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Lotte Ulbricht: Mein Leben. Selbstzeugnisse, Briefe und Dokumente

Während Bernd Lutz Langes Jugendzeit wurde im Staate DDR gemunkelt, der allseits unbeliebte Spitzbart regiere nicht allein, sondern werde in vielerlei Entscheidungen von den Einflüsterungen seiner Gattin beeinflusst. Die hieß Lotte Ulbricht und war in der DDR der 60er eine durchaus gefürchtete Person. Anlässlich ihres 100. Geburtstages, den Lotte Ulbricht im April 2003 begangen hätte, hat ihr nun der Verlag Das Neue Berlin einen Band gewidmet.

Wolf Dietrich Fruck | 19.05.2003
    Der Titel dieses Buches, "Mein Leben", führt den Leser etwas in die Irre, denn mitnichten hat Lotte Ulbricht dieses Buch als ihre Biografie verfasst. Wie der Untertitel allerdings schon andeutet, wurde durch den Herausgeber Frank Schumann der Nachlass von Lotte Ulbricht gesichtet und auf 280 Seiten in Buchform gebracht. Lotte Ulbricht kommt dabei auch selbst zu Wort, u.a. mittels eines im 96. Lebensjahr niedergeschriebenen und mehrfach von ihr redigierten "Protokolls" sowie verschiedener Lebensläufe, die sie zwischen 1932 bis 1970 anfertigte. Über ihre Beweggründe zum Verfassen des Protokolls schreibt sie:

    Wenn ich mich jetzt, in meinem 96. Lebensjahr, entschlossen habe, über einige Tatsachen meines Zusammenlebens mit Walter Ulbricht zu berichten, so nur deshalb, weil mir noch heute, 25 Jahre nach dem Tode Walters, sowohl in den bürgerlichen Medien als auch von Seiten der Bevölkerung (selbst von vielen Genossen) immer wieder völlig abwegige Darstellungen über uns begegnen, die uns als korrupt und parteischädigend diskreditieren und mich beschuldigen, Walter politisch negativ beeinflusst zu haben.

    Lotte Ulbricht selbst hatte sich nach der Wende konsequent jedem Interviewersuchen verweigert. Zu ihrem Pankower Haus hatten nur wenige Vertrauenspersonen Zutritt. Umso mehr ist man gespannt, was einen erwartet. Zunächst biografische Angaben: Der Lebenslauf Lotte Ulbrichts, geborene Kühn, ist typisch proletarisch: geboren 1903, Vater Hilfsarbeiter, Mutter Heimarbeiterin – und gewählt wurde stets "rot". Stenotypistinnen waren gefragt, und so lernte Lotte diesen Beruf und war mit 18 Jahren schon eine gesuchte Fachkraft. Parteimitglied wurde sie ebenfalls als Achtzehnjährige und ist von da an im "Apparat" der KPD als Sekretärin tätig, 1921/22 erstmals in Moskau bei der Kommunistischen Jugendinternationale, dann wieder im ZK in Berlin, bei der KPD-Reichstagsfraktion, der UdSSR-Handelsvertretung. 1931 beginnen für sie die eigentlichen Moskauer Jahre, nun als Oberreferentin der Kommunistischen Internationale. Ihre fachliche Kompetenz erweitert Lotte Kühn noch, als sie zwei Jahre in der Druckerei für ausländische Literatur tätig wird – als Setzerin. In Moskau schlägt auch die familiäre Schicksalsstunde. Sie beschreibt es so:

    Mein Eheleben mit Walter Ulbricht begann 1935 in Moskau und kam aufgrund eines Zufalls zustande – auf der Eisbahn ... Anfang 1935 hielt sich Walter als Kandidat des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale ... in Moskau auf. Manchmal saßen Walter und ich im Speiseraum an einem Tisch. So auch am Samstag, dem 29. Januar 1935, gemeinsam mit einem Genossen ... Wir drei verabredeten uns zum Schlittschuhlaufen im Gorkipark am nächsten Vormittag. Als wir am Sonntag früh zusammentrafen, erklärte der Genosse, er habe keine Lust zum Schlittschuhlaufen ... Also zogen wir zu zweit los. Auf der Eisbahn verliebten wir uns ineinander. Noch heute kann ich mir dieses Wunder nicht erklären. Begonnen hat es wahrscheinlich damit, dass ich bei Walter ohne jede Hemmung war. Personenkult kannte ich in der KPD nicht. Ich spürte allmählich, dass er sich in mich verliebt hatte.

    Dann 1945 die Heimkehr nach Berlin, Arbeit im ZK der SED, ab 1954 an ZK-Instituten. Lotte Ulbricht engagiert sich insbesondere bei der Einbeziehung der Frauen und Mädchen in den sozialistischen Aufbau. Anlässlich einer Fernsehansprache zum Internationalen Frauentag 1966 würdigte sie die Errungenschaften ihrer Partei mit den Worten:

    Wir sind stolz darauf, dass getreu den Zielen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands die Frauen und Mädchen in unserem Arbeiter– und Bauernstaat alle ihre Talente und Fähigkeiten entfalten können. Es ist interessant, dass ausländische Besucher immer wieder mit Erstaunen feststellen, wie der Einfluss der Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik von Jahr zu Jahr wächst. Sogar westdeutsche Journalisten können diese Tatsache nicht leugnen.

