Wer sentimentale Repliken eines ehemaligen Ostpreußen erwartet, sollte auf die Lektüre dieses Buches verzichten. Die Forderung nach Rückgabe dieser einstigen deutschen Provinz wird er hier nicht finden.
Und ein paar Sätze weiter lesen wir gar von "Ewiggestrigen", denen die Arbeit Kotzschs "zuwider" sein müsste. So kann man es also machen, so sollte man es jedoch nicht tun. Doch kommen wir zu dem Buch selbst. Kotzsch gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte Ostpreußens und Königsbergs bis zur sowjetischen Annexion, die er übrigens auch als eine solche bezeichnet. Dabei räumt er der Begegnung des preußischen Kurfürsten Friedrich III. - dem späteren König Friedrich I. - mit dem russischen Zaren Peter I. in Königsberg anno 1697 und einem zwischen beiden Herrschern abgeschlossenen Vertrag eine herausragende Bedeutung ein, und das keineswegs zu Unrecht. Mit beidem wurde nach Kotzsch...
... für die zukünftigen Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen, dem nachmaligen Königreich Preußen, und dem Russischen Reich eine tragfähige Grundlage geschaffen,...
... die lange hielt und trotz einiger Brüche immer wieder erneuert werden konnte. Kotzsch erliegt bei der Würdigung jenes Vertrages allerdings einem Irrtum. Er meint, der Pakt sei kaum bekannt - mehr noch, er fragt:
Wie kommt es, dass dieses Traktat von Königsberg vom Jahre 1697 so gänzlich unbekannt geblieben ist?
Und an anderer Stelle behauptet er, dass dem Vertrag von einer Ausnahme abgesehen...
... im deutschen Schrifttum bislang keine sonderliche Beachtung geschenkt worden (ist). Das ist eigentlich unverständlich.
Doch so ist es nicht. Reinhard Wittram ist in seiner Biographie Zar Peter I. ausführlich auf ihn eingegangen, wobei sich herausstellt, dass er auf einem Entwurf Friedrichs basierte; und auch andere Autoren - Schirren, Hassinger, Forstreuter und weitere - haben sich mit ihm beschäftigt. Dass Kotzsch das nicht weiß, ist wahrscheinlich auf die Barrieren zurückzuführen, mit denen in der DDR die Geschichtsforschung behindert wurde. Zugleich muss aber darauf hingewiesen werden, dass der Autor mit seiner Darstellung nie an die Ideologisierung denken lässt, der die Historiographie in der DDR gleichfalls unterlag. Vielmehr sind gerade seine Anmerkungen zu Status und Zustand des nördlichen, des russischen Ostpreußens und der zu Kaliningrad gewordenen Stadt Königsberg von jeder beschönigenden Schminkerei frei und höchst informativ. Wenn Kotzsch die derzeitige Situation - oder besser: die wirtschaftliche und soziale Misere von Gebiet und Stadt - schildert, so geht sie für ihn auf Stalins Weisung vom September 1945 zurück, die Region zu einem besonderen Militärbezirk zu machen. Wir lesen:
Schon vor der organisierten Aussiedlung der Deutschen machte sich die Armee ans Werk, das Territorium nach dem Grundsatz "Militärinteressen vor Zivilinteressen" zu einem Sperrgebiet auszubauen. Dazu war ihr von Moskau uneingeschränkte Ermessensfreiheit eingeräumt worden. Alle raumwidrigen Veränderungen der Infrastruktur ... basieren auf autonomen Eingriffen und Entscheidungen der Armee... Die weitere Entwicklung führte als Folge ... dazu, dass die Armee sich in Kaliningrad bis zur Aufhebung des militärischen Sperrgebiets im Jahre 1990 nach Art eines Staates im Staate gerieren konnte. Der Ermessensfreiheit lokaler Befehlshaber waren keine Grenzen gesetzt.
Doch jene Aufhebung bedeutete keineswegs, dass nun der Anspruch der Militärs den zivilen Interessen hintangestellt wurde:
Die Gebietsduma bekam von der Zentralregierung in Moskau die Auflage, eben diesen Anspruch durchzusetzen. Das schließt von vornherein jede Besserstellung der Zivilbevölkerung in Kaliningrad aus.
Kotzsch zählt einige der Konsequenzen auf:
So sind viele der 1945 in den Städten requirierten öffentlichen Gebäude weiterhin im Besitz der Armee. Sie werden noch heute ihrer eigentlichen Zweckbestimmung als Schulen, soziale Einrichtungen oder Sportstätten entzogen ... Die Armee muss selbst dann durch den zivilen Sektor versorgt werden, wenn sie die Lieferungen nicht bezahlt oder nicht bezahlen kann.
