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Lob der freien Liebe

Heute fast vergessen, war der Komponist Gustave Charpentier Ende des 19.Jahrhunderts auf allen Spielplänen zu finden. Die Pariser Nationaloper hat jetzt Charpentiers Oper "Louise" wieder dorthin zurück gebracht. 1900 uraufgeführt, ist "Lousie" eine Art sozialkritischer Roman in Noten, ein Loblied auf die freie Liebe, freie Musik, freie Kunst und das freie Leben.

Von Christoph Schmitz |
    Es ist kaum zu überhören, diese Frau ist verliebt. Ihr Leben ist "voller Blumen", wie sie singt, sie "träumt in einem Märchenhimmel", und ihre Seele ist noch vom "ersten Kuss berauscht". Louise ist verliebt, glücklich und vor allem frei. Das Schlimmste hat sie hinter sich, nämlich die qualvolle Trennung von ihren Eltern. Die wollten sie nicht diesem mittellosen Dichter und Taugenichts Julien überlassen. Weswegen Louise einfach mit ihm durchgebrannt ist. Jetzt leben sie zusammen im Montmartre der Bohemiens. Mit schöner klarer, schlanker Stimme und bronzenem Timbre lässt Mireille Delunsch die Gefühle der jungen Frau erklingen, in den Höhen zart und fest zugleich, und sie spielt den sensiblen Charakter mit schlichten natürlichen Gesten.

    Man sollte nicht meinen, dass Charpentier vom turbulenten Paris der 1890er Jahre erzählt. Denn so beschaulich, überschaubar und langsam ist die Welt der Arbeiter, Künstler, Händler und Huren, die der Komponist in seinem "musikalischen Roman", wie er seine Oper nannte, auf die Bühne bringt. Klanglich zwischen Jules Massenet und Claude Debussy angelegt, ist das Stück das eines Epochenübergangs. Und es hat nichts von jener rauschhaften und existenziellen Wildwasserfahrt, die ja für die Oper allgemein typisch ist. Es gleicht eher einem langen ruhigen Fluss. Und genau dies spielen der Dirigent Sylvain Cambreling und das Orchester der Pariser Nationaloper nach. Sie entschleunigen sogar noch, um auch die geringste Klangnuance auszukosten. Jede Kräuselung an der Oberfläche, jeder Wirbel in der Tiefe ist ihnen ein Blick wert. Langsamkeit in Zeitlupe. Das ist suggestiv und fragil zugleich. Es trägt aber nicht immer über die sehr langen Szenen, weil nicht wie bei Wagner, eine unendliche Melodie wirkt, sondern Augenblicke verwoben werden. Dennoch hat diese Musik natürlich ihre Stromschnellen. Cambreling fährt mit Leidenschaft hindurch.

    Julien verflucht Louise. Sie sei eine Frau ohne Herz und habe ihn belogen. Das geschieht noch vor dem Glück in Montmartre. Julien macht einen wahren Aufstand im Näh-Atelier, wo Louise arbeitet. Da hatte sie sich noch nicht von den Eltern trennen können. Paul Groves singt und spielt den Hitzkopf Julien mit viel Energie. Er übertreibt es aber. Sein Vibrato ist zu unruhig, sein Tenor zu gepresst, er gibt zu viel Breitbeinigkeit und zu viele Kniefälle.

    Seine Bohemien-Welt von Montmartre, sein Lob der freien Liebe, einer freien, anarchistischen und der Lebensfreude huldigenden Gesellschaft hat der Regisseur André Engel aus dem Fin de Siècle herausgenommen und ins Paris der 1930er Jahre verlegt. Dabei hat er sich einem Naturalismus verpflichtet. Doch so wie die musikalische Langsamkeit in Zeitlupe nicht durchgängig trägt, so wenig trägt dieser reine Stil über die langen Passagen etwa im äußert biederen Wohnzimmer von Louises Eltern. Das Ambiente ist so monoton, dass es irgendwann richtig langweilt. Die Verlagerung der Geschichte vom späten 19. ins frühe 20. Jahrhundert macht auch nicht viel Sinn. Weder ist damit irgendwas aktualisiert, noch kann man mit der historischen Distanz die apotheotische Hymne dieser Oper auf ein reales glückliches Paris der Liebe und der Lebensfreude glaubhaft machen. Eine heute sozial zerrissene Stadt lässt sich so nicht ermutigen. Letztlich also eine mutlose Inszenierung, die keinem wehtut, aber deswegen auch keinem hilft. Auch nicht dabei, Louises Vater zu verstehen, der daran zugrunde geht, dass seine Tochter ihn verlässt und hier nur als spießiger Trottel dasteht. Auch wenn er von José Van Dam wohlklingend gesungen wird.