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Lösungen für die Zukunft

Kleber, Lacke und viele andere Alltagsprodukte enthalten organische Lösungsmittel. Diese Chemikalien riechen nicht unangenehm, sondern sind vor allem gesundheitsschädlich. Handwerksbetriebe und Industrieunternehmen haben beim Arbeiten mit diesen Lösungsmitteln besondere Vorschriften beachten: Sie müssen die Dämpfe absaugen oder völlig geschlossene Anlagen verwenden. Weltweit werden jedes Jahr deutlich mehr als 15 Millionen Tonnen Lösungsmittel eingesetzt. Der Löwenanteil bleibt dort, wo die Lösungsmittel erzeugt werden - in der Chemieindustrie. Und daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert. Erst in der jüngsten Zeit gibt es Vorstellungen darüber, wie auch die Chemieunternehmen mit weniger Lösungsmitteln auskommen könnten. Dort sind die Manager bisher jedoch eher zurückhaltend, was den Einsatz "grüner Lösungsmittel" angeht. Dabei gibt es durchaus attraktive und alternative Verfahren, die organischen Lösungsmittel zu ersetzen.

Von Hellmuth Nordwig | 07.11.2004
    Da sehen Sie schon enorme Verschleißspuren, extreme Spuren von der Lederhose, und hier Spuren vom Waschen, nur vom normalen Waschen. Was noch ist, das sieht man hier vorne an der Front: da gehen die Fliegen nicht mehr ab. Die Säure von diesen Fliegen hat sich also in diesen Lack reingeätzt, das hat es früher überhaupt nicht gegeben, und diese Lacke sind also dermaßen empfindlich. ...

    Ist jetzt zwei Jahre alt geworden und sieht aus, als wenn sie schon zehn Jahre alt wäre. [...] Da kann ich nicht mit leben: Ein Motorrad, das 25.000 Euro kostet und wo nach drei Monaten der Lack so aussieht wie jetzt, da kann ich nicht mit leben.

    Klaus Kross ist sauer. Seit Jahrzehnten ist er bekennender Fan einer exklusiven Maschine eines japanischen Herstellers. Und nun die Enttäuschung mit dem Modell aus dem Jahr 2002. Zu diesem Zeitpunkt hat die Firma das Lackierverfahren umgestellt - eigentlich ganz im Trend der Zeit, meint Thomas Brock, Professor an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld.

    Wasserlacke statt Lösemittellacke. Das war der nahe liegende erste Schritt, weil die sehr ähnlich zu verspritzen sind. Da gibt's keine großen Verfahrensumstellungen. Und da fing man an mit den Basislacken, weil die über 80 Prozent flüchtige Bestandteile enthalten, also statt Lösemittel da Wasser zu verwenden bringt unheimlich viel an Lösemittelreduzierung.

    Für viele Zwecke sind Lösungsmittel aber unentbehrlich. Zum Beispiel für die meisten Farben, für Klebstoffe oder auch in der chemischen Reinigung. Handwerksbetriebe und Industrieunternehmen haben beim Arbeiten mit Lösungsmittel besondere Vorschriften beachten: Sie müssen die Dämpfe absaugen oder völlig geschlossene Anlagen verwenden. Das geschieht der Gesundheit der Mitarbeiter zu Liebe, denn Lösungsmittel sind Nervengifte. Außerdem sind sie brennbar. Deshalb denken immer mehr Firmen über Alternativen nach. Zum Beispiel nutzen die Autohersteller die erwähnten Wasserlacke: Vier von fünf Neuwagen sind inzwischen damit beschichtet. Darüber kommt eine feine Schicht Klarlack - und der wird natürlich wieder mit einem herkömmlichen, einem so genannten organischen Lösungsmittel verdünnt. Sonst würde der erste Regenguss die Farbe wieder vom Auto spülen.

