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Lob des Gehens

Die Feiertage rücken näher – eine Zeit, in der die Menschen von der Hektik des Alltags abschalten, sich mit Familie und Freunden treffen, beim Spaziergang die ersten, warmen Frühlingstage genießen. Das Gehen, das Flanieren und Spazieren kann mehr sein kann, als nur eine Art der Fortbewegung.

Von Cajo Kutzbach | 05.04.2012
    Spazieren, Flanieren, Lustwandeln sind nicht überall so verbreitet, wie in Deutschland, wo Goethes Osterspaziergang und Seumes "Spaziergang nach Syrakus" sicherlich zu seiner Popularität mit beitrugen. In einigen anderen Ländern jedoch gilt Spazieren als Zeitverschwendung.

    Geführte Stadtspaziergänge bietet in Stuttgart die Archäologin und Historikerin Silke Amos an, die auch den geschichtlichen Hintergrund kennt:

    "Wir haben natürlich ne ganz lange Tradition des Spazierengehens, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, sprich das Bildungsbürgertum, das sich herausbildet, geht Promenieren am Sonntag, geht in die Natur, genießt auch die Natur, nimmt die Natur wahr und spiegelt das natürlich in vielfältiger Art und Weise auch in den Schriften wieder."

    Zunächst ahmte das Bürgertum beim Spazierengehen den Adel und dessen Promenieren in den Lustgärten nach. Dann war es aber auch ein sich Aneignen der prachtvollen neuen Boulevards, die rund um die Städte dort entstanden, wo die Feuerkraft der Kanonen Stadtmauern und Gräben nutzlos gemacht hatte.

    Naturerlebnis und Stadtbegehung sind noch heute wichtige Motive für Spaziergänger.

    Schon Johann Gottfried Seume beschreibt seine erste große Wanderung 1801 von Grimma in Sachsen nach Syrakus in Ostsizilien, ironisch als "Spaziergang". Mehrere Autoren stellten das Zu-Fuß-Gehen in den Mittelpunkt ihrer Werke. Die Literaturwissenschaftlerin und Privatdozentin Catrin Gersdorf von der Freien Universität Berlin nennt zwei Beispiele:

    "Eine Figur, nämlich den "Flaneur", den Walter Benjamin besprochen hat, konzipiert hat, mit Rückbezug auf Baudelaire. Und eine Figur, die in etwa der gleichen Zeit wirksam war, nämlich
    literarisch-kulturell wirksam war, nämlich die Figur des "Walkers", des Läufers sagt man vielleicht auf Deutsch etwas umständlich, von Henry David Thoreau."

    Seume, Goethe, Thoreau und Baudelaire starben zwischen 1810 und 1867, Walter Benjamin 1940.

    Die Betonung des Laufens in der Literatur ist unter anderem eine Reaktion auf die Industrialisierung und die wachsenden Städte. Einige Autoren spürten, dass beides auch Gefahren birgt, denen sie etwas entgegenzusetzen suchten:

    "Die Idee, die dahintersteht, ist, dass sozusagen die nicht technisierte oder nicht motorisierte Bewegung gleichsam ein Versuch war, der Technisierung, Modernisierung der Gesellschaft etwas entgegenzuhalten und sozusagen das Tempo der Modernisierung zu entschleunigen."

    Spazieren, Flanieren, Zu-Fuß-Gehen als Ausdruck politischen Bewusstseins? Es könnte etwas dran sein. Silke Amos:

    "Warum wir grade eine Renaissance dieses Spaziergehens wieder erleben könnten, könnte ich mir auch vorstellen, liegt vielleicht daran, dass dieser "Autogerechtigkeit", die wir seit der Nachkriegszeit propagieren, etwas überdrüssig geworden sind, weil wir die Nachteile heute sehr stark spüren; die Stadtautobahnen, die Städte teilen, die das Wohnen in diesen Gebieten unmöglich machen, die auch das Laufen in diesen Gebieten unmöglich machen."

    Die Menschen, die sie durch Stuttgart führt, bevorzugen nicht die klassische Stadtführung mit Alten und Neuem Schloss, Marktplatz, Schillerplatz und Stiftskirche, sondern die Hänge des Stuttgarter Talkessels, wobei sie oft ursprünglich für den Weinbau angelegte Treppen, schwäbisch Stäffele, benutzen:

    "Also allen voran laufen natürlich die Stäffele-Touren am Besten. Aber es ist immer außerhalb der Innenstadt. Was mich einfach auch ganz stark verwundert, weil offensichtlich die Mehrzahl davon ausgeht: Die Innenstadt ist so attraktiv nicht, sondern man geht in die Randlagen, wo Natur und natürlich historische Bebauung intakt ist."

