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LKA-Sicherheitsexperte
"Wir brauchen einen 'Hausputz' in der islamischen Theologie"

Was haben wir gelernt seit den ersten Attentaten von Paris am 7.1.2015, also vor genau einem Jahr? Was hat sich in den Köpfen von europäischen Muslimen und Nicht-Muslimen verändert? Haben wir überreagiert – oder waren wir zu vorsichtig? Diese Fragen beantwortet Marwan Abou Taam. Er ist Sicherheitsexperte beim Landeskriminalamt (LKA) in Rheinland-Pfalz.

Marwan Abou Taam im Gespräch mit Andreas Main | 07.01.2016
    Das aktuelle Cover der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" in einer Druckerei ein Jahr nach dem Attentat auf die Redaktion.
    Was haben wir gelernt seit den ersten Attentaten von Paris am 7.1.2015? Das aktuelle Cover der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" (MARTIN BUREAU / AFP)
    Marwan Abou-Taam ist geboren in Beirut im Libanon. Er hat bei Bassam Tibi an der Universität Göttingen über islamistischen Terrorismus promoviert. Seine Schwerpunkte sind islamistischer Extremismus, Salafismus, Dschihadismus und innere Sicherheit.
    Andreas Main: Herr Abou-Taam, vor genau einem Jahr: das erste Attentat von Paris, also der Anschlag auf die Zeitschrift "Charlie Hebdo" und auf den jüdischen Supermarkt, dann im November wieder blutige Anschläge in Paris. Sie haben gesagt, die islamistischen Terroristen wollten uns zu Überreaktionen verleiten. Inwiefern haben wir im vergangenen Jahr überreagiert - oder haben wir womöglich zu vorsichtig reagiert?
    Marwan Abou-Taam: Gut, wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, eine Überreaktion fand tatsächlich nicht statt, denn das, was Islamisten wollen, ist eine Polarisierung hinzubekommen. Das heißt: Sie wollen die Gesellschaft entlang der religiösen Grenzen spalten. Es ist nicht zu beobachten, dass wir jetzt davon sprechen können, dass wir eine Polarisierung – Islam auf der einen Seite, Rest der Gesellschaft auf der anderen Seite – haben. Wohl ist es aber so, dass innerhalb westlicher Gesellschaften natürlich Strömungen entstanden sind, die sehr islamkritisch bis hin zu islamfeindlich sind. Ich würde aber nicht sagen, dass die zurzeit die Oberhand innerhalb der westlichen Gesellschaften haben, insbesondere nicht in Deutschland. Das auf der einen Seite. Auf der anderen Seite geht es hier darum, inwiefern man sicherheitspolitisch über- oder unterreagiert. Das heißt: Die Sicherheitspolitik hat da eine Gratwanderung hinzubekommen, dass man den Islamismus, die terroristischen Aktivitäten und das, was als Gefahr da ist, tatsächlich massiv abzuwehren, auf der anderen Seite die Ursachen zu bekämpfen hat. Und diese Ursachen sind sehr oft gesellschaftspolitisch, religionspolitisch aber auch soziopolitisch. Und da denke ich schon, dass wir gerade in einem Lernprozess uns befinden. Wie wir uns entwickeln werden, das ist noch abzuwarten.
    Main: Sie sind Islamwissenschaftler und Politikwissenschaftler, aber eben auch Sicherheitsexperte beim Landeskriminalamt von Rheinland-Pfalz. Was muss sich in den Köpfen von Nicht-Muslimen ändern, wenn wir die Demokratie, die hier mühsam errungen wurde, wenn wir diese Freiheit und Sicherheit retten, bewahren, weiterentwickeln wollen?