    Probleme, wie sie Klaus Kross beklagt, gibt es nur dann, wenn die schützende Klarlackschicht zu dünn ist. Bei den Nachfolgemodellen des japanischen Herstellers ist dieses Ärgernis übrigens behoben. Und schon arbeiten die Hersteller an Lackiertechniken, die ganz ohne Lösungsmittel auskommen. Da werden feinste Pulverteilchen zu einem Lack zusammengeschmolzen oder Kunststoffbausteine durch Licht vernetzt. Anders wäre es für die Autoindustrie auch schwierig, ihr ehrgeiziges Ziel zu erreichen: Sie möchte den Lösungsmittelverbrauch in den nächsten Jahren auf die Hälfte des heutigen Werts verringern. Bereits jetzt ist der Fortschritt enorm: Vor zwanzig Jahren haben die Hersteller pro Pkw noch etwa eineinhalb Kilogramm Lösungsmittel benötigt. Heute liegt dieser Wert nur noch bei rund vierhundert Gramm. Im vergangenen Jahr hat die Autoindustrie in Deutschland gut 9 Millionen Pkw hergestellt - und dabei 3600 Tonnen Lösungsmittel verbraucht.

    Weltweit werden jedes Jahr deutlich mehr Lösungsmittel eingesetzt: 15 Millionen Tonnen. Nur ein Bruchteil wandert also in Lacke oder Klebstoffe. Der Löwenanteil bleibt dort, wo Lösungsmittel erzeugt werden, nämlich in der Chemieindustrie. Und daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert. Erst in der jüngsten Zeit gibt es Vorstellungen darüber, wie auch die Chemieunternehmen mit weniger Lösungsmitteln auskommen könnten, wie sie also einer "Grünen Chemie" näherkommen könnten. Führend in der Entwicklung völlig neuer Verfahren sind Forscher in den USA und in Großbritannien.

    Ich bin Martyn Poliakoff, Professor für Chemie und wir sind in Nottingham in Mittelengland: "Clean Technology Group", das ist eine Gruppe für umweltfreundliche Chemie. Das heißt auf englisch "Green Chemistry".

    Martyn Poliakoff hat vor 30 Jahren deutsch gelernt - bei einem Gastaufenthalt an der TU München. Leider sind seine Sprachkenntnisse nicht mehr so gut wie damals, und deshalb erklärt er sein Forschungsgebiet lieber auf englisch: die überkritischen Fluide. Das ist ein Materiezustand zwischen einer Flüssigkeit und einem Gas.

    Die überkritischen Fluide sind schon sehr lange bekannt. Anfang des 19. Jahrhunderts haben sich Forscher gefragt, was passieren würde, wenn man zum Beispiel eine Flasche Wasser nimmt und sie erhitzt, ohne den Verschluss zu öffnen. Das ist natürlich ein sehr gefährliches Experiment. Der erste, der diesen Versuch unternommen - und überlebt - hat, war ein Franzose namens Baron Cagniard de la Tour. Er hat eine Flüssigkeit - ich glaube, es war Alkohol - in einem Gewehrlauf erhitzt.

    Dabei wird der Alkohol in seinen überkritischen Zustand gebracht. Das hat Martyn Poliakoff in einer kleinen Versuchsanordnung in seinem Büro nachgebaut - völlig ungefährlich, versichert er. Sein Mitarbeiter Dr. Peter Portius (Ausspr. Porzius) führt das Experiment vor: Es findet nicht gerade in einem Gewehrlauf statt, aber doch in einer hermetisch abgeschlossenen Anordnung.

