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Little Russia in New York

Die Brighton Beach Avenue ist das Herz des russischen Brooklyn. Dort reiht sich ein russisches Restaurant an das nächste, daneben russische Buchläden. Sascha Dolenov fährt hier Taxi - seit mehr als 20 Jahren.

Von Moritz Behrendt | 13.12.2009
    Sascha Dolenov, ein Mann in seinen besten Jahren, schiebt seinen kräftigen Bauch hinter das Lenkrad des gelben Großraumtaxis. Dolenov, geboren in Leningrad, lebt seit 25 Jahren in New York. Viele Russen hier in Brighton Beach kennen ihn vor allem unter seinem Spitznamen:

    "Karlsson – Die Leute nennen mich Karlsson, weil sie wissen, dass ich früher Schauspieler war. Eine meiner Rollen war Karlsson vom Dach."

    Nachdem er in die USA ausgewandert ist, arbeitete Karlsson zunächst als Kellner im Restaurant Primorski – bekannt für seine georgischen Fleischspezialitäten. Aber seit gut 20 Jahren ist der frühere Schauspieler nun Taxifahrer:

    "Immer diese Baustellen! Jetzt biegen wir links ab, dann sind wir in der Brighton Beach Avenue"

    Die Brighton Beach Avenue ist das Herz des russischen Brooklyn, so etwas wie der Newski Prospekt von Little Russia. Hier reiht sich ein russisches Restaurant an das nächste, daneben russische Buchläden. Über einem Modegeschäft, in dem hauptsächlich Pelzmäntel verkauft werden, wirbt eine Tafel in kyrillischer Schrift für ein Einwanderungsbüro. Eine der ältesten Institutionen hier auf der Brighton Beach Avenue ist der Delikatessenladen "International Food"

    "Pharmacy, Apteka, es gibt Schilder auf Russisch und Englisch. Wo sind wir jetzt? Ach hier ... dort ist das National Restaurant, die Russen nennen es National. Wie dem auch sei. Oh, es gibt sogar einen Parkplatz, das hier ist International Food."

    Die Fahrgasttür von Karlssons Taxi öffnet sich automatisch mit einem leisen Surren. Von dem ohrenbetäubenden Krach der U-Bahn, die im Fünfminutentakt oberhalb der Brighton Beach Avenue entlangdonnert, lassen sich die Passanten nicht aus der Ruhe bringen. Vor allem ältere Frauen und Männer schieben ihre Einkaufswagen und Gehhilfen über den Bürgersteig. Im Schaufenster von International Food hängt ein Plakat der russischen Popgröße Irina Allegrowa.

    Im Geschäft gibt es auf zwei Stockwerken eine große Auswahl an russischen und jüdischen Spezialitäten, die Verkäuferinnen sprechen allesamt russisch, auf Flachbildschirmen läuft Werbung für russische Geschäfte in Brooklyn.

    "Bei uns gibt es viele Sorten Fisch, geräucherten Fisch, es gibt besonderes Brot und Gebäck. Glauben Sie mir, das kann man sonst nirgendwo in den Vereinigten Staaten kaufen, nirgends gibt es so eine Auswahl."

    Sophia Vinukurowa fällt auf – mit ihren strahlend hellen Augen, den rötlich gefärbten Haaren und dem markanten Make-Up. Sie und ihr Mann sind die Besitzer von International Food:

    "Ich bin aus Odessa hergekommen, vor vielen, vielen Jahren. Das ist 35 Jahre her. 1977 haben wir dann dieses Geschäft eröffnet."

    Inzwischen kämen die Leute selbst aus Manhattan, New Jersey und Connecticut, um bei ihr einzukaufen, sagt sie stolz. Zwar sind die Delikatessen nicht gerade billig, dafür ist die Sehnsucht nach der alten Heimat im Preis inbegriffen. Wer von weit her anreise, freue sich über den Klang der russischen Sprache und die Spezialitäten, die so schmecken, als hätte die eigene Großmutter sie zubereitet. Und außerdem, schwärmt Sophia, sei Brighton Beach einfach wunderbar.

    "Brighton Beach ist Brighton Beach, der beste Ort der Welt. Direkt am Wasser, die Luft ist klar, es ist ruhig, die Menschen sind gut drauf. Seien sie willkommen in Brighton Beach."

    Zurück im Taxi geht es in Richtung Strand, vorbei an den schmucklosen Hochhäusern aus rotem Backstein, in denen die meisten Russen und Ukrainer leben. Wie Sophia Vinokurowa kommen die meisten Einwohner in Brighton Beach ursprünglich aus Odessa.

    "Die Leute nennen das hier auch Little Odessa. Die ersten, die nach Brighton Beach gekommen sind, waren aus Odessa. Sie haben nach einem Ort am Ozean, an der Küste gesucht. Odessa liegt schließlich am Schwarzen Meer."

    Auf der Strandpromenade flanieren ältere Damen im Pelzmantel und mit großen Sonnenbrillen. Restaurants mit Seeblick bieten Fischgerichte, Borscht und Wodka an. Abends stolzieren Teenager in hochhackigen Schuhen über den Boulevard, um in die russische Disko zu gehen. Früher sagt Karlsson, seien die Frauen hier noch eleganter gewesen:

    "Die Frauen sind tagsüber in Geschäfte gegangen, um ihre Einkäufe zu erledigen. Dabei waren sie angezogen, als würden sie in die Oper gehen. Nicht als Zuschauerinnen, sondern als ob sie dort singen würden. Sie trugen schuba norka, wie sagt man, Pelzmäntel, Nerze. Aber vor allem ihr Make-Up, ziemlich schrilles Make-Up, mit blauem Lidschatten, Lippenstift und Rouge. Als ob sie gleich einen Auftritt hätten, dabei kaufen sie nur etwas Gemüse."

    Nur wenige Meter vom ebenso legendären wie heruntergekommenen Vergnügungspark Coney Island entfernt, ist Brighton Beach fest in russischer Hand. Fast könnte man vergessen, dass man in New York ist , wenn nicht ab und zu ein paar Schwarze über die Strandpromenade schlendern würden.

    Für Sascha Dolenov, alias Karlsson, geht es jetzt weiter nach Manhattan. Er ist froh, dass er durch seinen Beruf – anders als die meisten anderen Russen – regelmäßig in Kontakt mit Amerikanern ist. Immer wieder werde er von Fahrgästen gefragt, was er denn von Gorbatschow oder Putin halte.

    "Ein Passagier sagte mir mal, 'Du wärst ein guter Schauspieler' – 'Ich bin Schauspieler', habe ich ihm erzählt."

    Der Fahrgast, ein Produzent, buchte ihn für ein Casting. Dort sollte er für einen Werbefilm genüsslich eine Dose Cola trinken. Karlsson hielt sich an die Regieanweisungen. Das Problem aber war sein Aussehen: Sein Haar, damals noch nicht ergraut, war lockig und der Bart strubbelig.

    "Für die Amerikaner sah ich aus wie ein Obdachloser. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe. Das war dann das Ende meiner Schauspielerkarriere."

    Nach nur wenigen Minuten in Karlssons Taxi verändert sich das Straßenbild. Immer häufiger laufen Frauen in Kopftüchern über die Bürgersteige, andere tragen Saris in hellen Pastellfarben. Seit etwa 15 Jahren sind immer mehr Menschen aus Pakistan in die Gegend gezogen.

    Hier endet Little Russia. Die Pakistani sind die neuen Nachbarn. Eine Grenze mit Pakistan, sagt Karlsson, die gebe es in Russland nicht.