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Live dabei im Frankreich des 18. Jahrhunderts

41 handschriftliche Bände umfassen die Memoiren des Herzogs von Croÿ. Als Meister der Beobachtung und Selbstbeobachtung vermittelt der Offizier, Höfling und Privatgelehrte ein höchst lebendiges Bild vom Leben am Hof Ludwig XV. und Ludwig XVI. Einer Zeit, als die Weltmacht Frankreich vom Bett aus regiert wurde.

Von Walter van Rossum | 25.09.2011
    Und jetzt zu den historischen Staumeldungen:

    "Sonntag, den 3. Juli, verlief die Rückfahrt von Versailles sehr gut, bis ich mitten auf der Chaussee in eine solche Kutschenverkeilung geriet, dass ich fürchtete, bis Mitternacht festzustecken. Doch Gottlob kam Ordnung hinein. Die Uferwege waren frei. Bei Chaillot lotste man die Wagen heraus, die sich ab Passy gestaut hatten. Nachdem ich mich mit einem Wachmann abgesprochen hatte, machte dieser sich daran, die drei Gespanne, die den Weg versperrten, wieder in Bewegung zu versetzen. Ich hatte freie Fahrt, und es war noch hell genug, um den Anblick der Menschen an beiden Flussufern wie in einem Amphitheater zu genießen."

    Ziemlich genau 250 Jahre her, dass der Herzog von Croÿ am Sonntagabend auf dem Rückweg von Versailles nach Paris in den Stau geriet. Wer ein wenig die Verkehrslage um Paris kennt, weiß, dass sich genau diese Situation noch heute jeden Sonntag wiederholt – allerdings mit Autos und nicht mit Kutschen. Und so geht es einem zunächst bei der Lektüre dieser fürstlichen Memoiren aus dem 18. Jahrhundert: Unwillkürlich zieht man Vergleiche, entdeckt auf Schritt und Tritt Zustände, die denen unserer Tage verblüffend ähneln – ob es nun um die enorme Staatsverschuldung geht, die Intrigen im kleinen Kreis der Mächtigen, um die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, während die Partys der Superreichen immer glitzernder ausfallen. Beiläufig erfährt man, wie bereits damals Kriegsgründe in Kabinetten erfunden wurden. Manchmal allerdings läuft es genau anders herum: dann ist von Zuständen die Rede, die den gegenwärtigen Verhältnissen in keiner Weise mehr entsprechen. Etwa wenn Robert Francois Damien – ein geistig verwirrter Attentäter, der Ludwig XV. mit dem Messer leicht verletzt hat – mitten in Paris auf der Place de Grève vor den Augen einer lüstern schaudernden Masse stundenlang von Pferden in Stücke zerrissen wird. Warme Fortschrittsgefühle stellen sich auch ein, wenn der König aus der Tiefe seines Schlafgemachs den Emissären seiner Provinzparlamente bescheidet:

    "Vor allem befehle ich absolute Ruhe und entziehe des Weiteren meinen beiden Generalprokuratoren meines Parlaments der Bretagne mein gnädiges Vertrauen und verbanne sie aus der Provinz. So lautet meine Antwort auf ihre Einsprüche. Mein Parlament hätte es nicht an Vertrauen in meine Huld ermangeln lassen dürfen. Niemals darf es vergessen, dass der Geist der Weisheit den Gebrauch meiner Macht lenkt."

    Doch die Erinnerungen des Herzogs von Croÿ bieten sehr viel mehr als kuriose Streifzüge durch das historische Gelände des 18. Jahrhunderts. Dieses Buch nimmt einen auf eine sonderbare Zeitreise mit, auf der ein Leser in der neuro-zivilisatorischen Verfassung des angehenden 21. Jahrhunderts in eine Welt gelangt, in der anders gedacht, gefühlt, gelebt, geliebt und gestorben wird und die ihn doch in eine Art stammesgeschichtliche Erregung versetzt. Irgendwie glaubt man, die entrückten Hallen seines kollektiven Vorlebens zu betreten. Wir wissen heute viel über das 18. Jahrhundert, viel mehr als die Zeitgenossen je von sich gewusst haben, doch selten gerät man in so intime Nähe zu nicht so ganz Vergangenem. Wir sind dabei. Und das verdanken wir einem großartigen Chronisten:

