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Louis Couperus: "Die Dinge, die vorübergehen"
Ein starkes Requiem

Hierzulande ist der niederländische Schriftsteller Louis Couperus fast in Vergessenheit geraten. Auf der Ruhrtriennale hat ihn der Regisseur Ivo van Hove mit der Inszenierung seines Romans "Die Dinge, die vorübergehen" aus dem Schattendasein geholt. Herausgekommen ist ein Gesamtkunstwerk, das klare Ästhetik, hohe Schauspielkunst und ein menschliches Drama miteinander verbindet.

Von Karin Fischer | 17.09.2016
    Der belgische Regisseur Ivo van Hove be der Pressekonferenz in Avignon.
    Der belgische Regisseur Ivo van Hove. (Deutschlandradio / Eberhard Spreng)
    Das Vergehen der Zeit, die Vergänglichkeit ist das große Thema dieser Aufführung, akustisch angezeigt von mehreren Pendeluhren, die auf einem Tisch weit hinten in der Halle stehen. Hier hat auch der Musiker Harry de Wit Schüsseln und Schlagwerke aufgebaut, seine improvisierte Musik nimmt das Ticken und Schlagen der Uhren auf und zitiert von Ferne das Land, in dem dieses Drama seinen Ausgang nimmt: Niederländisch-Indien.
    Ein Mord an ihrem verhassten Ehemann vor 60 Jahren hat Großmama Ottilie, ihren Geliebten, Herrn Takma, und den Arzt Dr. Roelofsz untrennbar in gemeinsamer Schuld zusammengeschweißt. Was sie nicht ahnen: Sohn Harold, damals 13 Jahre alt, hat gesehen, wie die Leiche aus dem Haus geschafft und in den Fluss geworfen wurde. Und obwohl nie jemand darüber geredet hat, ist das Geheimnis sehr offenbar: als ganz realer Spuk, wie ein Geist sichtbar nur für die Mitwisser, und als Martyrium der Schuld, das zu Lebzeiten nie mehr enden wird.
    Louis Couperus Roman, der in Den Haag im Jahr 1906 spielt, ist aber kein Krimi, sondern eine elegische Erzählung über die Leidenschaft als nicht zu unterdrückender Trieb der Menschen, über gesellschaftliche Konventionen und vor allem über das Altern.
    Der belgische Regisseur Ivo van Hove zeigt deshalb Menschen, die einerseits wie versteinert wirken: Alle drei Generationen tragen hochgeschlossene schwarze Kleider oder Anzüge wie eine Trauergesellschaft. Andererseits – und das ist große Kunst und überragendes Merkmal dieser Aufführung – wirkt jedes Familienmitglied extrem individuell, sind die Charaktere genauestens herausgearbeitet: Die Ottilie der zweiten Generation, 60-jährig, ist immer noch die liebesbedürftige Kindfrau von früher, die drei Männer verschlissen hat und selbst in ihren Söhnen den Mann sehen will. Ihr Sohn Lot hat nichts davon, der grüblerische Journalist und Schriftsteller ist ganz weiche Wehmut, spricht immerzu von Einsamkeit, Alter und Verfall.
    Ein Meisterwerk des Illusionstheaters
    Der 73-jährige Harold, das Kind von damals, ist großartig in seiner verzweifelten Mitwisserschaft, wie überhaupt das Ensemble der Toneelgroep Amsterdam ein Meisterwerk des Illusionstheaters hervor bringt: Da stehen wirklich uralte Greise oder blutjunge Menschen vor uns, spielen Alter, Zartheit, Depression, Angst, Hingabe oder Schuld. Und das, obwohl die Szenerie alles andere als realistisch ist:
    Die Bühne in der lang gezogenen Maschinenhalle Gladbeck ist praktisch nur ein heller Boden, an dessen Ende der Uhrentisch steht und ein großer Spiegel den Raum verdoppelt. Rechts und links Stuhlreihen, auf denen die schwarzen Gestalten anfangs Platz nehmen. Hinter ihnen durchsichtige Stellwände, auf die große Fratzen gemalt sind wie Kinderzeichnungen, Geistergesichter zwischen Äffchen und Totenkopf. Harold wird eines dazu malen, das aussieht wie Edvard Munchs "Der Schrei".
    Im Mittelpunkt dieser länglichen Spielfläche sitzen die über 90-Jährigen fast reglos. Sie verkörpern das Verschlossene, das Geheimnis, das der Rest der Familie umkreist wie eine Leerstelle, die alle aber als Phantomschmerz spüren. Ivo van Hove komponiert eindrückliche Bilder, einmal regnen schwarze Papierfetzen vom Himmel, am Ende füllt sich der Raum mit Nebel, in dem Lot vor unseren Augen zusammen schrumpfend verschwindet, während Harry de Wits Bassklarinette nur noch still haucht.
    Hier finden klare Ästhetik, hohe Schauspielkunst und ein menschliches Drama zusammen, das viel Raum lässt für Reflexionen über die Liebe, das Alter und das Absterben der Gefühle, über Schuld und Sühne, über Verdrängen und Vorübergehen. Ein starkes Requiem und ein starker zweiter Auftritt in Deutschland für den großen hierzulande vergessenen niederländischen Schriftsteller Louis Couperus.