    Das ist ein Kupferblock, der ausgerüstet ist mit einem Fenster. Vor dem Fenster sitzt eine kleine Kamera, die ein Bild auf einen Monitor leitet, das wir jetzt hier sehen. Das Bild zeigt zwei Phasen: eine schwere Phase und eine leichte Phase. Die untere Phase ist eine Flüssigkeit, die obere Phase ist ein Gas. 3:48 An der Apparatur befindet sich eine Temperatureinheit, mit der man die Temperatur in der Zelle verändern kann. Wenn ich den Hebel jetzt umlege auf Heizen, fängt die Apparatur an zu heizen, und man kann sehen, wie die Hitze in die Flüssigkeit übergeht: sieht aus, als wenn es kochen würde. Das Volumen der Phase vergrößert sich, und der Unterschied zwischen der Gasphase und der flüssigen Phase wird kleiner. Man sieht den Meniskus zwischen den beiden Phasen verschwinden. Der kritische Punkt ist bei 47 Grad Celsius, jetzt haben wir 53 Grad Celsius erreicht, und man kann jetzt keinen Unterschied mehr erkennen zwischen flüssiger und Gasphase. 5:33 Das Interessante dabei ist dann, dass diese überkritische Flüssigkeit eigentlich ein Hybrid, eine Mischung ist zwischen einem Gas und einer Flüssigkeit und die Dichte befindet sich ungefähr dazwischen.

    Die überkritischen Fluide vereinen dabei die Vorteile von beiden Zuständen: Sie breiten sich so leicht aus wie ein Gas, und sie lösen andere Stoffe so gut wie eine Flüssigkeit. Welche dieser beiden Eigenschaften überwiegt, das lässt sich je nach Bedarf steuern. Man braucht dazu nur die Temperatur zu verändern: Je wärmer das überkritische Fluid ist, um so mehr ähnelt es einem Gas. Wird es abgekühlt, nähern sich seine Eigenschaften denen einer Flüssigkeit. Für die technische Anwendung ist besonders interessant, dass sich Substanzen um so besser lösen, je niedriger die Temperatur ist - denn das unterscheidet die überkritischen Fluide von anderen Lösungsmitteln.

    Das Lösevermögen kann also eingestellt werden, indem man die Temperatur verändert. In überkritischem Wasser ist das besonders ausgeprägt: Wenn man da die Temperatur und damit den Druck variiert, kommt man von einem Lösevermögen von Methanol bis hin zu dem von Hexan. Methanol ist ein ausgezeichnetes Lösungsmittel, fast so gut wie Wasser, in dem man sehr viele Stoffe auflösen kann, zum Beispiel Salze. In Hexan lösen sich Salze überhaupt nicht, dafür aber organische Verbindungen viel besser als in Methanol.

    Viele Stoffe lassen sich in den Zustand eines überkritischen Fluids bringen. Für eine praktische Anwendung kommen jedoch nur wenige in Frage, vor allem Wasser und Kohlendioxid. Andere Substanzen erreichen den überkritischen Zustand erst bei sehr hoher Temperatur oder extremem Druck. Überkritisches Kohlendioxid entsteht dagegen schon bei 31 Grad und "nur" dem 70-fachen des Normaldrucks. Dass CO2 in diesem Zustand ein gutes Lösungsmittel ist, ist schon seit zwanzig Jahren bekannt. Auch in der Industrie: Brauereien entziehen dem Hopfen mit seiner Hilfe unangenehme Bitterstoffe; und die Parfumindustrie holt wertvolle Duftstoffe aus Blüten heraus.

    Ein kurzer Blick von England über die Nordsee nach Bremen zeigt die wichtigste Anwendung dieses ganz besonderen Lösungsmittels: das Entkoffeinieren von Kaffee. Die grünen Kaffeebohnen werden zunächst befeuchtet, damit das Kohlendioxid leichter in das Innere der Zellen eindringen kann. Die Herstellung von koffeinfreiem Kaffee geschieht dann in einem Druckbehälter aus Stahl. Er ist mehrere Meter hoch, und 20 Tonnen Kaffee haben darin Platz. Manfred Reese, Qualitätsleiter bei den Deutschen Kaffeewerken der Firma Kraft Foods in Bremen beschreibt, wie das überkritische CO2, die Kohlensäure, erzeugt wird.

    In diesem ganzen System gibt es einen Zulauf von einem sog. CO2-Arbeitsbehälter. Dort lagert die zum Entkoffeinieren benötigte Kohlensäure bei ca. Raumtemperatur und 50-60 bar. Sie läuft dann in diese Einheiten hinein, und durch eine Hochdruckpumpe wird weitere Kohlensäure hineingefördert. Das führt zu einem Druckanstieg und letztlich auch zu diesem überkritischen Zustand.

