersonskij wurde durch eine Bombe zerstört. Odessa steht dabei bis heute für eine widerständige Zivilgesellschaft. Putins Absicht sei es, diese zu spalten, sagt Michail Shishkin.
    "Wir haben die gleiche Vergangenheit, wir sprechen die gleiche Sprache. Und wenn die Russen in Russland sehen, dass die Russen hier, in Odessa, in der Ukraine es geschafft haben mit den demokratischen Umwälzungen, dann wird das ein Zeichen für die Bevölkerung in Russland sein. Hier gibt es so viele Leute, die von der Maidan-Bewegung erwartet haben, dass jetzt die Ukraine der Welt angehören wird. Und wir als Intellektuelle und als Autoren, wir können dieses Zeichen setzen, das Zeichen der Solidarität. Schauen Sie, wir die Autoren aus der ganzen Welt, wir kommen nach Odessa! Ihr gehört zu uns, zur Weltkultur!"
    Der überfüllte Veranstaltungssaal im prunkvollen Literaturmuseum in Odessa scheint Shishkins These zu belegen. Der ostukrainische Schriftsteller und Sänger Serhij Zhadan, der mit Michail Shishkin über Intellektuelle als Gegenpart zu Populismus und Nationalismus diskutiert, berichtet darüber, dass der Krieg bereits zu einem literarischen Konjunkturthema geworden sei. Gerade für die Menschen in den umkämpften Gebieten sind Lesungen oder Konzerte, in denen die jüngsten Geschehnisse reflektiert werden, von immer größerer Bedeutung. Ulrich Schreiber, der gemeinsam mit dem Schweizer Kulturmanager Hans Ruprecht das Festival in Odessa aus der Taufe hob, sieht gerade die Literatur als einen wichtigen Baustein im aktuellen ukrainischen Entwicklungsprozess.
    "Ich glaube, dass die Ukraine dabei ist, sich eine Zivilgesellschaft zu bauen. Und für eine entwickelte Zivilgesellschaft spielt die Literatur eine sehr sehr große Rolle. Was Historiker leisten, ist der faktische Überblick über das, was geschah. Was die Literaten erzählen, das sind die kleinen Geschichten, aus denen sich eben ein Zusammenleben bildet und die das Zusammenleben von Menschen ausmachen."
    Die in Georgien geborene und in Deutschland aufgewachsene Autorin Nino Haratischwilli las auf dem Literaturfestival aus ihrem Roman "Das achte Leben", in dem sie 100 Jahre einer georgischen Familiengeschichte zwischen Zarenreich und Sowjetunion erzählt, zwischen Kaukasus-Krieg, Putin-Russland und Europa. Die Ukraine sei ebenso wie ihr Heimatland zerrissen zwischen Nostalgikern der sowjetischen Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft, sagt Haratischwili.
    "Die Leseerfahrung ist ein extrem individueller Vorgang. Und je nachdem, was man selber als Gepäck mitbringt als Mensch, in Kombination mit dem Buch, was da drin steht, kann man dem extrem verschiedene Dinge entnehmen. Wir setzen uns mit etwas auseinander und sprechen übereinander, auch Leute mit extrem unterschiedlichen Meinungen, das können sowohl Georgien als auch die Ukraine extrem gut gebrauchen."
    Die Festivalidee in Odessa ist aufgegangen als wichtige symbolische Begegnung zwischen Autoren und dem ukrainischen Publikum. Ein echter inhaltlicher Dialog zwischen Russen, Ukrainern und Westeuropäern scheiterte leider oftmals daran, dass – wohl nicht zuletzt aus politischen Gründen – ein Großteil der Veranstaltungen auf Ukrainisch stattfand. Ein Manko der Premiere, das bei zukünftigen Festivalausgaben hoffentlich behoben wird.