    Stuttgarts Innenstadt wurde im Krieg so beschädigt, dass kaum noch originale Bausubstanz vorhanden ist. An den weniger beschädigten Hängen drum herum bieten rund 400 Treppen dem Spaziergänger nicht nur eine rasche Verbindung zwischen Tal und umgebenden Höhen, sondern:

    "Da ist nun wirklich der Fußgänger unter sich. Das sind Gebiete, die sozusagen von der "verkehrsgerechten Gestaltung", die ja bei den meisten Städten im Mittelpunkt der Nachkriegszeit stand, verschont blieben. Da hat man nicht saniert, da hat man nicht modernisiert. Die sind einfach historisch erhalten geblieben. Sicherlich teilweise in sehr schlechtem Zustand, aber sie sind da, so wie sie vor 50, 100 Jahren angelegt worden sind. Und das macht, glaube ich, den Reiz aus, dass man vom Auto weg kommt."

    Nun buchen die wenigsten Spaziergänger eine derartige Führung. Die meisten gehen auf eigene Faust los, laufen durchs Viertel, den Stadtteil, oder nach der Ankunft im Urlaubsort durch die nähere Umgebung.

    Spazieren ist also auch ohne ortskundige Begleiter reizvoll. Catrin Gersdorf weist darauf hin, dass man beim Gehen ganz anderes und viel mehr wahrnimmt:

    "Genau das, denke ich, ist ein wichtiger Aspekt, wenn es zu Fragen der Ökologie kommt, wenn es zu Fragen des Umweltbewusstseins kommt, das "Sand im Getriebe" zu sein, gewissermaßen, also auch fast in 'ner wörtlichen Art und Weise und zu sagen: Ok, was sehen wir, wenn wir uns im ICE bewegen? Und was sehen wir, wenn wir zu Fuß gehen, Flanieren, Spazieren,
    Schlendern? Das, was wir sehen - das wissen wir ja - bestimmt das, was wir wissen. Und was sehen wir, können wir sehen, wenn wir uns zu Fuß bewegen? Das ist sozusagen die Grundidee dahinter. Da folgt der Gedanke, dass das Flanieren aber eben nicht nur die körperliche Selbstbewegung ist, sondern auch die geistige Selbstbewegung."

    Während Zug oder Auto den Benutzer auf einer festen Route bewegen, hat der Spaziergänger weitgehend die Freiheit den Standpunkt aufzusuchen, der ihn interessiert und obendrein dort so lange zu bleiben, bis sein Interesse befriedigt ist. Das hat bereits der chinesische Autor Li Liweng um 1650 in seinem Buch "Lebenskunst" notiert:

    "Ein Mensch, der gewöhnt ist, zu fahren oder zu reiten, kann es lernen, die Freuden eines Spaziergangs zu genießen. Vielleicht trifft er auf einen herrlichen Ausblick oder auf wunderschöne Blumen am Weg. Oder er hält an, um mit einem Bauern, der einen Hut aus Kokospalmengeflecht auf dem Kopf hat, zu reden. Oder er trifft auf einen zurückgezogen lebenden Philosophen, der tief im Gebirge als Holzfäller arbeitet."

    Spazierengehen bedeutet: Etwas erleben. Die Chinesen wussten schon früh, dass, wer freiwillig zu Fuß geht, bereit ist, sich auf Neues einzulassen, etwas zu entdecken. Er nimmt sich Zeit, um nicht nur von A nach B zu kommen, sondern auch den Weg zwischen A und B kennenzulernen, ihn zu genießen. Er hat sich dafür entschieden. Catrin Gersdorf:

    "Ich würd' nicht unbedingt sagen, dass das, was ich aus dem ICE sehe, weniger wichtig ist. Ich sehe etwas Anderes. Also, es ist ne Perspektivfrage. Und die Frage, die dahinter steckt, wenn ich mich bewusst für eine Art der Bewegung entscheide: Was möchte ich sehen? Was möchte ich wissen? Worauf kommt es mir an?"