    Bei Kohlendioxid tritt dieser Zustand ein, wenn der Druck etwa hundert Mal so hoch ist wie in einem Autoreifen. Die Temperatur muss dann gar nicht besonders hoch sein: 31 Grad genügen bereits.

    Bei den Deutschen Kaffeewerken wird das überkritische Kohlendioxid viele Male über eine Charge mit Kaffeebohnen gepumpt - die Fachleute sprechen von einem "Batch". Das geschieht in einem Kreislauf, und der führt noch durch einen zweiten Behälter. Dessen Inhalt ist Aktivkohle. An ihr bleibt das gelöste Koffein hängen.

    Beide Behälter befinden sich jetzt unter Druck, weil die Kohlensäure hineingepumpt wurde. Eine Pumpe zirkuliert dann das CO2 hin und her. Im Kaffeebehälter hat die Kohlensäure das Bestreben, das in den Zellwänden der Kaffeebohnen angelagerte Koffein aufzunehmen. Im Aktivkohlebehälter wird dem CO2 das Koffein von der Aktivkohle wieder abgenommen, bevor das befreite Kohlensäuregemisch wieder zurück in den Kaffeebehälter fließt. Dieser Kreislauf dauert mehrere Stunden, bis ein Batch entkoffeiniert ist, und zwar bis unter den legalen Grenzwert, der 0,1 Prozent Koffein maximal beträgt.

    Dann wird das Kohlendioxid wieder in seinen Vorratsbehälter zurückgepumpt. Zurück bleibt die Aktivkohle mit dem Koffein, einem wertvollen Zusatzstoff für Erfrischungsgetränke. Das Hauptprodukt ist der koffeinfreie Rohkaffee - der später, nach dem Rösten, wirklich nach Kaffee schmeckt. Das, sagt Manfred Reese, sei der große Vorzug dieses Verfahrens gegenüber anderen gebräuchlichen Methoden der Entkoffeinierung.

    Bei Martyn Poliakoff im englischen Nottingham wird deutlich, warum es für die Chemieindustrie nicht ganz einfach ist, ihre Verfahren auf überkritische Fluide umzustellen. Da ist zum Beispiel das Problem, dass der 70-fache Atmosphärendruck nicht überall so leicht zu erzeugen ist wie in der Bremer Kaffeerösterei. In einem Chemiewerk gibt es eine Vielzahl von Reaktoren, die alle ausgewechselt werden müssten. Denn normale Stahl- oder Glasgefäße kommen für diesen hohen Druck nicht in Frage, sagt Peter Portius.

    Das sieht eher aus wie ein Rohr. Die Besonderheit bei diesen Reaktoren ist, dass sie so konzipiert sein müssen, dass sie dem Druck sicher widerstehen können. Es gab ja so vor 200 Jahren, als die Dampflokomotiven aufkamen, Explosionen mit Kesseln, und dabei sind die Heizer meistens ums Leben gekommen. Und aus dieser Zeit stammen gewisse Sicherheitsüberlegungen und -vorkehrungen, die bis heute Bestand haben.

    Die Forscher in Nottingham betreiben deshalb Chemie im Modellmaßstab. Als Reaktoren verwenden sie dickwandige Stahlröhrchen, so lang und so dünn wie ein Mittelfinger. In sie passt so viel hinein wie in ein Schnapsglas. Überall laufen spezielle Pumpen, die den hohen Druck erzeugen.