    Abou-Taam: Zumindest müssen wir genau diese Werte leben. Wir können nicht, um diese Werte zu schützen, genau diese Werte abbauen. Freiheit auf der einen Seite, Freiheitsrechte, Grundrechte, das sind die Mechanismen, die letztendlich eine moderne, unsere Gesellschaft prägen. Die Frage ist: Wie können wir uns schützen auf der einen Seite und auf der anderen Seite genau diese Werte beibehalten? Ich bin überzeugt davon, dass Freiheit ja doch ansteckend ist. Ich gehe davon aus, dass Menschen, die in Freiheit leben, durchaus auch lernen, diese Freiheit zu lieben. Auf der anderen Seite geht es darum, den Muslimen, die hier leben, entsprechend Raum zu geben, ihnen klar zu machen: Eine freiheitliche Gesellschaft hat eben Vorteile auch für religiöse Menschen. Und dann in letzter Konsequenz geht es darum, dass alle lernen, Konflikte, die durchaus existieren – das ist in einer jeglichen Gesellschaft so, dass diese Konflikte existieren – dass diese Konflikte zivilisiert ausgetragen werden können.
    Main: Marwan Abou-Taam, was hat sich geändert in muslimischen Köpfen im vergangenen Jahr? Was haben Muslime in Deutschland richtig gemacht seit dieser Anschlagsserie auf europäischem Boden?
    Abou-Taam: Wir haben im Laufe der letzten Jahre im Prinzip halt mehrere Diskurse in den islamischen Gesellschaften in der westlichen Welt, also in der Diasporakonstellation oder im Westen. Wir haben ja zunächst einmal natürlich das, was uns alle bewegt – die Tatsache, dass der radikale Islam, insbesondere der Salafismus unter Jugendlichen, unter manchen Jugendlichen zumindest sich durchzusetzen versucht. Das ist eine sehr negative Entwicklung. Auf der anderen Seite haben wir die Situation, dass der organisierte Islam von einer sehr starken Abwehrhaltung im Laufe der letzten Jahre hin zur Anerkennung von Defiziten tatsächlich gelangt ist. Wir haben zunächst einmal ganz langen einen Reflex innerhalb der islamischen Verbände gehabt, wenn es zu einem Attentat kommt, wenn zu einer entsprechend religiös motivierten Gewalttat kommt, dass die sofort reagiert haben, das hat mit Islam nichts zu tun.
    Main: Die Zeiten sind vorbei.
    Abou-Taam: Wir sind mittendrin in so einer Wende, dass die Verbände tatsächlich das Ganze aufgreifen und sagen, naja, das hat mit dem Islam was zu tun und das hat eben mit einer Fehlinterpretation einer falschen, falsch geleiteten oder wie auch immer Lesart des Islam zu tun. Und die dritte Entwicklung, die wir erleben, ist, dass aus der islamischen Gemeinschaft tatsächlich halt eine dritte Bewegung entsteht, die da argumentiert, wir müssen Muslime mit der liberalen Demokratie versöhnen und argumentieren tatsächlich, dass sie sagen, nicht die Religion sondern die Säkularität ist die Grundlage einer gemeinsamen pluralistischen Gesellschaft. Das ist auch ein genuin islamischer Diskurs komischerweise, aus der islamischen Gruppe kommt diese Argumentation, wir müssen uns an die Säkularität oder an diese westliche Säkularisierung orientieren. Und das sind alles Bewegungen, alles Argumente innerhalb der islamischen Diaspora.
    Main: Gerade auch muslimische Denker, gerade auch aus dem "Muslimischen Forum Deutschland", in dem Sie sich auch engagieren, die sagen: Der Weg für einen durchschnittlichen Moslem von der Orthodoxie zum Salafismus oder womöglich sogar hin zum gewaltbereiten dschihadistischen Weg ist gar nicht so weit. Also, welche Konsequenzen hätte diese Analyse für die islamische Theologie? Was müssen islamische Theologen und Vordenker oder auch einfache Imame liefern, um dieser Gefahr des Abrutschens von Durchschnittsmuslimen etwas entgegen zu setzen?