    Zu erfahren ist auch einiges über einen Tabubruch, den Lotte Ulbricht wagte: Sie begleitete ihren Mann auf verschiedenen offiziellen Auslandsreisen, was in der sozialistischen Staatenwelt bis dahin keine Selbstverständlichkeit war. Walter Ulbrichts Entmachtung 1971 und sein Tod 1973 war eine doppelte Zäsur für Lotte Ulbricht. Zum einen verlor sie den Menschen, mit dem sie familiär wie weltanschaulich zutiefst verbunden gewesen war. Zum anderen gaben die Nachfolger zu verstehen, dass eine weitere politische Mitarbeit der Genossin Ulbricht nicht erwünscht sei. Es folgen Jahre der Kaltstellung, Gerüchte über ihre Ausreise in die Schweiz wurden lanciert, sie sollte vergessen werden. Eine Kampagne, die Erfolg hatte. Lotte Ulbricht schreibt u.a. dazu:

    Vor Zusammenarbeit mit mir (sei) gewarnt worden. Wer in Unkenntnis der Tatsache, dass ein entsprechender Beschluss der Parteiführung existierte, mit mir in Verbindung trat, wurde von seiner übergeordneten Kreisleitung sehr schmerzhaft zur Rechenschaft gezogen. Nach dem Tode Walter Ulbrichts haben mir zwei ZK-Mitglieder bestätigt, dass eine solche Weisung der Parteiführung an alle Parteileitungen gegangen war.

    Als Witwe des ungeliebten Parteiführers lebte Lotte Ulbricht zurückgezogen und für die Öffentlichkeit nicht mehr wahrnehmbar in ihrem Pankower Häuschen. Aufgeräumt wird allerdings mit der Legende, dass sie nach der Entmachtung und dem Tod ihres Mannes völlig isoliert und von früheren Mitstreitern im Stich gelassen wurde. Sie pflegte durchaus weiterhin Kontakte und regen Briefwechsel mit bekannten Persönlichkeiten, etwa mit Manfred von Brauchitsch, aber auch mit "einfachen" Menschen. Die Beiträge ehemaliger Gefährten, Freunde, Kollegen geben aus unterschiedlicher Sicht Einblicke in das Leben der Lotte Ulbricht. Private Aussagen entwerfen ein vielschichtiges Porträt: Lotte Ulbricht als Ehefrau, Tochter, Schwester, Mutter, Oma, Stiefmutter, Tante. Hervorgehoben seien auch die vielen Erinnerungen von Wegbegleitern, vor allem Wegbegleiterinnen, die Lotte Ulbricht durchweg als politisch hellwache und vielseitig interessierte Frau beschreiben. Lesenswert ist auch der Abschnitt "Begehrlichkeiten", der ein Schlaglicht auf die Verhältnisse im vereinigten Deutschland wirft. Doch inwieweit stimmt die Behauptung von Lotte Ulbricht, sie habe mit ihrem Mann Walter zu Hause selten über die "große Politik" gesprochen und als Gattin des Ersten Sekretärs der SED keinerlei Einfluss ausgeübt, erst recht nicht diesen "negativ beeinflusst", wie manche Zeitgenossen oder Historiker ihr unterstellen? Fest steht, dass Lotte und Walter Ulbricht Zeit ihres gemeinsamen Lebens keine weltanschaulichen Differenzen hatten; reflektierend bestätigt sie 1992 die grundsätzliche Übereinstimmung mit ihrem Mann, wenn sie an eine spät entdeckte Nichte in den USA. schreibt:

    Über mich kann ich Dir nicht viel schreiben, da reichen der Platz und die Kraft nicht. Ich habe mein ganzes Leben politisch gearbeitet und dabei ständig gelernt. Mein Mann und ich waren ein gutes Gespann und unser Zusammenleben sehr harmonisch. Natürlich hat in den letzten Jahren eine Unzahl von Journalisten sich mit mir unterhalten wollen. Ich habe von Anfang an jedes Interview, jedes Gespräch abgelehnt und bin gut damit gefahren ... In der Bevölkerung habe ich hier eine gute Aufnahme, so dass ich sehr ruhig lebe. Ich glaube, das erklärt sich daraus, dass ich mein ganzes Leben nicht vergessen habe, wo ich hergekommen bin und mich nie als 'first lady’ aufgeführt habe.

    Lotte Ulbricht – könnte sie sich noch äußern – hätte sicherlich auch Einwände gegen das vorliegende Kompendium aus persönlichen Aufzeichnungen, Korrespondenzen und Briefen sowie gegen die Sichtweisen ihres nächsten Umfeldes gehabt. Dazu war sie, und das wird in den Aufzeichnungen und Aussagen Dritter deutlich, eine zu starke Persönlichkeit. Rigoros gegen sich selbst wie auch gegen andere.

    Das Interesse an diesem Buch ist groß, wie seine Platzierung in den Bestsellerlisten zeigt. Doch leider drängt sich nach dem Lesen das Gefühl auf, dass vieles ungesagt bleibt, auch kann man sich dem Eindruck einer gewissen Beliebigkeit der ausgewählten Dokumente nicht entziehen. Sicher konnte der Herausgeber nur auf das ihm zur Verfügung stehende Material zurückgreifen, trotzdem wäre eine sachlich–kritische Kommentierung angebracht gewesen. Gerade für jüngere Leser wäre es notwendig, die Rolle Walter Ulbrichts und seiner Frau mehr in den historischen Kontext zu stellen. Da es sich nicht um eine Biografie handelt, sondern um eine subjektive Auswahl und Betrachtung des Herausgebers, wäre dies durchaus möglich gewesen.

    Lotte Ulbricht: "Mein Leben. Selbstzeugnisse, Briefe und Dokumente". Verlag Das Neue Berlin, 287 Seiten für 17 Euro und 50 Cent.