    Die chemischen Umsetzungen in Martyn Poliakoffs Labor laufen immer nach dem gleichen Prinzip ab: Das Stahlröhrchen, in dem die Reaktion ablaufen soll, ist senkrecht aufgehängt. Das Kohlendioxid wird - genau wie bei der Entkoffeinierung - zunächst in einem weiteren Behälter gelagert und dann in den Reaktor gepumpt. Dabei erhöhen die Chemiker den Druck und erzeugen so den überkritischen Zustand. Über einen zweiten Hahn lassen sie zugleich die Ausgangsstoffe der Reaktion hineintröpfeln. Das erinnert an eine Infusion, die langsam in den Arm eines Patienten tropft. Im Inneren des Stahlfingers werden dann die Substanzen umgesetzt, und unten, am anderen Ende des Röhrchens, kann das Reaktionsprodukt abgezapft werden.

    Mit dieser Methode können Forscher eine bunte Palette von Chemikalien herstellen - jedenfalls im Labor. Fast jede Reaktion ist auch schon in einem überkritischen Lösungsmittel gelungen. In der Industrie werden die Fluide aber erst vereinzelt als Lösungsmittel eingesetzt. Mit Hilfe von überkritischem Kohlendioxid werden in den USA Teflon-ähnliche Kunststoffe hergestellt, und in der Schweiz Vitamin E.

    Die modernste Anlage Europas steht im Norden von England. Die Firma Thomas Swan in Cónsett liegt drei Zugstunden von Nottingham entfernt in einem ehemaligen Bergbaurevier. Dr. Stephen Ross:

    Die größten Probleme gab es dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hatten. Im Allgemeinen kann man Hochdruckventile und -installationen einfach kaufen. Wir hatten also nicht gedacht, dass es mit diesen Bauteilen irgendwelche Schwierigkeiten geben könnte. Aber die Standardventile für das Arbeiten unter hohem Druck haben nicht funktioniert. Was dagegen die Chemie angeht, war es sehr einfach, vom Labor in den technischen Maßstab überzugehen.

    Der Reaktor in Consett ermöglicht eine Jahresproduktion von 1000 Tonnen der unterschiedlichsten Chemikalien. Als er vor zwei Jahren in Betrieb ging, bekam die kleine Firma hohen Besuch.

    Diese Gedenktafel erinnert an die Eröffnung unserer Anlage durch Lord Sainsbury, den Wissenschaftsminister des Vereinigten Königreichs, am 12. Juli 2002. Vor uns steht also dieser Reaktor, im Freien, wie das in Chemiebetrieben häufig der Fall ist. Es handelt sich um einen Stahltank, der etwa einen Kubikmeter fasst und von oben befüllt wird. Durch eine Glasscheibe können wir kontrollieren, ob das Kohlendioxid wirklich im überkritischen Zustand ist. Gerade findet eine Hydrierung statt, eine Reaktion mit Wasserstoff. Die ganze Reaktion ist spätestens nach einer Minute beendet. Das Reaktionsprodukt tröpfelt laufend in einen Behälter, den wir auswechseln, sobald er voll ist.

    Genau darin sieht die Firma den großen Vorteil des Verfahrens: Das Produkt muss anschließend nicht weiter gereinigt werden. Wäre es in einem organischen Lösungsmittel hergestellt worden, dann müsste dieses erst einmal entfernt werden. Das ist umständlich und kann viel Energie verschlingen.

    Zum Beispiel bei der Herstellung einer Vorstufe des Kunststoffs PET, aus dem Mineralwasserflaschen hergestellt werden. Hier wird die Hälfte der Energie nur für die Reinigung des Produkts benötigt. Verschwendung, meint Martyn Poliakoff, und entwickelt deshalb gerade für diese Reaktion ein Verfahren mit überkritischem Wasser als Lösungsmittel.

    So eindeutig sind die Vorteile der überkritischen Fluide nicht immer. Sie entstehen erst unter hohem Druck, und das kostet erst einmal Energie. Dieser Minuspunkt in der Umweltbilanz muss gegen die möglichen Vorteile abgewogen werden.

    In der Industrie kommt es vor allem darauf an, wie sich die Details des Prozesses ändern, wenn ein anderes Lösungsmittel verwendet wird: Wie muss die Anlage umgebaut werden? Wie viel Produktionsausfall ist damit verbunden? Wird der Prozess danach genau so zuverlässig ablaufen wie vorher? Die Antworten darauf entscheiden darüber, ob sich eine mögliche Umstellung auch finanziell lohnt. Russell Clarke, Business Manager bei der Firma Thomas Swan.