    "Ich kam am 23. Juni 1718 um zehn vor eins im der Früh im Schloss von Condé in der sogenannten Königskammer zur Welt. Selbigen Tags wurde ich in der Schlosskapelle not- und sechs Wochen später in der Kirche ordentlich getauft. (…) Eine wackere Bäuerin aus Petit-Quesnoy hat mich gut umsorgt. (…) In meinem Geburtsjahr erfreute sich mein Vater noch bester Gesundheit, und er reiste wegen unserer Besitzansprüche mit M. Dinchy nach Holland. Sehr angeschlagen kehrte er zurück und kränkelte fortan. (…) Zunehmend schwach, starb er am 1. November 1723 um ein Uhr morgens. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich erinnere mich, ihn nur zweimal gesehen zu haben. (…) als es ans Sterben ging, brachte man mich eine Woche vor seinem Tod ins Schloss Eremitage. "

    19 Jahre später, am 1. Februar 1737 beginnt der Herzog von Croÿ mit seinen Aufzeichnungen. Anfangs war es kaum mehr als ein Abriss der wichtigsten Daten und Ereignisse. Doch bald werden die Notate ausführlicher und als 1741 der Krieg ausbrach, entstehen die eigentlichen Memoiren.

    "Ich verfolge kein anderes Ziel als aufzuschreiben, was mir zustieß und auffiel, um mich an alles und wie es mich mehr oder minder betraf, zu erinnern, sowie meine Entwicklung zu beobachten. "

    Daraus wurden insgesamt 41 handschriftliche Bände, die der Verfasser im Laufe der Zeit von einem Sekretär ins reine abschreiben ließ. Diese Abschriften wurden als Quartbände gebunden und in der Familienbibliothek verwahrt. Der Herzog von Croÿ starb 1784 und er diktierte noch den Bericht seines Sterbens.

    "Emmanuel Duc de Croÿ, Fürst des Heiligen Römischen Reiches, Prince de Solre-le-Chateau und Fürst zu Moers, Graf von Büren etc., Baron de Condé, de Maldeghem, de Beaufort etc….."

    Die Reihe seiner Titel und Ämter zieht sich über etliche Zeilen. Der Herzog von Croÿ entstammt altem nordfranzösischem Adel mit Hauptsitz in der Picardie, also der Gegend um Amiens bis Calais. Was treibt so ein Mann von uraltem blauem Geblüt' Er genießt in seiner Jugend eine umfangreiche Privatausbildung in allen klassischen Fächern, wird in jungen Jahre Offizier und paradiert als Musketier bald vor dem König. Aufgrund seines Adels und mithilfe solider Beziehungen wird er noch als junger Mann bei Hofe eingeführt. Und bis zum Ende seines Lebens wird der Hof von Versailles im Zentrum all seiner Karriere- und Lebensstrategien stehen.

    "Am 21. November fuhr der König in seinem Sechssitzer zur Jagd und war so gnädig, mich bei der Hin- und Rückfahrt zusteigen und auf seinen Knien sitzen zu lassen. Solche Bevorzugung widerfuhr mir erstmalig, wie ich auch erstmalig mit dem König auf Wildscheinjagd ging. Vier wurden erlegt. Abends war er überdies so gnädig mich als Gast für das Souper in seinen Kabinetten zu benennen. Dies geschah zum ersten Mal, mit Ausnahme von 1736, als mir noch als Musketier in Compiègne diese für jedermann sichtbare Ehre zuteil geworden war. Wir speisten im Kreise von fünfzehn Personen."

    Die Rede ist von Ludwig XV. und die letzten zehn Jahre seines Lebens wird der Herzog von Croÿ im Zeichen Ludwig XVI. verbringen. Was immer er unternimmt – es bedarf der Zustimmung oder wenigstens des Wohlwollens des absoluten Königs: Ob es um das Arrangement seiner oder seiner Kinder Ehe geht, um die Anwartschaft auf neue Titel, weltliche Pfründe oder Beförderungen auf der militärischen Karriereleiter. Und der Chronist seiner selbst macht kein Geheimnis daraus:

