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Londons schönste Straße

Seit Generationen steuern die Themseschiffer lange Reihen vertäuter Barken durch engste Londoner Brückenbögen - ein komplizierter Slalom, bei dem es um Zentimeter geht. Doch den gut ausgebildeten Spezialisten droht Ungemach aus Brüssel: im Rahmen einer neuen EU-Regelung soll ihre Ausbildungszeit auf zweieinhalb Jahre halbiert werden. Ruth Rach berichtet:

    Bleischwer der Himmel, unruhig der Fluss. Die Themse bei Woolwich Südostlondon. Gleich in der Nähe, eine gigantische Flutsperre. Am Ufer, rostige Ladekräne, graue Container. Die Werftanlage von Cory Environmental, über 100 Jahre alt.

    Als er vor dreißig Jahren anfing gab’s noch zweieinalbtausend Frachtkapitäne, heute sind’s 72. Tim Keech. Ein Wikingertyp mit Cockney Akzent. Sein Beruf geht bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück. Schon damals war seine Familie auf dem Wasser.

    Früher lebten die Themseschiffer in Rotherithe bei der Tower Brücke. Immer schon waren sie eine ganz enge Gemeinschaft. In den 60er Jahren verloren die Leute ihre Jobs und zogen weg. Ihre Lagerhallen wurden zu Luxuswohnungen umgebaut und kosten heute bis zu 600.000 Euro.

    Tim Keech zieht ein Foto aus der Tasche. Die Kutsche von Königin Elisabeth der Zweiten. Im Vordergrund ein Herr im roten Livree: Tim ist einer von 24 Themseschiffern, die das Recht haben, die Queen zu eskortieren.
    "Wir dürfen die Königin sogar anfassen, um ihr in die Kutsche oder ins Boot zu helfen - schließlich ist sie über 80 und nicht mehr ganz so gut auf den Beinen."
    Die Pier: Männer in orangefarbenen Einheitsoveralls. Umso individueller ihre Kopfbedeckung. Schiebermützen, Baseballcaps, ein Fes. Heute transportieren die Schiffe von Cory Environmental nicht mehr Koks und Kohle sondern nur noch Abfall, in Riesencontainern.
    Ray, Schiffskapitän der "General 8". Eine Mischung aus Jean Paul Belmondo und Taxifahrer.

    "Wir sind bei unseren Vätern in die Lehre gegangen, das zieht sich durch die Generationen. Heute ist alles anders. Die Kinder wollen in die City, in die große Finanzwelt, und Geld verdienen."

    Die Themse ist ein Tidenfluss. Der Zeitplan muss genau stimmen. Sonst kommen die Schiffe nicht unter den Brücken durch. Die General 8 schleppt drei Barken flussaufwärts, jede einzelne gut 20 Meter lang.

    Lenny, der Maat – Mitte 50, topfit - klettert senkrecht die Leiter hoch. Er balanciert ein Tablett mit Teetassen, bis zum Rand gefüllt. Zwei Lehrlinge sprinten von Kahn zu Kahn, straffen und lockern Taue. Rhythmisch, harmonisch, wie im inneren Funkkontakt. Jeder Handgriff sitzt.
    Ray, der Käpt’n, lässt den Lehrling ans Steuer. Johns Ausbildung als Themseschiffer dauert länger als ein Universitätsabschluss:

    "Jede Krümmung, jede Ecke hat ihren Namen. Wir kennen sie alle. Die hier heißt zum Beispiel Cuckhold’s Point."
    Um seine Zukunft macht sich John wenig Sorgen. Der Frachtverkehr wird zunehmend wieder aufs Wasser verlagert. Was ihn beunruhigt: eine neue EU-Regelung. Sie soll ihre Ausbildungszeit halbieren. "Gewässer wie die Themse muss man in- und auswendig kennen", sagt John. Das dauert Jahre.
    Die Tower Bridge – der schwierigste Abschnitt. Eine Schlängelstrecke.
    Thomas, der zweite Lehrling - Igel-Haarschnitt, Diamantohrring, feste Stiefel.

    "Weil die Brücken so eng aufeinander folgen, musst du ständig gegensteuern. Sonst knallen die Barken gegen einen Pfeiler."
    Der Slalom geht weiter. London Bridge, Cannon Street, Southwark. Bisweilen steuert Ray geradewegs auf einen Pfeiler zu, damit ihn die Strömung in die Mitte treibt. Er hat die Augen überall. Jeder Zentimeter zählt.

    Kurze Entspannungspause bis zur Waterloo Bridge. Lenny erzählt von einer alten Tradition: Sämtliche Schwäne gehören der Königin. Nur die Themseschiffer dürfen sie zählen. Die General 8 wendet, hinter ihr drei Barken, mit vollen Containern beladen. Alles Abfall.

    "Irgendjemand muss das ja machen. Der Abfall garantiert uns den Lebensunterhalt."
    "Die Themse ist die schönste Straße Londons: wenn wir zur Stoßzeit unter den Brücken dahingleiten und oben das Chaos sehen, wird's uns immer ganz warm ums Herz."