    Da muss man jeden Fall für sich betrachten. Wir wollen auf keinen Fall behaupten, dass überkritische Flüssigkeiten alle Probleme lösen würden. Ich glaube aber ganz sicher, dass es viele Bereiche gibt, wo sie wirtschaftliche Vorteile haben gegenüber der Produktion mit konventionellen Lösungsmitteln. (6:51) Es wird sich zeigen, ob sich mehr Unternehmen dieser Produktionsweise anschließen. Der Schlüssel ist natürlich, dass erst einmal demonstriert werden muss, dass sie wirtschaftlich rentabel ist.

    Noch einmal drei Zugstunden von Nordengland entfernt, am Rande der kargen Hügellandschaft Schottlands, liegt Saint Andrews. Ein Städtchen mit 18.000 Einwohnern, von denen ein Drittel an der ältesten Universität des Landes studiert.

    My name is David Cole-Hamilton, we are in the University of Saint Andrews, School of Chemistry.

    David Cole-Hamilton ist kein Schotte, sondern Engländer. Vor 19 Jahren hat es ihn hierher verschlagen. Besucher führt er gerne in einen Raum, den es nur in einem Chemieinstitut gibt: ins Dachlabor.

    Der Aufstieg hat sich gelohnt, denn die Aussicht ist überwältigend: Hinter der mittelalterlichen Silhouette der Stadt ein malerischer Fjord. Dann nur noch Sandstrände und Steilküsten, so weit das Auge reicht.

    In case something blows up it can just blow off instead of blowing the building up. -

    Wenn hier etwas in die Luft fliegt, bleibt wenigstens das Gebäude stehen - das ist der Sinn eines Dachlabors. David Cole-Hamilton forscht aber an Lösungsmitteln, die nicht explodieren können, und deshalb darf seine Mannschaft zwei Stockwerke tiefer, in einem ganz normalen Labor damit arbeiten.

    Wir verwenden einen interessanten neuen Typ von Lösungsmitteln, die ionischen Flüssigkeiten. Sie sind Salze, genau wie das Salz an unseren "Fish and Chips" oder in der Bratwurst. Dieses Salz ist ja ein Feststoff, aber es gibt auch Salze, die bei Raumtemperatur flüssig sind.

    Die meisten Salze schmelzen bei großer Hitze, Kochsalz zum Beispiel bei 800 Grad. Ionische Flüssigkeiten sind die Ausnahmen von dieser Regel - man könnte sie also als Flüssigsalze bezeichnen. Von einigen dieser Substanzen hat David Cole-Hamilton Proben im Kühlschrank.

    Da haben wir eine ziemlich zähflüssige Substanz, aber dies hier ist eine ganz leicht bewegliche, blassgelbe Flüssigkeit. Sie sieht aus wie Wasser, aber es ist ein Salz. Hier haben wir noch eine Probe, die sich fast wie ein Gelee verhält. Je nachdem, woraus man diese Substanzen herstellt, sind sie eher beweglich oder zäh.
    Als Lösungsmittel haben ionische Flüssigkeiten einige Pluspunkte. Die zwei wichtigsten: Sie verdampfen nicht, und sie sind nicht brennbar. Das bedeutet Erleichterungen im Arbeitsschutz und weniger Umweltgefahren bei Störfällen. Außerdem lösen sich in ihnen nach einem chemischen Grundprinzip nur Substanzen, die chemisch ähnlich aufgebaut sind wie sie selbst - also salzartige Verbindungen.

    Dazu gehören viele Katalysatoren. Solche Stoffe setzen Chemiker einem Gemisch zu, damit eine Reaktion schneller abläuft oder überhaupt erst möglich wird. Mit Flüssigsalzen als Lösungsmittel vollziehen sich solche Reaktionen in denkbar einfachen Gefäßen. Druckreaktoren wie bei den überkritischen Fluiden sind also nicht nötig.

