
Der Tod des jungen Oldenburgers Lorenz A. wirft neben Trauer und Fassungslosigkeit auch viele wichtige gesellschaftliche Fragen auf. Es geht um die Verhältnismäßigkeit von Polizeigewalt, um möglichen strukturellen Rassismus bei der Polizei und was wir als Gesellschaft dagegen tun können.
Inhalt
- Was weiß man bisher über den Vorfall in Oldenburg?
- Welche Vorwürfe stehen im Raum und wie geht es in dem Fall weiter?
- Wann darf die Polizei Gewalt anwenden?
- Ist rassistische Gewalt ein Problem bei der Polizei - und nimmt sie zu?
- Wie hoch ist die Anklagequote bei möglicher rechtswidriger Polizeigewalt?
- Welche Faktoren behindern die Aufklärung solcher Fälle?
- Wie ließen sich die systemischen Probleme vermeiden?
Was weiß man bisher über den Vorfall in Oldenburg?
Seitens der Behörden gibt es bislang nur wenige Informationen. Demnach wurde der 21-jährige Lorenz A. am Ostersonntag am Eingang zu einem Klub in der Oldenburger Innenstadt abgewiesen. Er versprühte daraufhin Reizgas und flüchtete. Zunächst folgten ihm einige Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, sie ließen aber von ihm ab. Lorenz A. soll sie mit einem Messer bedroht haben.
Kurz darauf traf er auf die Besatzung eines Streifenwagens. Laut Schilderungen der Polizei sei Lorenz A. bedrohlich auf die Beamten zugegangen und habe sie wiederum mit Reizgas besprüht. Einer der Polizisten habe daraufhin geschossen. Kurze Zeit später stirbt Lorenz A. im Krankenhaus. Das Ergebnis der Obduktion: Drei Kugeln haben Lorenz A. von hinten getroffen, in die Hüfte, in den Oberkörper und in den Kopf. Eine weitere Kugel hat ihn am Oberschenkel gestreift.
Welche Vorwürfe stehen im Raum und wie geht es in dem Fall weiter?
Lorenz A. wurde von hinten erschossen. Daher stellen sich viele die Fragen: Waren die Schüsse gerechtfertigt? Bestand eine konkrete Gefahr für die Beamten oder Unbeteiligte? Warum waren die Bodycams, die die Polizisten trugen, nicht eingeschaltet? Der Getötete war schwarz. Wäre der Einsatz bei einer weißen Person genauso verlaufen? Konkrete Ermittlungsergebnisse dazu liegen noch nicht vor, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Man habe zwar ein Messer bei Lorenz A. gefunden, aber in seiner Hosentasche. Aktuell ermittelt die benachbarte Dienststelle Delmenhorst. Es werden Zeugen verhört und Videomaterial von Überwachungskameras ausgewertet, um mehr Klarheit über den genauen Ablauf des Einsatzes zu erhalten.
Die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“, die die Protestkundgebung in Oldenburg initiiert hat, schreibt in ihrem Aufruf: „Der Fall muss ordentlich aufgearbeitet werden und Konsequenzen nach sich ziehen. Lorenz muss Gerechtigkeit erfahren. Wir stehen geschlossen gegen Rassismus, der auch bei der Polizei strukturell ist. Der Mord an Lorenz ist kein Einzelfall.“
Wann darf die Polizei Gewalt anwenden?
Die Polizei ist in bestimmten Situationen befugt, Gewalt einzusetzen. Die Gewaltbefugnis ist jedoch auch für die Polizei eine Ausnahmebefugnis. Andere Maßnahmen wie Kommunikation und Deeskalation gehen stets vor. Nur dann, wenn polizeiliche Maßnahmen auf andere Weise nicht mehr durchsetzbar sind, dürfen Polizistinnen und Polizisten auch Gewalt anwenden – und nur, solang diese verhältnismäßig ist. Das ist laut dem Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein, der an der Uni Frankfurt zu rechtswidriger Polizeigewalt forscht, „der rechtliche Maßstab, an dem sich die Polizei in ihrem Handeln eigentlich orientieren muss“.
Wenn die Polizei die Grenzen, die das Gesetz zieht, dabei überschreitet, handelt es sich um einen rechtswidrigen Gewalteinsatz. Laut der Studie „Gewalt im Amt“ aus dem Jahr 2023 kommt es vor allem bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen oder Fußballspielen zu Polizeigewalt. 20 Prozent der Fälle betreffen Einsätze außerhalb von Großveranstaltungen, zum Beispiel Konfliktsituationen oder Personenkontrollen. Laut der Studie erfahren junge Männer am häufigsten polizeiliche Gewalt.
Es besteht Unklarheit darüber, wie häufig die Polizei Gewalt anwendet und wie viele Todesfälle in Deutschland im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen auftreten.
Ist rassistische Gewalt ein Problem bei der Polizei und nimmt sie zu?