    Genau dort hin lenkt der Spaziergänger seine Schritte. Aufmerksames Spazierengehen ist eine Kunst, die man üben und die man sogar zum Beruf machen kann, wie Bertram Weisshaar. Er ist Spaziergangsforscher oder Promenadologe. Spazierend untersucht er Städte und Landschaften mit dem aufgeschlossenen Blick eines Fremden, der noch kein Bild von dem im Kopf hat, was er sehen wird:

    "Es geht um die Frage: Wie nehmen wir Stadt wahr, wie nehmen wir Landschaft wahr? Wie kommen wir zu dem Bild der Landschaft, das wir so gemeinhin haben? Wenn wir beispielsweise ans Meer fahren, an die Nordsee oder in die Alpen, dann wissen wir, wie es da aussieht, schon bevor wir dort sind. Wir haben das in der Schule gelernt oder irgendwo gelesen. Und mit diesem "Vor-Bild" gewissermaßen fahren wir dann da hin, suchen diese Bilder. Und wenn wir sie gefunden haben, sind wir froh und wenn wir sie nicht finden, dann sind wir enttäuscht, weil wir sagen: Das stimmt ja alles gar nicht!"

    Was man sieht, hängt eben auch davon ab, was man zu sehen erwartet und was man zu sehen bereit ist. Dieser Blick oder die Erwartung, was man sehen wird, unterliegt Gewohnheiten und Moden. Einst galten die Alpen als Wüstenei, die man besser mied. Erst Maler, Poeten, Künstler und Bergsteiger weckten die Vorstellung, dass die Alpen eine reizvolle Landschaft seien. Ähnlich ist es in Städten. Bertram Weisshaar hat als gelernter Fotograf und Landschaftsplaner geübt sich und anderen, solche Sichtweisen bewusst zu machen:

    "Gebäude, die 100 oder 150 Jahre alt sind, da schauen eigentlich die Touristen oder viele Leute gar nicht wirklich hin, sondern sie erkennen einfach nur: Dieses Gebäude ist aus der sogenannten Gründerzeit. Damit gilt es als schön. Und ich schau's an und sag: ah, wie schön! - Ohne eine eigene Meinung wirklich zu finden, warum ich's denn schön finde."

    Dazu müsste man sich Zeit nehmen, drum herumgehen und das Gebäude gründlich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Das geht nur zu Fuß. Viele Verkehrsmittel erlauben dagegen nur einen Blick aus dem Fenster. Das muss nicht schlecht sein. Aber das Fenster verändert die Wahrnehmung. Catrin Gersdorf:

    "Was aber wirklich wichtig ist, wenn ich jetzt durch dieses Fenster schaue und ich sehe draußen die Pflanzen, was ich nicht tun kann, ist, durch das Fenster diese Pflanzen anzufassen, diese Pflanzen zu riechen, zu merken, ob sie kratzen oder nicht. Und dieser Aspekt der nicht motorisierten Bewegung ist - glaube ich - ein ganz wichtiger Aspekt. Dass sozusagen die Sinnlichkeit, die über den Sinn des Sehens hinausgeht, ein ganz wichtiger Aspekt der Art und Weise ist, wie wir Welt erkennen und kennen und auch im wörtlichen Sinne begreifen. An Blumen riechen, Tieren zuschauen, Vögeln oder Glockenspiel zuhören, die Hände in einen Brunnen tauchen oder Steine, Holz, und Putz betasten ist im Zug unmöglich. Nase und Ohr bekommen weniger mit, der Tastsinn kann nichts begreifen und das Haar wird nicht vom Wind verstrubbelt."

    Das Fenster gibt zudem in vielen Fällen die Blickrichtung und den Bildausschnitt vor. Bertram Weisshaar lief vor Jahren mit einer Autofensterscheibe vor sich durch Kassel, um zu erkennen: "Was sieht ein Autofahrer?" Denn das hat erhebliche Folgen:

    "Die Leute, die Entscheidungen treffen im Stadtparlament, in den Planungshierarchien, dass die wirklichen Entscheidungsträger erfolgreiche Menschen sind, die natürlich viel beschäftigt sind und die alle Auto fahren und das schon lange tun und die Stadt aus der Benutzung als Autofahrer kennen. Und das sind deutlich weniger Alleinerziehende, deutlich weniger behinderte Menschen oder gebrechliche Menschen, die in diese Stadtentwicklungs- und Entscheidungsprozesse integriert sind. Und deswegen kommt deren Blick auf die Stadt und deren Entscheidung eben nicht so sehr in diese Prozesse mit ein. Und da ist natürlich ein Missverhältnis."

    Wären Stadtplaner und Gemeinderäte häufiger zu Fuß unterwegs, sähe manches anders aus. Einige holen den Spaziergangsforscher, wenn sie selbst nicht mehr weiter wissen. So hat er das fast vergessene Flüsschen Parthe in Leipzig für die Bürger wieder entdeckt, das, aus Röhren und Tunnels befreit, nun wieder sichtbar durch die Stadt fließt.