    Das ist ein Topf mit einem Rührer, so etwas wie ein Küchenmixer. Hier drin reagieren unsere Substanzen, und das Produkt läuft über das Röhrchen dort ab. Das ist also ein kontinuierlicher Prozess: Die Ausgangsstoffe fließen langsam hinein, und das Produkt tröpfelt heraus. (5:38) Es entsteht zwar nur ein Drittel Milliliter pro Minute, in einer Stunde also gerade einmal ein Schnapsglas voll. Die Reaktion läuft bei uns aber rund um die Uhr, und da kommt doch einiges zusammen. Dieser kleine Reaktor liefert uns also eine Menge Material, das wir auswerten können. In der Industrie würde man natürlich einen größeren Reaktor verwenden. Es wäre kein Problem, zu einem größeren Maßstab überzugehen.

    Erste industrielle Anwendungen der ionischen Flüssigkeiten gibt es bereits. Eine davon auch in Deutschland. Die BASF in Ludwigshafen ist mit ihrer Hilfe nämlich einem Problem zu Leibe gerückt, das in der chemischen Industrie an der Tagesordnung ist: Bei vielen Reaktionen entstehen Salze. Die sind in herkömmlichen Lösungsmitteln unlöslich. Man erhält somit, sagt Dr. Matthias Maase von der BASF, eine Suspension, eine Art Brei mit Salzkristallen drin.

    Nun ist es so, dass man im Labor mit solchen Suspensionen ziemlich leicht umgehen kann, dass diese aber im großen industriellen Maßstab durchaus problematisch sind. Man muss die ja auch pumpen, da können Leitungen verstopfen; man muss sie zwischenlagern, dann setzt sich der Feststoff ab und man hat Schwierigkeiten, das Material herauszubekommen. Deswegen werden in großen chemische Verfahren Flüssigkeiten bevorzugt. Das ist der Punkt, wo unser Verfahren ansetzt: Statt eines festen Salzes erhalten wir ein flüssiges Salz, eine sog. ionische Flüssigkeit. Diese scheidet sich nach der Reaktion vom Wertprodukt als eigene flüssige Phase ab, die man einfach durch Abtrennung als Reinstoff erhalten kann.

    Genau wie Fett, das auf dem Wasser schwimmt und einfach abgeschöpft werden kann. Das erleichtert das Verfahren erheblich: In einem Drittel der Zeit kann die Firma die doppelte Menge an Produkt herstellen. Ionische Flüssigkeiten haben noch einen weiteren Vorteil: Weil sie selbst Salze sind, eignen sie sich auch dazu, salzähnliche Bestandteile aus einer flüssigen Mischung herauszuziehen. Zum Beispiel Schwefelverbindungen aus dem Dieselöl. Auch daran arbeiten Forscher in Deutschland. Andreas Jess, Professor für Chemische Verfahrenstechnik an der Universität Bayreuth.

    Man gibt im Prinzip die ionische Flüssigkeit mit dem Dieselöl zusammen, mischt intensiv und erhält anschließend, weil die ionische Flüssigkeit und das Öl nicht mischbar sind, zwei getrennte Phasen. In der einen Phase befindet sich das Dieselöl, das jetzt weniger Schwefel enthält, und auf der anderen Seite haben wir die ionische Flüssigkeit, die auf Grund ihrer chemischen Struktur ein hohes Aufnahmevermögen für diese Verbindungen hat. Das heißt, die ist jetzt beladen mit den Schwefelverbindungen, und das Dieselöl entsprechend gereinigt. Und das kann man mehrstufig durchführen und das teilweise gereinigte Dieselöl mit frischem Lösungsmittel versetzen und erhält so stufenweise eine Verminderung des Schwefelgehalts bis auf die Grenzwerte, die jetzt gefordert sind.