Es fehlt bislang an Zahlen, um zu beantworten, inwieweit rassistische Gewalt ein Problem bei der Polizei ist und wie sie sich im Zeitverlauf entwickelt. Laut Tobias Singelnstein, der die Studie "Gewalt im Amt" geleitet hat, haben People of Color, die rechtswidrige polizeiliche Gewalt erfahren haben, häufiger den Eindruck, in diesen Situationen diskriminiert worden zu sein, als weiße Menschen. Dazu spiele Racial Profiling in der Praxis der Polizei auch in Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn man eher kontrolliert werde, gerate man eher in Gewaltsituationen. „Deshalb spricht viel dafür, dass Menschen mit Migrationshintergrund eher davon betroffen sind. Und wenn wir uns die Todesfälle der vergangenen Jahre angucken, dann sehen wir auch da eine gewisse Überrepräsentation.“
Laut Singelnsteins Einschätzung liegt das vor allem an strukturellen Komponenten und der Frage, ob Beamte in Einsätze mit PoCs mit einer anderen Gefahrenwahrnehmung und Gefahreneinschätzung hereingehen. In einer Studie zu Rassismus innerhalb der Polizei gab ein Drittel der Befragten an, dass sie bereits rassistisches Verhalten oder Äußerungen unter Kollegen erlebt hatten. Die Forschung steht hier noch am Anfang. Es gebe zwar eine gute Datenlage zu Racial Profiling, „aber zu sonstigen Fragen des institutionellen Rassismus in der Polizei gibt es noch viel zu wenig“, so Singelnstein.
Wie hoch ist die Anklagequote bei möglicher rechtswidriger Polizeigewalt?
Laut Statistik der Staatsanwaltschafts landen nur zwei Prozent der Fälle möglicher rechtswidriger Gewaltanwendung von Polizisten vor Gericht, der Rest der Fälle wird eingestellt. In sehr vielen Fällen scheitert es an der Beweislage, und häufig steht am Ende die Aussage der Beamten gegen die Aussage der Betroffenen oder Dritter, sodass die Justiz entscheiden muss, welcher Seite sie eher Glauben schenkt.
Wenn es keine Videoaufnahmen, keine klaren sonstigen Sachbeweise gibt, entscheiden sich die Staatsanwaltschaften in diesen Konstellationen fast immer für eine Einstellung des Verfahrens.
Welche Faktoren behindern die Aufklärung solcher Fälle?
In der Polizei gibt es eine starke Binnenkultur, die oft auch als „Korpsgeist“ bezeichnet wird. Diese Art des beruflichen Zusammenhalts gibt es in viele Berufsgruppen, doch bei der Polizei ist sie besonders stark. Daraus auszuscheren ist für Einzelne nicht einfach und wird negativ sanktioniert.
Ein weiterer Punkt, der die Aufklärung möglicherweise erschwert, ist die Tatsache, dass Staatsanwaltschaften täglich mit der Polizei zusammenarbeiten, da diese die Ermittlungen für sie durchführt. Dies führe laut Professor Tobias Singelnstein zwar nicht zu einer bewussten Bevorteilung der Beamten. Doch es gebe das Problem, dass es „schon eine menschliche Herausforderung ist, dann auch in so einer Konstellation unvoreingenommen an das Verfahren heranzugehen“.
Wie ließen sich die systemischen Probleme vermeiden?
Die Studie „Gewalt im Amt“ empfahl im Jahr 2023 zahlreiche Maßnahmen, zunächst die Bekämpfung des Korpsgeistes. Dazu gehören erleichterte Anzeigemöglichkeiten und eine Kennzeichnungspflicht für Beamte. Auch sollte es mehr unabhängig ermittelnde Institutionen geben, um für noch mehr Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit zu sorgen.
Die institutionelle Nähe von Polizei und Staatsanwaltschaft führt laut Studie dazu, dass Staatsanwälte Verfahren gegen Polizeibeamte als herausfordernd und belastend empfinden. In den Gesprächen mit Staatsanwälten wurde zudem ein besonderes Verständnis für beschuldigte Polizeibeamte sichtbar, das als „Korpsgeist zwischen den Institutionen“ bezeichnet wurde.
Notwendig sind laut der Studie außerdem eine kritische Reflexion und ein Hinterfragen des Umgangs mit Gewalt sowie eine Entnormalisierung von Gewaltanwendung, unter anderem durch Coachingmaßnahmen, Supervision und Reflexion. Zudem könne die polizeiliche Kommunikation weiter verbessert werden: auf Augenhöhe, Verständnis fördernd und auf Drohungen verzichtend. Auch eine Veränderung von Ausrüstung, Bewaffnung und Einsatzstrategien sowie die Einbeziehung sozialarbeiterischer oder psychologischer Ansätze wären sinnvoll.
Wichtig seien zudem eine transparente statistische Erfassung von polizeilichen Gewaltanwendungen und eine öffentliche Debatte darüber. Zudem sollten die vorgeschriebenen Techniken der Gewaltausübung klarer definiert und nachvollziehbar gemacht werden. Die Beschwerdemacht der Betroffenen von Polizeigewalt muss ebenfalls gestärkt werden, unter anderem durch Empowerment-Arbeit, mediale Berichterstattung und rechtliche Unterstützung.
Intersektionale und rassismuskritische Ansätze in der Polizeiausbildung und -fortbildung könnten helfen, die Ungleichbehandlung von benachteiligten Gruppen zu hinterfragen und systemischen Rassismus anzugehen. Auch die Einstellung von mehr Beamtinnen und Beamten mit Migrationsgeschichte ist eine hilfreiche Maßnahme, die in einigen Bundesländern bereits verstärkt praktiziert wird.
pj