    Bertram Weisshaar führte Besucher vier Jahre lang durch die scheinbare Wüste eines ehemaligen Braunkohle-Tagebaues und zeigte dort dessen Schönheiten, etwa die karge Landschaft mit den zum Teil seltenen Pflanzen. Heute ist das alles zwar in einem See verschwunden, aber Weisshaars Fotos davon zieren noch Schulbücher. Er sieht daher auch in anderen Brachen neue Chancen:

    "Ich leb ja nun in Leipzig. Und in vielen Städten Ostdeutschlands oder auch im Ruhrgebiet oder einfach in Städten, die seit einiger Zeit eher schrumpfen tendenziell, als wachsen, findet man eben auch Zonen. Und da ist es dann wieder spannend, weil da kann man plötzlich wieder neue Bilder über diese Fläche projizieren."


    Dieses eine Gegend mit "neuen Augen" sehen - diese Formulierung zeigt
    schon, dass es sich um einen Bewusstseinswandel handelt - ist auch das Ziel vieler Teilnehmer von Stadtführungen. Man sucht ein neues Verhältnis zum nur scheinbar Vertrauten:

    "Häufige Kommentare sind: Wir haben überall schon Stadtführungen gemacht von New York über Mailand bis Siena, aber hier noch nicht. - Warum eigentlich haben wir 20 Jahre gebraucht, um hier endlich anzukommen, hier etwas wissen zu wollen über die Region?"

    Auf Silke Amos Spaziergängen geht es den Gästen vor allem um Einblicke in die städtische Geschichte, also die Wurzeln von Ort und Gesellschaft:

    "Zum Beispiel der Bismarckturm ist bei uns hier in Stuttgart sozusagen die Wohnlage der "High Society". Da möchte man natürlich gern so etwas voyeuristische Hintergrundinformationen haben. Wir haben aber auch andere Bereiche, wo Bauhistorisches einfach spannend ist zu erfahren: Woran erkenn ich jetzt bei diesem Haus den Jugendstil? Was sind die eindeutigen Merkmale? Was war vorm Jugendstil? Was kommt danach? Die historischen Bezüge, wodurch wird er ausgelöst, wodurch endet er? Was noch sehr gut ankommt, sind einfach diese verschiedenen Villen der Großindustriellen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dann einfach zu sagen, wodurch ist man reich geworden, wie geht die Lebensgeschichte weiter? So einzelne kleine Biografien heraus zu arbeiten, finden die Leute spannend."

    Diesen Spaziergängern geht es nicht darum, zu sehen und gesehen zu werden, oder den neuen Hut vorzuführen, sondern darum, sich selbst und ihre Heimat besser oder gar neu kennenzulernen. Catrin Gersdorf:

    "Was sehe ich, das ich vorher nicht gesehen habe, wenn ich mich anders bewege? Und was tut das sozusagen für mein Weltverständnis, für mein Selbstverständnis auch? Für das Verständnis der Kultur, in der ich lebe? Für das Verständnis der Art und Weise, wie ich mit dem, was um mich herum ist, umgehe? Was passiert mit mir, wenn ich Anderes sehe, als ich vorher gesehen habe? Also, ich bin Teil dessen und bin mir auch bewusst, dass ich dazu gehöre. Aber ich gehe auch einen Schritt zurück oder ich gehe einen Schritt langsamer, um das zu sehen, was Andere nicht sehen. Und dann auch eine Kritik zu formulieren, dessen was ich sehe."

    Dazu braucht man Kenntnisse. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Spaziergänger älter sind. Neugierig, aber auch nachdenklich und auf das eigene Wohl, auf die Entschleunigung, die eigenen Ansichten bedacht und auf der Suche nach den eigenen Wurzeln. Eine Gegenbewegung zur Globalisierung und zur Hektik des Alltags. Silke Amos:

    "Ich glaube, was wir grade erleben, ist so ein Rückzug in die eigene Heimat zurück, so wie wir ja den Rückzug auch ins eigene Heim seit vielen Jahren wieder beobachten. Vielleicht ein Neo-Biedermeier, eine Neo-Romantik, die gerade einsetzt, die uns hier tatsächlich vor Ort wieder stärker verankert. Das lässt sich natürlich historisch auch sehr schön belegen, dass unsere Eltern natürlich den Zug nach draußen hatten. Raus! So weit wie möglich! Und möglichst im Ausland noch nicht mal als Deutsche erkannt zu werden, was natürlich historisch naheliegend ist mit der Geschichte bis 45. Dass wir davon jetzt uns wieder befreien und sozusagen zu einem gewissen nationalen Bewusstsein wieder finden."

    Spaziergehen hilft dabei. Wie sagte doch Seume schon vor gut 200 Jahren?

    "Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge!"