    Vorerst funktioniert das nur im Labor. Bis eine Raffinerie das Verfahren anwenden kann, müssen noch einige Details optimiert werden. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass die Umsetzung in der Praxis manchmal recht lange dauert. Denn für die Flüssigsalze ist eine Frage noch offen: Sind sie wirklich umweltfreundlicher als herkömmliche Lösungsmittel?

    Bei den überkritischen Fluiden ist das leicht zu beantworten. Wasser und Kohlendioxid sind harmlose Substanzen. Das Kohlendioxid trägt auch nicht zum Treibhauseffekt bei, denn es wird nicht eigens hergestellt, sondern fällt bei anderen chemischen Reaktionen als Nebenprodukt an.

    Unklar ist derzeit aber, was aus den ionischen Flüssigkeiten wird, wenn sie nicht zu anderen Chemikalien weiter verarbeitet werden können, wie es bei der BASF geschieht. Für die meisten Flüssigsalze gibt es nämlich kein Entsorgungskonzept. Und auch sonst wissen die Fachleute noch nicht viel über die Auswirkungen dieser Substanzen auf die Umwelt - wer vergleichende Ökobilanzen sucht, der wird enttäuscht. Bernd Jastorff, Professor am Zentrum für Umweltforschung und Umwelttechnologie der Universität Bremen:

    Ich würde sagen, dass man zum Glück noch nicht genügend darüber weiß aus Erfahrungen, die in der Umwelt gewonnen worden sind, denn diese Stoffklasse ist noch keine laufende Technologie. Wir befinden uns also in der glücklichen Situation, dass die Feldversuche nicht per Zufall im Feld gemacht werden, sondern dass sie von der Wissenschaft vorher geplant werden können, dass wir das Design von Chemikalien so ausrichten können, dass die Umweltverträglichkeit akzeptierbar ist.

    Der Bremer Forscher hat eine Methode entwickelt, mit der man die Auswirkungen einer Chemikalie auf die Umwelt abschätzen kann, auch ohne dass man sie herstellen und testen müsste. Das ist bei den ionischen Flüssigkeiten besonders praktisch. Denn von ihnen gibt es Millionen verschiedener Varianten - jedenfalls theoretisch. Bernd Jastorff hat herausgefunden, dass allein die Struktur eines Moleküls schon viel über das Umweltverhalten einer Substanz aussagt. Zum Beispiel darüber, wie gut sie sich in Wasser löst oder wie leicht sie biologisch abgebaut wird.

    Dem Bremer Umweltforscher genügt es, wenn er nur eine repräsentative Auswahl von Verbindungen tatsächlich herstellt und die Voraussagen seiner Theorie überprüft. In solchen Tests wird dann zum Beispiel untersucht, ob die Chemikalie mit dem Erbgut oder anderen Zellbestandteilen reagiert und wie sie sich in Modell-Ökosystemen verhält.

    Für die ionischen Flüssigkeiten lautet ein wichtiges Ergebnis: Wenn die Moleküle lange Seitenketten enthalten, schaden sie eher der Umwelt. Nur Flüssigsalze mit kurzen Molekülketten kommen als Alternative zu Lösungsmitteln in Frage.

    Und jetzt würde ich nicht von einer grünen Alternative zu Lösungsmitteln sprechen, weil das zu verkürzt ist. Es geht letztlich um eine nachhaltige Lösung, und die umfasst nach dem Agenda-Dreieck sowohl die ökonomische als auch die ökologische Situation. Auch das ist zurzeit noch offen bei ionischen Flüssigkeiten: Sie sind in der jetzigen Phase zu teuer, um zu einer Massenchemikalie zu werden, wie es die klassischen Lösungsmittel sind, und die Frage, ob sie sie jemals vollständig ersetzen werden können, bezweifle ich. Aber es gibt sicherlich eine Reihe von Prozessen, bei denen sie nicht nur aus Gründen der "grünen Alternative", sondern auch aus ökonomischen und Arbeitsschutzgründen herkömmliche Lösungsmittel werden ersetzen können.

    ENDE