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Londons Ai Weiwei-Retrospektive
Sonnenblumenkerne und Keramikvasen

Die Retrospektive auf den chinesischen Künstler und Dissidenten Ai Weiwei enttäuscht. Nur in einem Raum, wo Ais Humanismus und seine kreative Art wirklich verschmelzen, entsteht bewegende Kunst.

Von Hans Pietsch | 18.09.2015
    Der Innenhof der Royal Academy of Arts in London mit dem Plakat zur Werkschau des chinesischen Künstlers Ai Weiwei 2015
    Der Innenhof der Royal Academy of Arts in London mit dem Plakat zur Werkschau des chinesischen Künstlers Ai Weiwei 2015 (Deutschlandradio / Friedbert Meurer)
    Schon im Vorhof der Royal Academy kommt Ais Kunst mit Wucht daher. Ein Wäldchen aus kahlen Bäumen, im Atelier aus Teilen gefällter Bäume zusammengebaut, traurige Erinnerung an grüne Wälder, die der Mensch vernichtet. Dazwischen ein abgewetzter Sessel, wie vom Sperrmüll, aber aus schwarzem Marmor.
    Traditionelle Materialien wie Holz, Marmor und Porzellan kommen in Ais Kunst immer wieder vor. Die Bodenskulptur 'Bett' besteht aus miteinander verzahnten Holzleisten, uraltes Holz aus der Zeit der Quing Dynastie. Von oben gesehen hat sie die Form einer Landkarte Chinas. In einem anderen Raum liegen in einer Vitrine Knochenfragmente, ausgegraben in einem ehemaligen Umerziehungslager aus Maos Zeiten, wo auch Ais Familie mehrere Jahre inhaftiert war. Sie sind aus Porzellan. Hölzerne Hocker vermehren sich, Tische klettern rechtwinklig die Wand nach oben.
    Der Künstler feiert mit diesen Arbeiten das Geschick chinesischer Handwerker und hinterfragt Traditionen. Die Absurdität der nutzlosen Objekte lässt an Marcel Duchamp denken, Minimalismus und Konzeptkunst scheinen durch, kein Widerspruch zu Ais Auseinandersetzung mit Tradition. Und im letzten Raum hängt ein aus Fahrrädern gebastelter Leuchter, auch er nutzlos, aber von großer Leichtigkeit.
    Nicht alles in der Schau überzeugt. Zu oft schon haben wir die Verfremdung eines vertrauten Objekts durch die Überführung in ein anderes Material gesehen. Ais Überwachungskameras aus weißem Marmor tragen da nichts Neues bei. Auch nicht die Tapete, die mit vergrößerten Schecks bedruckt wurde, die ihm chinesische Bürger zukommen ließen, als er wegen Steuerhinterziehung zur Zahlung von mehr als einer Million Euro verurteilt worden war.
    Ein Requiem für die Opfer des Sichuan-Erdbebens
    Zu den Enttäuschungen der Londoner Ausstellung gehört auch die gefeierte Aufarbeitung seines 81-tägigen Gefängnisaufenthalts. Sechs Kästen aus rostigem Eisen füllen einen Raum, durch Sehschlitze blickt man ins Innere - Ai Weiwei, halb lebensgroß, als Häftling in seiner winzigen Zelle, ständig beobachtet von zwei Wärtern in Uniform. Beim Essen, Schlafen, Zähneputzen, auf der Toilette. Doch die Ironie ist nicht scharf genug und so schliddern die Tableaus immer wieder in die Sentimentalität.
    Doch wenn Ais Humanismus und seine Kunst wirklich verschmelzen, wie im zentralen Raum der Schau, entsteht beeindruckende und bewegende Kunst. Ein Video zeigt Opfer des verheerenden Erdbebens, das am Pfingstmontag 2008 die Provinz Sichuan heimsuchte. Die Bilder sind schwer zu ertragen: vergebliche Wiederbelebungsversuche an Opfern, aus Trümmern ragende Gliedmaßen, aufgehäufte Tote, viele Kinder unter ihnen. An den Wänden des Ausstellungsraums die Namen der 5196 Kinder, die bei dem Beben ums Leben kamen. Und auf dem Boden rostige Eisenstangen von unterschiedlicher Länge, die eine Art Wellenbewegung bilden. Ai hatte heimlich 200 Tonnen der zur Stärkung des Baubetons verwendeten Stangen erworben, die das Beben verbogen hatte. In seinem Atelier ließ er sie von Hand wieder gerade biegen. Ein Requiem für die Opfer und gleichzeitig eine Anklage gegen die minderwertige Qualität der Gebäude, die für die hohe Zahl der Toten verantwortlich war.