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Löschwahn bei Wikipedia

Bei Wikipedia springen mehr und mehr Mitarbeiter ab, weil Administratoren ihre Texte gelöscht haben. Dabei kann dieser Frust der Abgelehnten der Online-Enzyklopädie ernsthaft schaden. Pavel Richter, Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, will sich dafür starkmachen, dass neue Autoren besser mit Wikipedia vertraut gemacht werden.

Pavel Richter im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 28.11.2009
    Burkhard Müller-Ullrich: Wikipedia ist ja eigentlich ein Wunder. Abertausende von Menschen setzen sich freiwillig und unbezahlt hin, um die größte Online-Enzyklopädie der Welt ständig größer und besser zu machen. Moment mal! Größer oder besser? Das ist inzwischen die Frage, und in der wird hart gerungen. Massenhaft springen Mitarbeiter ab, weil ihre Texte von sogenannten Administratoren oder kurz Admins gelöscht werden. Über diese Löscherei und den Ärger, den sie hervorruft, wollen wir jetzt reden, und zwar mit Pavel Richter, dem neuen Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland – das ist – Achtung! – nicht Wikipedia, sondern der deutsche Unterstützungsverein, der – noch mal Achtung! – keinen Einfluss auf die Inhalte von Wikipedia hat. Herr Richter, zunächst mal eine ganz praktische Frage: Wie wird man Admin und wie viele gibt es?

    Pavel Richter: In der deutschsprachigen Wikipedia gibt es jetzt rund 300 Administratoren. Das wird man, indem man gewählt wird. Man kandidiert oder wird vorgeschlagen, erklärt ein bisschen, warum man das werden möchte, und das können alle Benutzer der Wikipedia, die eine minimale Voraussetzung erfüllt haben – nämlich mindestens 200 Bearbeitungen in Artikeln hinter sich gebracht haben. Diese sind dann wahlberechtigt oder stimmberechtigt und können einem Administrator seine Stimme geben. Und dann wird er im Zweifelsfalle gewählt werden. Administratoren selber sind ganz normale Benutzer der Wikipedia, zumeist sehr erfahrene Autoren, die einige Sonderrechte haben, das heißt, die mit der Software Dinge tun können, die Sie und ich, wenn wir keine Administratoren sind, nicht tun können. Zum Beispiel einen Artikel löschen, das passiert in den allermeisten Fällen, weil völliger Unsinn drinsteht oder weil es sich um Urheberrechtsverletzungen oder Persönlichkeitsrechtsverletzungen handelt. Die Administratoren können darüber hinaus auch Benutzer sperren. Das heißt, wenn jemand partout nicht sich an die Regeln der Wikipedia halten will und zum Beispiel immer wieder Werbung in Artikel einstellt, was ja relativ häufig passiert, so haben Administratoren die Möglichkeit, diesen Zugang zur Wikipedia stillzulegen, damit nicht weitere Werbung eingebunden wird.

    Müller-Ullrich: Und jetzt nähern wir uns langsam dem eigentlichen kritischen Punkt, ich sag es mal ein bisschen pauschal und philosophisch: den Widerstreit zwischen Qualität und Demokratie – Wikipedia ist ja als ein offenes, demokratisches Projekt angelegt. Aber schon Schiller sagte: Mehrheit, was ist Mehrheit, Verstand ist stets nur bei wenigen gewesen. Dass es also im Zweifelsfall auch darauf ankommt, noch etwas anderes als Demokratie zu haben, wenn man eben die Qualität bieten will. Und da tobt ein gewisser Streit unter den Admins selbst.

    Richter: Man muss vielleicht sagen, dieser Streit oder diese Diskussion findet nicht unter den Administratoren statt, sondern die findet in der Wikipedia und unter den Nutzern der Wikipedia statt. Die Administratoren selber sind eine relativ kleine Gruppe und auch alles andere als homogen in dieser Frage, da gibt es ja unterschiedliche Sichtweisen. Ich möchte aber vielleicht ganz kurz ein Missverständnis ausräumen. Die Wikipedia ist keine Demokratie, die Wikipedia ist ein offenes und partizipatives Projekt, aber sie ist keine Demokratie. Das drückt sich zum Beispiel darin aus, dass es, wenn es um die Frage geht, ob ein Artikel gelöscht werden soll – und darauf sprechen Sie ja an –, wieder ein Diktator entscheidet, also nicht ein Administrator, aber auch keine Demokratie, das heißt, es wird nicht einfach abgestimmt und 60 Leute sagen, er soll gelöscht werden, und 40 sagen, er soll nicht gelöscht werden, und also wird er gelöscht, sondern der Anspruch der Wikipedia ist, dass die Qualität des Argumentes zählt.