Und das ist nur ein Beispiel von mehreren für die Krise. Kotzsch:
Als Folge der rückläufigen Kaufkraft gerieten der Handel wie auch die Umsätze der Klein- und Mittelbetriebe derart in Mitleidenschaft, dass die wirtschaftliche Produktion 1995 um 25 Prozent zurückging. Die Arbeitslosenquote stieg. Bei 477.245 offiziell registrierten Personen im arbeitsfähigen Alter beiderlei Geschlechts hieß dies zum einen: Es gab ... vermutlich ebenso viele Arbeitslose wie Soldaten. Zum anderen aber auch: Insgesamt bezog ein Drittel der arbeitsfähigen Zivilbevölkerung ein Einkommen unter dem offiziellen Existenzminimum und war auf Sozialhilfe angewiesen... Das Ende der Verarmungsspirale ist unter den gegebenen Umständen nicht abzusehen.
Nachdem das Gebiet durch die Auflösung der Sowjetunion zu einer von Russland getrennten Exklave geworden ist, bietet sich für Kotzsch ein interessanter Vergleich mit der Provinz Ostpreußen, die von 1919 bis 1939 vom Deutschen Reich getrennt war. Ganz anders, als heute die russische Führung, tat das Reich damals alles zur wirtschaftlichen Förderung, und zwar mit beträchtlichem Erfolg.
Von einer ähnlichen Unterstützung aus Moskau kann derzeit keine Rede sein. Im Gegenteil... Die strikte Ablehnung entwicklungspolitischer Alternativen und Forderungen wurzelt ... in der Furcht, diese könnten in eine Autonomie für die Exklave Kaliningrad münden.
Angesichts der Tatsache, dass es im riesigen russischen Reich sowohl autonome Gebiete als auch Autonomiebestrebungen gibt, ist jene Furcht durchaus nicht unbegründet. Aber natürlich gebiert sie mit der aktuellen eine höchst dumme, den Betroffenen im Gebiet und der Russischen Föderation nachteilige Politik. Die reichlich komplizierte Lage des Gebiets hat zu mancherlei Überlegungen geführt, wie seine Zukunft gestaltet werden könnte - bis hin zu polnischen und litauischen Erwägungen, es zwischen diesen beiden Anrainern aufzuteilen. In diesem Zusammenhang setzt sich Kotzsch mit dem Begriff "Regermanisierung" auseinander, mit dem ebenso eine Dominanz der Deutschen oder gar eine deutsche Herrschaft, mithin eine Rückgabe des Gebietes gemeint sein könnte. Der Autor macht dem Begriff einen kurzen Prozess: Er werde nur ...
... von Polen benutzt, wenn man etwa von deutschen Investitionen spricht und schreibt, weil man auch eigene wirtschaftliche Interessen im Kaliningrader Gebiet verfolgt. Er erweist sich darüber hinaus infolge seiner Vieldeutigkeit als ein probates Argument, um die Deutschrussen in der Oblast zu diskriminieren. Die Oblast Kaliningrad ist nicht regermanisierbar. Die These taugt nur als propagandistischer Popanz, um alte Ängste und antideutsche Ressentiments zu bedienen.
Dieser Popanz wirkt scheinbar selbst dort, wo es nur 0,6 Prozent deutschstämmige russische Staatsbürger gibt - im Kaliningrader Gebiet. Geradezu grotesk mute es an, schreibt Kotzsch, ...
... wenn die Gebietsduma mit Hilfe eines von ihr erlassenen Gesetzes "Über den Schutz der russischen Sprache auf dem Territorium des Kaliningrader Gebietes" eine Sprachenpolitik zu einer gezielten "Degermanisierung" betreibt. Getarnt hinter der Floskel "fremdsprachige Bezeichnungen" sollen alle bisher üblichen deutschen Namen, Bezeichnungen und Begriffe in Wort wie in Schrift offiziell wie öffentlich eliminiert werden.
Und das, während sich immer mehr Russen für die Geschichte des Landes interessieren, in das sie nach der sowjetischen Annexion gekommen waren, in dem sie geboren und aufgewachsen sind - deutsche Geschichte, fremdsprachige Vergangenheit, deren Zeugnisse sie noch allerorts umgibt, trotz Zerstörung und Verfall. Blieben noch diese Anmerkungen zu Autor und Buch: Lothar Kotzsch war Hochschullehrer an der Universität Kaliningrad und wurde ob einer veröffentlichten Studie zur Entwicklung des Gebiets entlassen. In diesem Buch nimmt er einige seiner Vorstellungen wieder auf. Bedauerlich indessen ist es, dass er kaum eine Quelle und keine weiterführende Literatur benennt.
Dietrich Möller über Lothar Kotzsch: Königsberg in Preußen seit Peter dem Großen. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen in den letzten drei Jahrhunderten, Edition Ost, Berlin 2001.