    Abou-Taam: Es gibt zurzeit auch in der islamischen Welt, also nicht nur hier in der Diaspora, nicht nur in der westlichen Gesellschaft von Muslimen geforderte Reformen, sondern auch innerhalb der islamischen Welt gibt es Stimmen, die immer lauter werden, die da sagen, wir brauchen tatsächlich einen echten Hausputz der islamischen Theologie. Es gibt so viel historische – aber auch halt gar nicht mehr ganz so historisch – sondern aktuelle, theologische Positionen, die die Basis für Radikalität durchaus liefern können. Hier geht es darum, genau an diese Positionen ranzugehen, sie entweder zu kontextualisieren, dass man sagt, ja gut vor 300 Jahren war es so und da konnte man diese Position vielleicht vertreten, heute ist diese Position nicht mehr vertretbar. Und aus meiner Perspektive muss man an die Methoden auch der Theologie rangehen. Insbesondere fällt mir auf, dass hier eine Methode sehr problematisch ist – nämlich dieser Analogieschluss, dass man versucht, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu erklären. Die Gegenwart ist aber nicht erklärbar mit der Vergangenheit.
    Main: Sie haben eben leidenschaftlich für Freiheit plädiert. In dem Gespräch mit dem ZDF-Kollegen Abdul Ahmad Rashid haben Sie vor ein paar Wochen gesagt, Dschihadisten seien von der Freiheit überfordert. Was genau meinen Sie?
    Abou-Taam: Schauen Sie mal, Freiheit ist wichtig für diejenigen, die wissen mit Freiheit umzugehen. Das heißt, wenn es so ist, dass ich über diese Freiheit meine Identität nicht lokalisieren kann, dann kann Freiheit sogar ein Problem werden. Das ist aber kein Plädoyer dafür, Freiheit abzuschaffen, sondern es ist ein Plädoyer dafür, dass wir als Menschen, insbesondere die Jugend in westlichen Gesellschaften und so weiter und so fort, lernen müssen, was überhaupt Freiheit meint. Freiheit ist nicht Anarchie, Freiheit ist eben auch die Freiheit zur Verantwortung. Dass ich lerne, mit meiner Freiheit umzugehen, bedeutet, dass ich lerne, Verantwortung zu tragen für mich und für meine Gesellschaft. Auch das setzt voraus, dass die Gesellschaft sich verantwortlich fühlt für mich.
    Main: Noch mal zurück zum Ausgangspunkt, zum Jahrestag der Anschläge in Paris. Wie kann sich der Einzelne von uns wappnen, wenn es auch bei uns passieren sollte? Wie bereite ich mich seelisch darauf vor? Wie machen Sie das?
    Abou-Taam: Ich glaube, da kann man sich nicht wirklich vorbereiten. Sondern: Eine Sache dürfen Sie nicht vergessen, wir sind Menschen und Menschen reagieren auch an vielen Stellen emotional. Das heißt, dann, wenn der Anschlag passiert ist, gehe ich sehr stark davon aus, dass sehr viele Reaktionen eben emotionale Reaktionen sind, die man nicht vorher planen kann. Das, was allerdings vorweg gemacht werden kann: Wir brauchen eine Vertrauensebene. Menschen untereinander müssen in der Lage sein, sich gegenseitig vertrauen zu können. Wir dürfen uns nicht polarisieren lassen. Denn das Ziel von Terrorismus ist tatsächlich, dass man Gesellschaften polarisieren will; und man will die Überreaktion, die Überreaktion des Staates, aber auch die Überreaktion der Gesellschaft. Dort, wo wir uns spalten lassen als Muslime auf der einen Seite und Nicht-Muslime auf der anderen Seite, dort haben wir als Gesellschaft verloren. Damit es nicht passiert, muss vorweg, also in der Friedenphase, müssen die Kontakte so eng gewebt werden, dass diese Kontakte die Krise überstehen können.