    Müller-Ullrich: Und wer entscheidet letztlich dann, denn die Diskussion, Sie sagen es ja, geht hin und her, sie geht in der Community hin und her, sie geht auch unter den Administratoren hin und her. Es gibt da die Inklusionisten, also diejenigen, die eher dafür sind, doch alles drinzulassen, damit man möglichst viel hat, und die Exklusionisten, die sagen, nein, wir wollen es ganz strikt und sauber und rein halten. Wer entscheidet dann letztlich? Also dann ist es doch so ein bisschen nach dem berühmten Spruch des alten Zeitungszaren Robert Maxwell: Eine gute Zeitung muss eine Diktatur sein, alles andere ist Zeitverschwendung.

    Richter: Eine Diktatur eben nicht, aber ja, am Ende des Tages entscheidet da jemand, und dieser Jemand ist tatsächlich ein Administrator, denn nur die Administratoren verfügen über diese Möglichkeit, einen Artikel auch zu löschen. Nun darf man aber sich das nicht so vorstellen, dass da jemand sitzt und nach Gutdünken auf den Löschknopf drückt und dann ist der Artikel für alle Zeiten weg. Dieser gesamte Prozess ist tatsächlich sehr offen und sehr nachvollziehbar, und ein Missbrauch wird sehr schnell entdeckt und dann auch geahndet. Das heißt, es gibt nach der Entscheidung eines Administrators eine Revisionsinstanz, wenn Sie so möchten. Jeder kann dann sagen, oh, ich bin mit dieser Entscheidung aber überhaupt nicht einverstanden, ich finde, dieser Artikel hätte nicht gelöscht werden dürfen. Und dann passiert tatsächlich genau das Gleiche noch mal, was ich eben geschildert habe, und am Ende entscheidet natürlich ein anderer Administrator als der erste diesen Fall erneut. Und da passiert es immer wieder, dass die Entscheidungen umgekehrt werden. Also das System lebt tatsächlich von der Offenheit und der Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Hier kann nichts verdeckt oder im Geheimen passieren, sondern alles ist öffentlich, und die Öffentlichkeit ist sicherlich die wichtigste Kontrollinstanz eines solchen Systems.

    Müller-Ullrich: Na ja, es lebt davon, aber es leidet auch daran, denn Sie verzeichnen ja einen gewissen Schwund von Frustrierten, die einfach sagen: So, jetzt wurde wieder gegen mich entschieden, ich habe einfach keinen Bock mehr.

    Richter: Ja, und das ist tatsächlich eine sehr große Herausforderung und das ist ein wirkliches Problem, denn die Wikipedia lebt von der ehrenamtlichen Mitarbeit. Sie können ja niemanden zwingen, in der Wikipedia zu schreiben, bezahlt wird dafür auch niemand. Das heißt, das gesamte Projekt lebt davon, dass ehrenamtliche Menschen ihre Zeit, ihren Intellekt einbringen, um dieses Wissen der Menschheit zur Verfügung zu stellen. Das heißt, die müssen sehr vorsichtig sein, dass wir immer ein offenes Projekt sind. Die Wikipedia muss neue Autoren willkommen heißen, und das ist heutzutage sehr viel schwieriger als noch 2005 oder 2006. Die Wikipedia 2009 ist so gesehen ein anderes Projekt – zum einen gibt es weniger weiße Flecken in der Landkarte der Enzyklopädie. 2005 konnten Sie noch einen Artikel über einen halben Kontinent anlegen, weil es ihn einfach noch nicht gab. Die Wikipedia ist jetzt ein acht Jahre altes Projekt, und in diesen acht Jahren gibt es eine Menge geschriebener und ungeschriebener Regeln. Und wir müssen sicherlich sehr vorsichtig sein, dass diese Regeln nicht abschreckend wirken. Wir müssen neue Autoren willkommen heißen und sie ein bisschen an die Hand nehmen und an dieses auch soziale System Wikipedia heranführen, an die Kultur der Wikipedia, sicherlich auch zum Beispiel an die Sprache. Die Wikipedia hat einen zum Teil eigenen Code entwickelt, der für jemanden, der neu hinzukommt, nicht immer leicht zu verstehen ist. Und hier besteht auch auf jeden Fall Bedarf, innerhalb des Projektes an sich zu arbeiten und sich deutlich zu verbessern.

    Müller-Ullrich: Pavel Richter, Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland. Vielen Dank für diese Auskünfte und allen Wikipedianern ein großes Danke für das bis jetzt Geleistete – natürlich auch dafür, dass ich bis jetzt noch nicht gelöscht wurde!