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Ljudmila Ulitzkaja
Die letzte Stimme alter russischer Intelligenzija

"Ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat." Das sagt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja. Ihre Texte zeichnen sich durch einen ungewöhnlich aufrichtigen, nachdenklichen, immer ganz persönlichen Zugang zu den aufgeworfenen Fragen aus. So auch in "Die Kehrseite des Himmels".

Von Karla Hielscher | 07.12.2015
    Die russische Schriftstellerin und Kremlkritikerin Ljudmila Ulitzkaja sitzt am 11.03.2013 in Köln (Nordrhein-Westfalen) bei einer Lesung ihres Buches "Das grüne Zelt" im Rahmen des Literaturfestivals Lit.Cologne auf der Bühne.
    Ljudmila Ulitzkaja nimmt kein Blatt vor den Mund. (picture-alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Die russische Originalausgabe dieses Buches trägt die Überschrift "Svjaščennyj musor", das heißt "Heiliger Abfall" oder "Heiliger Kram". Dieser Titel erscheint mir viel passender und stimmiger. Das Buch besteht nämlich aus einem Sammelsurium von Dutzenden ganz unterschiedlicher Texte über die Lebenswelt, das Fühlen und Denken, die Reisen und Erfahrungen von Ljudmila Ulitzkaja, deren welthaltige und unterhaltsame Prosa so viele Leser lieben. Nicht umsonst erzählt sie im ersten Text von einem Karton, in dem sie jahrelang Dinge gesammelt hat, von denen sie sich schwer trennen konnte, und die sie dann doch irgendwann weggeworfen hat:
    "Eine Porzellanteeschale mit Sprung, in der mein Urgroßvater Rädchen und Sprungfedern von Uhren aufbewahrte, Reste eines chinesischen Teeservices, das mein erster Mann versehentlich samt Regal mit der Schulter zu Boden geworfen hatte, Großmutters Glacéhandschuhe (für Bälle!), die so klein waren, dass sie rissen, als eine pummelige Zwölfjährige sie anprobieren wollte.."
    Auch wenn das eine oder andere Textstück entbehrlich erscheint, so fügen sich Ulitzkajas Erinnerungen und Gedankensplitter doch schließlich zu einem beeindruckenden Bild ihrer Persönlichkeit zusammen.
    Immer wieder geht es bei dieser klugen und engagierten Autorin um politische Themen zu Geschichte und Gegenwart: Den Schießplatz von Butowo, auf dem von 1937 – 1953 Tausende Opfer des stalinistischen Terrors erschossen worden waren; die Geiselnahme von Beslan, wo mehr Menschen bei der "Befreiung" durch die regulären Sicherheitskräfte starben als durch die Terroristen; um Putin und die fragwürdige Haltung auch vieler Angehöriger der Intelligenz zu ihm. Sie schreibt über die enorme Bedeutung, die das Lesen und die Literatur in ihrem Leben gespielt haben, etwa Nabokov oder Pasternak, denn – wie sie sich ausdrückt:
    "Das Ich formiert sich aus der Summe der gelesenen Bücher."
    Aber die gelernte Biologin interessiert sich immer wieder auch für die neuesten Forschungsergebnisse der Genetik; sie beschäftigen so wesentliche gesellschaftliche Fragen wie die Veränderung des traditionellen Geschlechterverhältnisses, die Stellung der Frau und die Rolle der Ehe, die Straßenkinder, der Umgang mit Behinderten und vieles mehr.
    Das Besondere in Ulitzkajas Texten
    Was die meisten Texte so lesenswert macht, ist ihr ungewöhnlich aufrichtiger, nachdenklicher, immer ganz persönlicher Zugang zu den aufgeworfenen Problemen, wobei sie oft genug auch ihre eigene Ratlosigkeit eingesteht.
    Der eigentliche Kern des Buches aber sind die Kapitel über ihr eigenes Leben, über das sie erstmalig schreibt: Die Geschichte ihrer Familie samt alten Fotos, ihre Kindheit, ihren Mann, den Maler Andrej Krassulin, in dessen Atelier sie – wie sie sagt – "zur Schriftstellerin geworden" ist, ihre engsten Freundinnen, von denen drei schon gestorben sind. Mit großer Offenheit spricht sie – die sich "Expertin in Sachen Sterben" nennt – auch über ihre eigene Krebsdiagnose und den Tod.
    Eine jüdische Großfamilie als Spiegel der Katastrophen des 20. Jahrhunderts
    Ljudmila Ulitzkaja ist die Letzte einer jüdischen Großfamilie, in deren Schicksalen sich die Katastrophen des 20. Jahrhunderts spiegeln: Der Urgroßvater, der sein Leben lang als einziges Buch die Thora las, dessen Kiewer Uhrmacherwerkstatt beim Pogrom von 1905 verwüstet wurde, Großvater Jakov wie auch Großvater Ulitzkij, die - zusammengezählt - 30 Jahre in Gefängnissen und Lagern der Stalinzeit verbrachten.
    Die Kiewer Freunde der Großeltern – revolutionäre Studenten, Idealisten und Romantiker, die fast alle 1941 von der SS in Babij Jar ermordet wurden. Mütterlicherseits die Familie Ginsburg, die im Krieg nach Baschkirien evakuiert worden war, wo Großmutter Jelena mit einer Ziege und der mitgenommenen Singer-Nähmaschine die Familie durchbrachte. Dort wurde die Autorin geboren. Einigen Vorfahren gelang es, aus ihrem provinziellen Milieu auszubrechen, Schauspieler oder Literaten zu werden, andere kämpften immer nur ums Überleben.
    "Ich bin die Letzte in unserer Familie. Der innerfamiliäre ideologische Konflikt zwischen den kleinbürgerlichen Ameisen, die sich um ihr täglich Brot kümmern, und den Boheme-Libellen mit den höheren Interessen ist vorbei. Ich glaube, die Versöhnung habe ich bewirkt, als eher rationale Vertreterin der Boheme."
    Alte Traditionen der russischen Intelligenzija
    Ljudmila Ulitzkaja ist auch die letzte Jüdin in einer assimilierten Familie.
    Ihre Familiengeschichte und Herkunft machen verständlich, dass die Schriftstellerin zu einer der wichtigen "Kulturträgerinnen" Russlands geworden ist, die auch im politischen Tagesgeschehen ihre Stimme erhebt. Sie verkörpert damit die besten Traditionen der alten russischen Intelligenzija, die heute zu verschwinden drohen: Ein aus festen ethischen Grundhaltungen erwachsendes soziales und politisches Engagement, bei dem sich die Distanz zur herrschenden Macht von selbst versteht.
    Auch gerade deshalb kann Ljudmila Ulitzkaja zu den jüngsten deprimierenden Entwicklungen in ihrer Heimat nicht schweigen:
    "Ich lebe in Russland. Ich bin eine russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung. Mein Land hat gegenwärtig der Kultur, den Werten des Humanismus, der Freiheit der Persönlichkeit und der Idee der Menschenrechte, einer Frucht der gesamten Entwicklung der Zivilisation, den Krieg erklärt. Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und imperialer Großmannssucht. Ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat."
    Ljudmila Ulitzkaja: "Die Kehrseite des Himmels"
    Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
    (Carl Hanser Verlag)