    "Am 1. Und 2. Januar 1751 hielt ich mich in Versailles auf, wo es recht still zuging und nur eine Neuigkeit kursierte, nämlich die der Verleihung vom Orden des Blauen Bandes an den Duc de Chaulnes und an den Marquis d'Hautefort, meinen Schwager und Botschafter in Wien. Das verstärkte meinen Wunsch nach dieser Auszeichnung, und ich ließ von meinem Bestreben nicht ab. Um ein wenig die Vertrautheit mit dem König zu beleben, sei's auch nur, um in der allgemeinen Wettschätzung zu steigen und von mancherlei profitieren zu können, entschloss ich mich, die nötigen Schritte zu unternehmen. Das drängte sich umso mehr auf. Als in diesem Winter in den Kabinetten keine Theatervorstellungen stattfanden und die Jagdbegleitung bessere Chancen hatte, zu den Soupers zugelassen zu werden. Da es jedoch viel frischen Zulauf bei Hofe gab, wollte ich an den Ausflügen des Königs teilnehmen, um mich von der Menge dieser unbedachten jungen Leute abzusetzen."

    Die Lektüre dieser Memoiren stürzt einen in wilde Grübeleien über verdammt große Fragen: Wie zum Beispiel die Macht funktioniere, was denn eine Gesellschaft sei – und überhaupt: was denn die Welt im Innersten zusammenhalten mag' Vielleicht besteht darin überhaupt der eigentliche Grund für diese Aufzeichnungen, dass nämlich Emmanuel Duc de Croÿ sich dies alles selbst fragt. Und deshalb berichtet er von seinen Erfahrungen mit der Welt und mit sich als begegne er ihnen als eine Art suchender Zeuge. Er gehört ganz und gar in seine Zeit und ihre Umstände und dennoch nimmt er eine Perspektive ein, die alle Erfahrung mit einer Art analytischem Staunen widergibt.

    "Von dort führte er mich zur Marquise de Pompadour, um mich ihr vorzustellen. Ich kannte sie nicht: Von Gestalt und Wesensart erschien sie mir bezaubernd. Sie saß bei ihrer Morgentoilette, und keine Frau hätte hübscher sein können. Darüber hinaus war sie unterhaltsam, sodass der König sie mehr als jede andere liebte, und recht hatte er: Sie war die entzückendste Geliebte. Sie war es in aller Offenheit und zum größten Skandal bei Hofe. Mit der Königin verstand sie sich recht gut (…). Graziös und zurückhaltend saß sie stets am Spieltisch der Königin, und wenn es an der Zeit war, die Königin um Erlaubnis zu bitten, das Spiel zu verlassen, um in die kleinen Kabinette des Königs aufzubrechen, entgegnete die Königin gütig: "Gehen Sie!" (Angesichts der Zustände eine wundervoll philosophische und christliche Antwort!)."

    Es ist überaus faszinierend mitzuerleben, wie die Weltmacht Frankreich von Versailles aus regiert wird. Im Zentrum steht der König, dessen Macht vom Geist der Weisheit gelenkt wird – wie wir gehört haben. Der gesamt Herrschaftsapparat beruht auf persönlichen Beziehungen, wenig transparenten und noch weniger plausiblen Sprachregelungen und einer außerordentlich komplizierten, doch wenig funktionalen Etikette. Man ahnt von hieraus, dass die bürgerlichen Umwälzungen, die am Ende des Jahrhunderts sich Bahn brechen werden, weniger mit liberté, egalité fraternité zu tun haben, nicht einmal mit Demokratie im humanistischen Sinne, sondern vor allem mit differenzierter Organisation, die die wachsende Komplexität der Gesellschaft dezentralisiert und rationalisiert. Ein moderner Organisationssoziologe mag sich krümmen vor Lachen, dass am Hofe von Louis XV. die Mätresse des Königs eine Art Kanzleramt ausübt. Doch bei Lichte besehen liegt es in der Logik der Verhältnisse, dass nämlich eine Person, die über keinerlei eigene Herrschaftsansprüche verfügt und sich allein durch Intimität, Schönheit und Geschick ausweist, die engste Beraterin des Königs wird. Wichtiger als Kenntnisse ist die Bindung. Nicht die Marquise de Pompadour war der Skandal, sondern die Naivität der Macht.

    "Sie konnte nicht gebettet werden. Da der Lungenschleim sie zu ersticken drohte, hatte man sie in einem Sessel gelagert, wo sie, wie in solchen Fällen üblich, keuchte und sich quälte. Man sah sie, ergeben die Letzte Ölung empfangen und ersehnen, dass es zu Ende ging, so sehr litt sie. Dann bat sie ihren Beichtiger um Verzeihung für ihren Todeswunsch. Nachdem sie aus ihrem Sessel noch mit innerer Festigkeit gesprochen hatte, verstarb sie am 15. April 1764, Palmsonntag, um halb acht abends, dreiundvierzig Jahre alt. Sie wurde allgemein betrauert, war sie doch gutherzig und hatte fast allen geholfen, die sich an sie wandten. So endete eine der längsten Herrschaften, die man je erlebt hatte. Begonnen hatte sie, als sie zwanzig Jahre alt war, Anfang 1745, und hatte somit beinahe zwanzig Jahre gewährt! Wahrscheinlich gab es keine Ernennung und keinen Gnadenbeweis, die nicht durch sie zustande gekommen war."

    Uns moderneumschäumten Nachfahren mag es schaudern bei solchen Verschränkungen von Sex und Politik, von Macht und Körper. In Versailles sieht das noch ganz anders aus. Wenn der König aus dem Bett regiert, hat das nichts mit Faulheit noch mit Dekadenz zu tun, sondern mit der Intimität der Machtverhältnisse und der fein organisierten Teilhabe des Hofes daran. Während der tagelangen unfassbar prunkvollen Hochzeit des Dauphin, also des Thronfolgers, mit Marie-Antoinette erleidet das junge Paar die Zeremonien offizieller Intimität.

    "Nach dem Bankett begaben wir uns zur Abendtoilette der Dauphine, die öffentlich vonstatten ging, bis die Königin ihr das Nachthemd reichte. Sodann ließ der König alle Herren zum Dauphin hinübergehen, dem er selbst das Nachthemd reichte. Nachdem beide Umkleidezeremonien absolviert waren, begab man sich abermals ins Schlafgemach der Dauphine. Sie sah mit ihrem Nachthäubchen ganz entzückend aus, wirkte aber leicht verlegen. Jedoch weniger als der Dauphin. Nachdem beide ins Bett geschlüpft waren, wurden die Vorhänge wieder geöffnet, und alle Anwesenden betrachteten beide eine Weile: ein arg peinsames Ritual, das alles Unbehagliche am Gepränge der Könige und Großen vor Augen führt."

    Die Zeit Ludwigs XV. bildet den Höhepunkt höfischer Macht- und Prachtentfaltung. Doch zugleich ist es die Epoche steten Niedergangs. Frankreich verausgabt sich in zahllosen meist unglücklich verlaufenden Kriegen in Europa, die Unsummen verschlingen und verliert außerdem noch zahlreiche Kolonien nicht nur in Nordamerika. Der Staat ist komplett verschuldet und ein erheblicher Teil der Bevölkerung erleidet oft Hunger. Insofern ist der Titel des Buches – "Nie war es schöner zu leben" – irreführend. Auch wenn dieser Satz in einem bestimmten Zusammenhang fällt, gibt er doch keinesfalls den Tenor dieser Memoiren wieder. Genauso wenig handelt es sich um ein "Geheimes Tagebuch", sondern um Memoiren, die vielleicht nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, aber ebenso wenig zur Geheimhaltung. Dieses Buch ist so hinreißend und bemerkenswert, dass es derart platt reißerischer Aufmachung nicht bedurft hätte.

    Vermutlich kann man das nicht Hans Pleschinski, dem Herausgeber und Übersetzer, anlasten. Ihm verdanken wir eine hervorragend lesbare deutsche Übersetzung, bei der sich im Detail bemerkbar macht, dass hier ein Experte für Schriften des 18. Jahrhundert am Werke ist. 1906/07 erschien erstmals eine Auswahl der Memoiren des Duc de Croÿ auf Französisch. Die jetzt von Pleschinski herausgegebene deutsche Ausgabe umfasst etwa ein Viertel des handschriftlichen Originals. Pleschinski schreibt:

    "Verzichtet wurde vornehmlich auf die Wiedergabe von Schilderungen militärischer Operationen, allzu dunkel gewordener Intrigen und von Verwaltungstätigkeiten des Herzogs von Croÿ."

    In kurzen Zwischenkapiteln bzw. Fußnoten stellt Pleschinski den jeweiligen Zusammenhang her und erläutert die persönlichen und historischen Umstände. Trotzdem wüsste man gerne noch mehr über den Chronisten und die Kunst seiner Aufzeichnungen.

    "Zu dieser Zeit machte der Duc d'Havré endlich seinen Vorstoß und eröffnete mir umständlich, dass er seine älteste Tochter mit mir, seine jüngste mit meinem Sohn und seinen Sohn mit meiner Tochter verheiraten wolle. Ich hatte dergleichen erwartet und wünschte letzteres, seine beiden Töchter aber nicht, deren Gesichter und Gestalt mir widerstrebten. Wir wurden hitzig, und ich erklärte mich deutlich. Ich sagte ihm, dass wir gerne über meine Tochter sprechen könnten. Er grollte. Ich veranschlagte ihre Mitgift auf dreißigtausend Livres, was nicht übel war. Wir beschlossen, in acht Monaten noch einmal alles zu erörtern."

    Nein, die Herren werden nicht handelseinig. Emmanuel Duc de Croÿ hat längst weitaus vorteilhaftere Partien für seine Kinder im Visier. Und er selbst' Nachdem seine Frau in jungen Jahren gestorben war, lebt er allein mit seinen Kindern und seiner Mutter. Was ist der Herzog für ein Mensch'

    "Um mich zu beschäftigen, vertiefte ich mich in 'Die Geschichte der Gallier' und die der Franken bis Chlodwig und exzerpierte einige Abschnitte. Ich verfasste überdies eine Denkschrift zur Ausbildung in der Kavallerie und deren Entwicklung. Daneben verbesserte ich auch den Entwurf für den neuen Platz, den ich M. d'Argenson unterbreitete, der ihn gelungen fand und eine Kopie wünschte. Gegen Ende der Fastenzeit ging ich zunehmend in mich und ich verbrachte die letzten drei Tage der Karwoche zurückgezogen bei den Kleinen Jesuiten, wo ich auch das Osterfest feierte. Da ich in der Welt nichts Zuverlässiges fand, besann ich mich stärker auf mein Inneres und entschloss mich, meinem guten Vorhaben vom 1. Januar 1747 zu folgen und das Glück nur im Glauben und in mir selbst zu suchen."

    Offizier, Höfling, Großgrundbesitzer, ein Privatgelehrter, der unter anderem auch an verschiedenen naturwissenschaftlichen Abhandlungen arbeitet, ein Mann, der zeitlebens vehement nach irdischen Sternen greift und der sich doch auch wieder spiritueller Versenkung anheimgibt. Voller Bewunderung erzählt er von seinem Besuch bei den schweigenden Mönchen im Kloster La Trappe. Fast möchte man sagen: einer von uns: ein postmodernes Individuum, ein Mensch unsteter Identitäten.

    "Dann begab ich mich an den Hof, wo ich meiner selbst nicht mehr dermaßen Herr war wie zuvor, doch betrachtete ich alles ruhiger und fast wie eine große Komödie, die mich nicht viel anging."

    Memoiren waren durchaus nach dem Geschmack der Zeit. Man denke nur an den illustren Lebensbericht des Giacomo Casanova, man denke an die penible Lebensbuchhaltung eines Samuel Pepys in London. Und noch zu Lebzeiten des Herzogs wird ein gewisser Jean-Jacques Rousseau das Genre literarisch etablieren und zur Kunstform machen: die Autobiografie als Lebensroman. Doch anders als Rousseau geht es de Croÿ nicht um Introspektion seiner selbst, auch nicht um erklärendes Erzählen. Soweit man weiß, hat er seine Aufzeichnungen später auch nicht mehr konsultiert. Es schien ihm zu genügen: einfach Zeugnis abzulegen. Wie Hans Pleschinski in seinem Nachwort sehr zu Recht schreibt, zeichnen sich diese Memoiren vor allem durch Ehrlichkeit aus. Und diese Ehrlichkeit besteht nicht darin, dass der Autor sich an der sogenannten Objektivität versucht, der Überparteilichkeit – der Lebenslüge des Journalismus -, sondern dass er sich selbst stets als Perspektive und Partei mitbeschreibt. Genau diese komplexe Kunst der Beobachtung und Selbstbeobachtung vermittelt dem Leser den Eindruck, er sei gewissermaßen live dabei. Offensichtlich war der Duc de Croÿ vom Theater der Welt und der menschlichen Komödie einfach ergriffen. 250 Jahre später ist nichts davon verblasst.

    "Nie war es herrlicher zu leben"
    Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ. 1714-1784

    Übersetzt und herausgegeben von Hans Pleschinski
    C. H. Beck Verlag, München 2011
    428 Seiten, 24,95 Euro